Die Stimmen von Frauen aus dem Globalen Süden in den Fokus rücken – Anfang der 1990er Jahre war „Empowerment“ noch kein Schlagwort wie heute, sondern ein neues, kraftvolles politisches Konzept. Die indische Feministin Gita Sen und eine Gruppe von feministischen Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen forderten einen Bottom-up-Ansatz, der auf kollektivem Handeln, Solidarität, Handlungsfähigkeit und dekolonialen Entwicklungsmodellen aufbaue.

Aber es war nur augenscheinlich ein Sieg für die Feministinnen des Globalen Südens, als 1995 bei der Vierten Weltfrauenkonferenz die Pekinger Erklärung und Aktionsplattform zur Stärkung von Frauen und Mädchen in aller Welt verabschiedet wurde. Die 189 Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich, die Gleichstellung der Geschlechter in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern, Frauenrechte zu schützen, Frauenarmut zu bekämpfen, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung zu verfolgen und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und im Bildungssystem abzubauen. Die Aktivistinnen konnten damals nicht ahnen, dass der Begriff Empowerment im Laufe der Zeit abgewandelt und verwässert würde. Dass seine ursprünglich politische Bedeutung, die auf kollektivem Handeln, Solidarität, Handlungsfähigkeit und dekolonialen Entwicklungsmodellen aufbaute, einer individualisierten, entpolitisierten und westlichen Konzeption weichen würde.

Der weiße Feminismus hatte großen Einfluss auf die entwicklungspolitische Agenda der internationalen Gebergemeinschaft. Das Ergebnis ist ein kontextblindes, entpolitisiertes Konzept von Empowerment.

In der MENA-Region (Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika) zeigte dieses veränderte Verständnis von Empowerment – forciert durch neoliberale Hilfs- und Entwicklungsprogrammen – gravierende Auswirkungen auf die Frauenrechtsagenda sowie auf das Fortschrittstempo auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit. Der weiße Feminismus hatte großen Einfluss auf die entwicklungspolitische Agenda der internationalen Gebergemeinschaft. Das Ergebnis ist ein kontextblindes, entpolitisiertes Konzept von Empowerment für Frauen und Mädchen, das kurzerhand ausblendet, wie stark das Leben von Women of Color im Globalen Süden durch Imperialismus, Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus geprägt wird. Dieses Konzept fand die Unterstützung von Staaten in der MENA-Region, denen ein Empowerment-Verständnis gelegen kam, das einerseits die aktuellen Machtverhältnisse nicht in Frage stellt und andererseits ihrem Wunsch nach einer politisch desinteressierten Bevölkerung, die sich von kapitalistischen Fantasien leiten lässt, entsprach.

So setzte sich in der MENA-Region ein „Empowerment light“ durch, untergliedert in zwei verschiedene, gleichermaßen handzahme Kategorien: Das „politische Empowerment“ beschränkte sich im Wesentlichen darauf, mehr Frauen an die Wahlurnen und in die Parlamente zu bringen. Dabei wurden viele Probleme, die Parlamentarierinnen oder Wählerinnen heute an einem sinnvollen politischen Engagement hindern, ignoriert. Das „wirtschaftliche Empowerment“ zielte vor allem auf eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen ab. Gegen die strukturellen Hindernisse, mit denen Frauen zu kämpfen haben, wenn sie sich auf den Arbeitsmarkt begeben oder sich dort behaupten wollen, wurde nicht ernsthaft vorgegangen. Frauen sollten mit Hilfe von Mikrokrediten ihr eigenes Unternehmen gründen können – wobei nicht der Markt oder der Staat, sondern die Frauen die Risiken schultern. Geschlechterparität sollte in einer (kapitalistischen) Arbeitswelt erreicht werden, in der auch viele Männer unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu leiden haben.

Den Staaten in der MENA-Region passte ein Empowerment-Verständnis gut ins Konzept, das einerseits die aktuellen Machtverhältnisse nicht in Frage stellt und andererseits ihrem Wunsch nach einer politisch desinteressierten Bevölkerung, die sich von kapitalistischen Fantasien leiten lässt, entsprach.

Selbst diese unzulänglichen Empowerment-Ziele sind nach den diversen Programmen und Initiativen der vergangenen Jahrzehnte sind bei Weitem nicht erreicht worden. Im Global Gender Gap Report von 2021 verzeichnet die MENA-Region im Empowerment-Index immer noch ein deutliches Geschlechtergefälle: mit Blick auf die Politik liegt es bei 87,4 Prozent und für die Wirtschaft bei 60 Prozent.

Angesichts der politischen und sozioökonomischen Instabilität der letzten zehn Jahre rücken Frauen in der gesamten Region die Umverteilung der Macht wieder in den Mittelpunkt der Empowerment-Debatte. Sie fordern ein feministisches Verständnis des Begriffs ein und kämpfen entschieden und vereint gegen die Systeme, die ihre Mitwirkung am öffentlichen Leben auf die Rolle von Unterstützerinnen kapitalistischer und autoritärer Projekte reduzieren. Genau diese Systeme haben zugelassen, dass Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung und die öffentlichen Daseinsvorsorge – alles wesentliche Faktoren für eine echte Stärkung von Frauen und Mädchen – sich qualitativ verschlechtert haben.

Es sind Frauen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, die in vielen Ländern der Region an vorderster Front stehen, wenn für Geschlechtergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit demonstriert wird. Sudanesische Frauen haben sich erst kürzlich vehement gegen Militarisierung und sexuelle Gewalt zur Wehr gesetzt und die politischen Errungenschaften verteidigt, die sie gemeinsam mit ihren männlichen Mitbürgern hart erkämpft haben. Ein kleineres, aber nicht minder beeindruckendes Beispiel lieferten libanesische Schülerinnen in Tripoli: Sie trotzten dem patriarchalischen System, das sie mundtot machen wollte, als sie versuchten, einen Lehrer wegen sexueller Belästigung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Schülerinnen und Schüler protestierten und kündigten an, Anzeige zu erstatten.

Das auf Weiße ausgerichtete, entpolitisierte und kapitalistische Bild der selbstbestimmten Frau – westlich orientiert, gut bezahlt, modebewusst und unabhängig – wird nicht mehr als einzige Vorstellung der nicht unterdrückten Frau akzeptiert.

In Wirtschaft und Politik lässt sich mit Alibiaktionen nicht länger die Illusion aufrechterhalten, die Stärkung von Frauen sei politisch tatsächlich gewollt. Als zum Beispiel im September 2021 in Tunesien die erste weibliche Ministerpräsidentin der Region ernannt wurde, kam bei feministischen Aktivistinnen und anderen Gruppen keine rechte Feierstimmung auf. Sie kritisierten den tunesischen Präsidenten und warfen ihm vor, die „Frauenkarte“ auszuspielen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen und in einer politisch problematischen Situation positive Publicity und Unterstützung aus dem Westen zu sichern.

Das auf Weiße ausgerichtete, entpolitisierte und kapitalistische Bild der selbstbestimmten Frau – westlich orientiert, gut bezahlt, modebewusst und unabhängig – wird nicht mehr als einzige Vorstellung der nicht unterdrückten Frau akzeptiert. Die Frauen in der MENA-Region betonen ihre Einzigartigkeit, ihre Unterschiede, ihre kulturelle Zugehörigkeit, ihren Gemeinschaftssinn und ihr leidenschaftliches Engagement. Feministische Aktivistinnen widersetzen sich vor allem dem weißen Feminismus, der die globale feministische Szene dominiert. Sie verändern die bisherigen Finanzierungssysteme, die ihre Arbeitsmöglichkeiten einschränken, und demonstrieren, dass Feministinnen aus der Region gleichberechtigte Partnerinnen im weltweiten Streben nach Geschlechtergerechtigkeit sind. Ein markantes Beispiel dafür ist die feministische Autorin und Aktivistin Mona Eltahawy, die sich erbittert dagegen wehrte, dass die ägyptische Frauenrechtspionierin Nawal El Saadawi nach ihrem Tod von westlichen Medien als „Simone de Beauvoir der arabischen Welt“ bezeichnet wurde.

Macht über unsere Zukunft, unser Leben und unseren Körper: Das ist die Form von Empowerment, die die Frauen in der MENA-Region erreichen wollen. Sie fordern die entschiedene Unterstützung, die es für ein echtes Empowerment aller Frauen und Mädchen braucht. Aber sie entwickeln auch ihre eigenen Formen des Widerstands und der Selbstermächtigung – mit oder ohne diese Unterstützung.

Aus dem Englischen von Christine Hardung