Gerade in Zeiten multipler Krisen – dem Wiederausbruch von Krieg in Europa, der Covid-Pandemie, der Klimakrise, der digitalen Disruption – fragen sich viele: Ist die Demokratie zukunftsfähig? Werden wir noch mit den Krisen des 21. Jahrhunderts fertig?

Richard von Weizsäcker sagte einmal: „Demokratie ist auf einem Strukturproblem aufgebaut, nämlich der Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft.“ Wir können und möchten nicht anders regiert werden als durch auf Zeit gewählte Vertreterinnen und Vertreter. Dieser Mechanismus führt aber dazu, dass Demokratie auf die aktuellen Wählerinnen und Wähler und deren Gegenwartsinteressen ausgerichtet und damit strukturell kurzsichtig ist.

Gerade in Deutschland sind diese Wählerinnen und Wähler zudem sehr alt. Ein Drittel aller Wahlberechtigten ist über 60 Jahre alt. Die Hälfte der SPD- und CDU-Mitglieder ist über 60 Jahre alt. Die Jugend kommt da kaum noch vor. Hinzu kommt, dass 13 Millionen Deutsche vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, weil sie unter 18 Jahre alt sind. Die Jugendlichen, die in den letzten Jahren für Klimaschutz oder gegen Uploadfilter auf die Straßen gegangen sind, haben kein Wahlrecht. Und künftige Generationen zählen überhaupt nicht, weil sie noch nicht geboren sind. Es zählen nur die Interessen der Gegenwart.

Demokratie ist auf die aktuellen Wählerinnen und Wähler und deren Gegenwarts-interessen ausgerichtet und damit strukturell kurzsichtig.

Politikerinnen und Politiker können über die Wahl hinausdenken. Aber sie riskieren, dafür abgestraft zu werden. Weil wir Menschen den heutigen Verlust für schwerer empfinden als mögliche Gewinne, die erst in der Zukunft liegen. „Reformen, die erst in weiterer Zukunft ihre Früchte tragen, sind für Politiker, die wiedergewählt werden wollen, auf dem Wählermarkt irrational“, erklärt der Berliner Demokratieforscher Wolfgang Merkel. Zugleich lähmt das mühsame Ringen um Konsens die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Gerichtliche Klagen verhindern die schnelle und konsequente Umsetzung von Maßnahmen.

Es ist schwer vorstellbar, dass in einem solch trägen und gegenwartsfixierten System radikale Maßnahmen in der nötigen Geschwindigkeit umgesetzt werden können – sei es bei einer weitsichtigen Außen- und Sicherheitspolitik, im Kampf gegen die Klimakrise, bei der Eindämmung von Pandemien oder beim Wettrennen um Künstliche Intelligenz und digitale Plattformen.

China und andere autoritäre Regimes präsentieren sich selbst gern als die besseren Regierungssysteme: Sie können tiefgreifende Maßnahmen zentral und von oben verordnen. In der Tat stärkt China mit dem massiven Ausbau erneuerbarer Energien und einem ambitionierten Klimaziel sein Profil im Klimaschutz. Kein anderes Land investiert so viel in regenerative Energie wie China. 2019 deckte das Land bereits 26 Prozent der gesamten Stromnachfrage mit Erneuerbaren. 2020 baute China doppelt so viele Anlagen für Wind- und Solarenergie wie im Vorjahr. Die Covid-Krise bekam China dank drakonischer Eingriffe schnell unter Kontrolle – zumindest schien es so. Und auch im Wettlauf um digitale Vorherrschaft hat China uns weit überholt.

Demokratie mag langsamer sein, aber auch sie ermöglicht wirksame Krisenbewältigung.

In der Tat ist die chinesische Erfolgsbilanz erstaunlich. Das heißt jedoch nicht, dass autoritäre Staaten an sich bessere oder nachhaltigere Politik betreiben würden. In Sachen Klimaschutz ist sogar das Gegenteil empirisch belegt: Der jährliche Klimaschutz-Index von Germanwatch dokumentiert, dass autoritäre Regierungen die größten Klimaverschmutzer sind. Und auch demokratische Staaten, die seit einigen Jahren autoritäre Tendenzen zeigen – wie die USA unter Trump, aber auch Polen oder Brasilien –, fielen zugleich im Klimaschutz zurück.

Autokratische Regierungen bauen ihre Legitimation vor allem auf einem wirtschaftlichen Wohlstandsversprechen auf. Wenn dieses zerbricht, verschwindet auch der Klimaschutz schnell wieder von der Tagesordnung. Demokratie mag langsamer sein, aber auch sie ermöglicht wirksame Krisenbewältigung. Bei der Europawahl 2019 war Klimaschutz das zweitwichtigste Motiv für die Wahlentscheidung. Und Klimaschutz geht auch in Europa und den USA voran – dort vor allem dank dezentraler Akteure, die auch unter der Trump-Präsidentschaft den Kohleausstieg vor Ort vorangetrieben haben.

Die Einrichtung eines Jüngstenrats würde den Weitblick im Parlament stärken.

Um einen effektiven Klimaschutz zu gestalten und umzusetzen, müssen wir unsere Demokratie weiterentwickeln. Demokratie kann sich selbst neue Regeln setzen, um weitsichtiger zu werden.

Erstens sollte ein Wahlrecht für Jugendliche festgelegt werden. Ein erster Schritt wäre die Senkung des Wahlalters auf 14 Jahre. In allen demokratischen Parteien in Deutschland kann man bereits ab 14 Mitglied werden. In diesem Alter ist man auch religionsmündig. Diese Altersgrenze liegt also nahe. Darüber hinaus sollte aber jede und jeder auch schon vor diesem Alter wählen dürfen, wenn sie oder er das möchte. Es gibt keinen Grund, junge Menschen von der Wahl auszuschließen. Sie sollten genauso mitbestimmen dürfen wie die Alten und wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger auch.

Zweitens brauchen wir eine Jugendquote, und zwar nicht nur in Parteien, sondern überall da, wo die Zukunft der jungen Menschen verhandelt wird. Bei den Bildungsreformen haben Lehrerschaft und Eltern mitgesprochen, aber nicht die Schülerinnen und Schüler – also die, um die es eigentlich geht. In der Renten-Kommission der Regierung, in den Rundfunk- und Verwaltungsräten der öffentlichen Medien, ja sogar im Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung gibt es zu 90 Prozent, manchmal sogar zu 100 Prozent, nur alte und sehr alte Menschen. Das darf nicht so bleiben.

Demokratie ist lernfähig und kann sich selbst Regeln geben, um ihre Willensbildungs-prozesse strukturell weitsichtiger zu gestalten.

Drittens sollte über die Einrichtung eines klimapolitischen Jüngstenrats diskutiert werden. Es gibt eine schier endlose Zahl an Gremien für Umweltfragen. Oft handelt es sich hierbei jedoch um Papiertiger ohne Kompetenzen und ohne Budget. Die Einberufung einer ständigen Enquete-Kommission im Bundestag wäre zielführender. Sie könnte jeweils zur Hälfte mit Abgeordneten und mit jungen Menschen besetzt sein, die der Bundespräsident ernennt. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung könnte dahingehend reformiert und aufgewertet werden. Zudem sollte ein Jüngstenrat eingerichtet werden – als Gegengewicht zum Ältestenrat im Bundestag. Dieser sollte unter anderem das Gesetzesinitiativrecht erhalten und aktuelle Stunden im Bundestag beantragen können, um vernachlässigte Zukunftsthemen ins Parlament zu tragen. Dies würde – insbesondere in Klimafragen – den Weitblick im Parlament stärken.

Demokratie ist lernfähig und kann sich selbst Regeln geben, um ihre Willensbildungsprozesse strukturell weitsichtiger zu gestalten. Am Ende kommt es aber immer wieder auf uns Bürgerinnen und Bürger an – das Wahlvolk, den Souverän –, wie viel Nachhaltigkeit wir unserer Gesellschaft zugestehen wollen. Demokratie kann Nachhaltigkeit – wenn wir wollen.