In den sozialen Medien kursiert derzeit ein Bild von George Orwell: Er liest ein Buch mit dem Titel 2024 und sieht schockiert aus. Ist die derzeitige Situation tatsächlich so erschreckend? Kann Orwells 1949 veröffentlichter Roman 1984 tatsächlich als eine Art Leitfaden für heute dienen?
Man könnte dem entgegenhalten, dass die Idee der europäischen Integration trotz des Brexits und des Aufstiegs von Politikern wie Giorgia Meloni, Viktor Orbán und Robert Fico in Italien, Ungarn und der Slowakei nicht gestorben ist. Man könnte hinzufügen, dass die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament einmal mehr eine klare Mehrheit für Parteien der linken und rechten Mitte brachten. Manche würden sogar behaupten, dass populistische Politikerinnen und Politiker die Hoffnungen und Ängste der „einfachen Leute“ nicht besser verstehen und kanalisieren als „Liberale“.
Man kann jedoch nicht leugnen – und hier kommt Orwell ins Spiel – dass sich die Narrative und die politische Praxis in ganz Europa dramatisch verschoben haben. Dabei ist egal, wer in den jeweiligen Hauptstädten an der Macht ist: Insgesamt sind liberale Normen und Verhaltensweisen im Niedergang begriffen – illiberale und nativistisch-nationalistische Alternativen haben Hochkonjunktur.
Nach dem Fall der Berliner Mauer betonten Parteien, die in Europa Wahlen gewinnen wollten, klassische liberale Werte: Freiheit, Toleranz, Fairness, Integration, Zurückhaltung und Fähigkeit zur Selbstkritik. Nicht nur die Demokratie, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte wurden hochgehalten. Offene Grenzen für Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen wurden eher als Chance denn als Bedrohung gesehen.
Historische und wissenschaftliche Fakten wurden kaum angezweifelt und die Mainstream-Medien weigerten sich, überzogene und hanebüchene Ansichten zu verbreiten, selbst auf Kosten von Profit und Unterhaltungswert. Kulturelle Toleranz und religiöse Neutralität wurden als selbstverständlich angesehen. Nichtregierungsorganisationen, die sich für soziale, humanitäre oder ökologische Belange einsetzten, galten als Verbündete für den Erhalt der liberalen Ordnung. Multilateralismus – beruhend auf Gleichheit, Einbeziehung, Vertrauen und auf der Zusammenarbeit aller beteiligten Staaten – wurde als Mittel zur Sicherung von Frieden und Wohlstand verstanden.
Die europäische Integration war dabei das Kronjuwel des liberalen Projekts. Die Europäische Union, diese Verkörperung der Integration, galt als wirksames Instrument zur Bewältigung der Probleme der Globalisierung, als mutiges Experiment transnationaler Demokratie, als kluger Weg zur Stabilisierung der Nachbarn und als Mittel zur Stärkung der globalen Position Europas.
„Law and Order“ um jeden Preis ist nun die Priorität – nicht mehr die Rechtsstaatlichkeit.
Vielleicht haben wir das von Francis Fukuyama kurz vor dem Fall der Mauer ausgerufene „Ende der Geschichte“ nie wirklich erlebt, doch ein „liberaler Konsens“ einte die regierenden Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien in ganz Europa. Heute werden diese liberalen Werte angefochten oder sogar abgelehnt – und zwar nicht nur von Kräften an den politischen Rändern, sondern vermehrt auch von den alten Volksparteien und ihrer Wählerschaft.
Im neuen Narrativ geht es hauptsächlich um das „nationale Interesse“, gesicherte Grenzen, den Schutz „unserer“ Unternehmen und „unserer“ religiösen Wurzeln. Globalisierung, Multikulturalismus, Multilateralismus und die europäische Integration stehen unter Beschuss. Menschenrechte sowie die Rechte von Minderheiten scheinen aus der Mode gekommen. Ökologische, gewerkschaftliche und feministische Positionen werden heute als radikale, wenn nicht gar militante Tendenzen angesehen, die vom Mainstream ignoriert oder sogar eingedämmt werden sollten.
„Law and Order“ um jeden Preis ist nun die Priorität – nicht mehr die Rechtsstaatlichkeit. Diskussionen konzentrieren sich darauf, wie man sich auf den nächsten Krieg und nicht auf einen anhaltenden Frieden vorbereitet. Politiker konkurrieren um den Preis für den lautesten Schaumschläger und nicht um den für den besten Verhandlungsführer. Zu vermeintlichen Staatsfeinden gehören inzwischen Richter und zivilgesellschaftliche Aktivisten, die einst von Demokraten hochgelobt wurden. Derweil gewinnen Männer in Uniformen und manchmal auch in Priestergewändern wieder an Bedeutung.
Dem neuen Narrativ werden Taten folgen, oder sie tun es bereits: Die harte Hand des Staates wird immer häufiger eingesetzt – nicht nur gegen Menschen auf der Flucht, sondern auch gegen NGOs, die versuchen, ihnen zu helfen. LGBT+-Communitys und Umweltschützer werden von Sicherheitsbehörden überwacht und auf diverse Weise schikaniert. Öffentliche Rundfunkanstalten, die versuchen, ihre Unabhängigkeit zu wahren, werden geschlossen oder ins mediale Abseits gedrängt.
Ich rede hier nicht von China oder Russland, sondern von EU-Mitgliedstaaten. Einige dieser Staaten werden sogar von namentlich liberalen Parteien geführt. In Polen wird unter der Regierung des früheren EU-Ratspräsidenten und selbsternannten „Liberalen“ Donald Tusk ein neues Gesetz diskutiert, das Soldaten faktisch eine „Lizenz zum Töten“ von Personen geben könnte, die versuchen, die Grenze zwischen Polen und Belarus zu überqueren. Angesichts solcher Entwicklungen ist es kaum ein Trost, dass die vorherige polnische Regierung noch schlimmer war.
Die harte Hand des Staates wird immer häufiger eingesetzt.
Nun lässt sich einwenden, das hier gezeichnete Bild sei vielleicht sehr schwarz-weiß. Schließlich haben schon die Liberalen in den linken und rechten Mitte-Parteien, die das Europa nach 1989 regierten, hin und wieder das eine gepredigt und das andere getan. So wurde der Irak im Namen der „Freiheit“ überfallen, und die eifrige Verfolgung einer vermeintlich liberalen Wirtschaft hat (vor allem in Mittel- und Osteuropa) vielen einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern das Leben deutlich schwerer gemacht.
Ebenso fordern heute nicht mehr alle illiberalen Politiker, man solle am besten sofort auf potenzielle Asylsuchende schießen. Giorgia Meloni ist dafür ein gutes Beispiel, trotz der neofaschistischen Wurzeln ihrer Partei. Man könnte auch argumentieren, dass es in der europäischen Wählerschaft schon immer einen gewissen verdeckten Rassismus gegeben habe und dass der Hauptunterschied darin bestehe, dass sich die Xenophobie heute einfacher über die sogenannten „sozialen Medien“ im Internet verbreiten lasse. Den wieder aufkeimenden Nationalismus und die wachsende religiöse Intoleranz könnte man gar auf eine „kulturelle Orientierungslosigkeit“ der Liberalen zurückführen.
Außerdem können wir das Wiedererstarken eines imperialistischen Russlands nicht ignorieren: Die Angst vor Krieg lässt die Menschen enger zusammenrücken und die Sicherheit zur absoluten Priorität werden. Der hybride Krieg, den Russland führt, erklärt wahrscheinlich, dass inzwischen 67 Prozent der Polen illegale Pushbacks an der Grenze befürworten.
„Offene Grenzen“ haben in unterschiedlicher Weise ihren Preis: Werden nicht durch Importe aus Staaten, die Arbeits- und Sicherheitsstandards missachten, unsere eigenen Hersteller „gekillt“? Werden über die für Unternehmen günstigeren Arbeitsmigranten nicht die Rechte der einheimischen Arbeiterinnen und Arbeiter ausgehöhlt? All dies sind legitime Argumente und Erklärungen für die neue Rhetorik und Politik. Der Wandel an sich lässt sich aber nicht leugnen: Die Wahrnehmung dessen, was gut und schlecht, wahr oder falsch, normal und abnormal ist, hat sich verändert. Was vor einigen Jahren noch ungeheuerlich und inakzeptabel war, ist heute die „neue Normalität“. Das bringt uns zurück zu Orwell und seiner Dystopie.
Die Angst vor Krieg lässt die Menschen enger zusammenrücken und die Sicherheit zur absoluten Priorität werden.
In Orwells 1984 geht es nicht nur um Machtmissbrauch und die Effekte von Folter. Es geht auch (wenn nicht sogar hauptsächlich) um eine mentale „Reise“ von einem kohärenten Wertesystem hin zu einem gänzlich anderen System. Die ebenso anonyme wie repressive Instanz Big Brother will nicht nur, dass die Menschen sich so verhalten, wie es ihnen gesagt wird. Vielmehr sollen sie wirklich denken und glauben, dass Krieg gleich Frieden, Freiheit gleich Sklaverei und Unwissenheit gleich Stärke sei.
Früher war man sich größtenteils einig, dass alle Menschen einen gewissen Grundkatalog an Menschenrechten genießen sollten. Heute wird hingegen behauptet, wenn solche Rechte auch allen „dahergekommenen Migranten“ zugestanden würden, gefährde man den eigenen Wohlstand, die eigene Sicherheit, die eigene Kultur. Wir waren überzeugt, dass die Menschen frei sein sollten, ihre ethnischen, sexuellen oder religiösen Traditionen und Gewohnheiten auszuüben. Heute wird nicht selten ein klassisches Familienmodell propagiert, der Multikulturalismus für tot erklärt und der Islam als Bedrohung angesehen.
Früher dachten wir, dass Arbeiterrechte, der grüne Wandel und die nachhaltige Entwicklung Zeichen von Vernunft und Modernität seien. Heute werden diese Ziele als ideologische Parolen dargestellt, die geradezu an Wahnsinn grenzen. Einst waren wir der Ansicht, dass wir in einer voneinander abhängigen Welt nur dann etwas erreichen könnten, wenn wir kooperieren oder uns sogar integrieren. Heute werden die Vereinten Nationen weitgehend ignoriert und viele EU-Mitgliedstaaten wollen die Macht „von Brüssel zurückerobern“. Man dachte, dass Abrüstung, Diplomatie und Handel den Frieden sichern könnten. Heute sind ein erneutes Wettrüsten, Wirtschaftssanktionen und Drohungen an der Tagesordnung – ebenfalls alles im Namen des „Friedens“.
Natürlich halten Menschen nicht ausschließlich oder eindeutig an dem einen (früheren) oder anderen (aktuelleren) dieser polaren Gegensätze fest. Auch dafür hat Orwell ein neues Wort geschaffen: „Doppeldenk“. Dies ist die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig im Kopf zu haben und sie beide zu akzeptieren. Heute lässt sich ein solches „Doppeldenk“ bei Liberalen finden, die unter dem Druck von externen Ereignissen oder aus Gründen der Machtausübung und -erhaltung illiberalen Versuchungen nachgeben. Nun könnte man behaupten, ein inkonsequenter liberaler Politiker sei immer noch besser als ein überzeugter illiberaler Politiker. Ich habe aber die Befürchtung, dass Illiberale langfristig eine Strategie verfolgen, die Orwell so beschrieben hat: „Macht heißt, einen menschlichen Geist in Stücke zu reißen und ihn nach eigenem Gutdünken wieder in neuer Form zusammenzusetzen.“ Das ist die neue Normalität in der europäischen Politik.
Aus dem Englischen von Tim Steins.