Als in Aristophanes' Komödie „Die Vögel“ zwei vom athenischen Stadtstaat frustrierte Bürger auf die Idee kamen, zusammen mit den Vögeln zwischen Himmel und Erde den neuen Staat Wolkenkuckucksheim zu bauen, ging das gründlich schief. Denn mit vogelfrei war schnell vorbei, und die Utopie eines freiheitlichen Gemeinwesens rutschte rasch in die Tyrannei ab. Während die Menschen bei sich selbst förmlich die Flügel wachsen sahen, wurden die der Vögel gestutzt und sie landeten auf dem Grill. Frei übersetzt.

Fast 2 500 Jahre nach der Uraufführung des Stücks gibt es nun schon wieder ein Experiment, das die Menschen mit dem Reich der Vögel verbinden soll. Während landauf, landab die Krise der Demokratie beklagt wird, hat der Naturschutzbund Deutschland (NABU) ein mutiges Gegenprogramm gestartet. Seit fünfzig Jahren kürt die Organisation jedes Jahr den „Vogel des Jahres“, um auf bedrohte Arten und ihre gefährdeten Lebensräume aufmerksam zu machen. Zum Jubiläum wird die Titelverleihung erstmals den Experten entzogen und stattdessen der Gewinner durch eine demokratische Abstimmung ermittelt. Am 19. März geht die Wahl nun zu Ende, und neben der Spannung, wer eigentlich den Schnabel vorne hat, bleibt die Frage, ob der demokratische Versuch dieses Mal einen glücklicheren Ausgang nimmt.

Bereits zu Beginn kamen bange Zweifel auf, ob es sich hier nicht lediglich um schnöden Neo-Populismus handelt: Ist die Bevölkerung reif für so viel direkte Demokratie? Ist sie in der Lage, die „richtige“ Wahl zu treffen, d.h. eine, die Gnade vor den Fachleuten findet? Dürfen Menschen überhaupt wählen, die ein Sommer- nicht von einem Wintergoldhähnchen unterscheiden können? Und drohen bei dieser demokratischen Wahl, wie manch renommierter Vogelkundler fürchtet, gar „sinnlose Ergebnisse“? Nun ja, auch aus dem Vogelkosmos lässt sich berichten: Es ist kompliziert, Demokratie ist anstrengend, der Souverän macht leider was er will, aber am Ende ist doch das Wichtigste, dass wir ins Gespräch gekommen sind.

Auch wurden nach dem überraschenden Erfolg der Stadttaube bei den Vorwahlen gezielt Zweifel daran gesät, ob die polarisierende Vogelfigur überhaupt zu den heimischen Arten zu zählen sei.

Der Radau fängt schon an bei der Frage, wer sich eigentlich um den begehrten Titel bewirbt. „Hier stehen alle in Deutschland brütenden sowie die wichtigsten Gastvogelarten des Landes zur Auswahl“, heißt es in den Wahlunterlagen. Das klingt doch inklusiv, und tatsächlich konnte über die Diversität des Bewerberfelds mit 307 Arten keiner meckern. Zumindest eines haben alle gemeinsam: Sie können fliegen. Bei manch einem schwillt aber angesichts des bunten Vogelschwarms dann doch der Kamm. So waren vereinzelt Stimmen zu vernehmen, dass der Halsbandsittich, ein entflohener Käfigvogel, der zudem viel Lärm macht, wohl nicht in eine Reihe mit Amsel, Drossel, Fink und Star gehöre und sich am besten sowieso aus der heimischen Pappel verziehen solle, nach Asien oder Afrika, eben dorthin, wo er herkommt. Auch wurden nach dem überraschenden Erfolg der Stadttaube bei den Vorwahlen, von dem noch zu sprechen sein wird, gezielt Zweifel daran gesät, ob die polarisierende Vogelfigur überhaupt zu den heimischen Arten zu zählen sei. Die Birther-Kampagne gegen Obama lässt grüßen! Dass sie ausdauernd brütet, dürfte freilich außer Frage stehen.

Womit wir beim Wahlkampf wären. Wer nun denkt, dass es dabei so kuschlig zugeht wie im Daunennest der Eiderente, der unterschätzt die Bedeutung der Wahl zum Vogel des Jahres. Wo ein Wettbewerb ist, da ist auch ein Siegeswille. Corona-bedingt musste ein moderner Internetwahlkampf geführt werden. Flugs waren rund 280 Wahlkampfteams aufgestellt, die für ihre Vögel Stimmung machten – darunter die „Amselflüsterer“, „Ente for Presidente“, „Werbetrommel für die Rohrdommel“, „EisEisBaby“, die „Goldregenpfeifer-Ultras“, „Stockentifa“ sowie die „Ruhrpottflamingos“ und zahlreiche weitere Stadttauben-Super-PACS.

Ja, es gab die Wahlkampfmanagerinnen, die, zielgruppenorientiert und in Einzelfällen nicht unerfolgreich, bei ihren Nischenlieblingen tapfer auf schrumpfende Habitate, rote Listen und ökologische Relevanz verwiesen. Andere verfolgten eher die Strategie der politischen Ämterlogik: Man sei nach 50 Jahren einfach mal dran. Die Kommunikation orientierte sich weitgehend an der Trias der politischen Botschaften: Leistungsnachweis („Ohne mich gäbe es keine Zirbelkiefern mehr – der Tannenhäher“), Zukunftsversprechen („Mehr von uns bedeutet ungetrübteres Eis essen im Sommer – der Wespenbussard“) und Personality („Ich bin der schwerste flugfähige Vogel der Welt – wow – die Großtrappe“).

Das Merkelsche „Sie kennen mich“, das gerade auch von den Süd-West-Grünen erfolgreich recycelt wurde, gab auch beim Vogelvoting den Ausschlag.

Als die Flügelkämpfe heftiger wurden, wurde auch der Wahlkampf schmutziger. Neben den unvermeidlichen Namenswitzen (Basstölpel, Trottellumme, haha) nahmen Negativ-Campaining und Fake News zu. So wurde dem Goldregenpfeifer, von seinen Fans zärtlich „Goldie“ genannt, aufgrund seines Brokats Oberflächlichkeit und Arroganz vorgeworfen; oder die Nebelkrähe als active-aggressive geschmäht. Mit dem Bird-O-Mat sollte bei der Hauptwahl der Propaganda mit Fakten entgegengesteuert werden, und die verunsicherten Wählerinnen und Wähler konnten sich unter anderem nach Gesangstalenten, Speiseplan und Lebensraum ein vorurteilsfreieres Bild über die Kandidaten machen.

Ein Blick auf die Shortlist der zehn bestplatzierten Vögel, die sich für das Finale qualifiziert hatten, mag zunächst enttäuschen: Dort stehen Vögel, um die man sich keine Sorgen machen muss, neben solchen, mit denen man nichts falsch machen kann und bewährten Kampagnenvögeln (Feldlerche und Kiebitz). Aber das muss auch gar nicht so schlecht sein. Manch Favorit ging arg gerupft aus dem Wettbewerb hervor. Vogelikonen wie Storch und Kranich und Wappentiere wie der Adler sind auf den vordersten Plätzen nicht zu finden. Das brachiale „Ich will hier rein“, stand nicht besonders hoch im Kurs.

Und auch kein Seevogel landete auf den höchsten Klippen. Sie sind zu weit entfernt, zu abgehoben und zu wenig sichtbar. Vertrautheit und Nähe waren entscheidend bei dieser Wahl. Und da ist es dann auch egal, ob es sich um den eigenen Garten (Amsel, Rotkehlchen, Blaumeise, Haussperling), den Mitbewohner in der Toreinfahrt (Rauchschwalbe) oder die Bierwerbung (Eisvogel) handelt. Deutschland – ein Volk von Eigenheim- und Futterhäuschenbesitzerinnen, das über die eigene Ligusterhecke nicht hinausschaut? Das wäre zu billig. Das Merkelsche „Sie kennen mich“, das gerade auch von den Süd-West-Grünen erfolgreich recycelt wurde, gab auch beim Vogelvoting den Ausschlag.

Wie kann es sein, dass der „underbird“ schlechthin eine so illustre Schar an Vögeln anführt? Aus Solidarität oder Mitleid? Zynischem Wahlverhalten? Protest?

Natürlich gab es auch Überraschungen. Der bis vor kurzem gänzlich unbekannte Goldregenpfeifer („I want Moor“) hat seine Wahl unter die zehn Besten vor allem der Prominenz und Reichweite seiner Unterstützer (Buchpreisträger und Klimaaktivistin) zu verdanken. Aber nicht immer kann man sich diese aussuchen. In der Hauptrunde sind auch Höcke und Co. auf den Zug aufgesprungen. Da ist man schon fast ausgestorben und dann auch noch das.

Am meisten Kopfzerbrechen bereitete ausgerechnet die Siegerin der Vorrunde, die Stadttaube, die wie keine andere Kandidatin die Wählerinnenschaft polarisierte. Wie kann es sein, dass der „underbird“ schlechthin eine so illustre Schar an Vögeln anführt? Aus Solidarität oder Mitleid? Zynischem Wahlverhalten? Protest? Da war, wie bei jeder Wahl, der Zeitpunkt gekommen, an dem die grundsätzliche Frage gestellt werden muss: Worum geht es hier eigentlich? Um Tier- oder um Artenschutz? Genau lässt sich das nicht beantworten.

Die vergleichende Wahlforschung macht aber deutlich: Deutschland steht damit nicht alleine da. In Australien hat der weiße Ibis (Kosename „Müllhuhn“), der durch die städtischen Deponien watet, 2017 schon den zweiten Platz belegt. Es deutet (Achtung: Klassismusdebatte) einiges darauf hin, dass das tagtäglich durch die diskriminierenden Zuschreibungen und die offene Verachtung der Lebensweise der Stadttaube („nervtötendes Gurren“, „Lumpenproletariat“, „Seuchenvogel“) ausgerufene „Ihr gehört nicht dazu!“, mit einem trotzigen „Doch!“ beantwortet wurde. Und ohne Zweifel gehört zu den zärtlichsten Momenten des Widerstands, wenn sich rüstige Rentnerinnen in den zugigen Ecken der planierten städtischen Konsumzonen trotz allem mit Graubrot solidarisch mit den Geächteten zeigen.

Das Rotkehlchen stünde dagegen als extrem bekanntes, perfektes knopfäugiges Fotomodell, das bei Revier- und Verteilungskämpfen jedoch keine Gnade kennt, vogelpolitisch für die sehr individualistischen 1990er Jahre und damit für eine andere Zeit.

Mit dem Ausgang der Wahl hat die Stadttaube wahrscheinlich jedoch nichts mehr zu tun. Hier führen, so hört man, Rotkehlchen und Rauchschwalbe und liegen nur einen Flügelschlag auseinander. Sicher, die Rauchschwalbe wäre eine würdige Trägerin der Federkrone, eine elegante Fliegerin, unser nächster Nachbar, aber auch weitgereist. Sie würde als Zugvogel auf die Gefahren hinweisen, die Milliarden von Vögeln jedes Jahr drohen. Und ein paar von ihnen machen zumindest schon mal einen Sommer. Und das ist ja auch schon was in diesen Zeiten. Das Rotkehlchen stünde dagegen als extrem bekanntes, perfektes knopfäugiges Fotomodell, das bei Revier- und Verteilungskämpfen jedoch keine Gnade kennt, vogelpolitisch für die sehr individualistischen 1990er Jahre und damit für eine andere Zeit.

Für eine Wahlempfehlung ist es jetzt zu spät. Aber egal wie die Wahl ausgeht, vergesst den Spatz nicht. Sicher, es gibt schönere Federkleider, bessere Sänger und auch Vögel mit manierlicheren Tischsitten. Aber der gefiederte Genosse, über Jahrzehnte als Korndieb erbarmungslos verfolgt, der seine Hochzeit in den 1970er Jahren hatte, ist der eigentliche Nah-bei-de-Leut-Vogel. Lange war ihm kein Stadtteil zu öde und keine Dorfwiese zu staubig, um sich zu zeigen, aber nun ist er durch den Strukturwandel in Stadt und Land von akuter Wohnungsnot betroffen.

Sein Rückgang ist schleichend, in Berlin gehört er noch dazu, aber aus vielen anderen europäischen (Haupt)Städten ist er verschwunden. Er ist der Gewerkschafter unter den Vögeln (Theodor Lessing), verbringt viel seiner Zeit in hoch komplexen sozialen Gruppen, wo er, nun ja, trotz seiner Geselligkeit „doch beständig mit anderen gleichstrebenden im Streite“ (Alfred Brehm) liegt. Nur um dann doch mit viel praktischer Intelligenz gemeinsam die Dinge anzugehen. Erst wenn er fort ist, zeigt sich, was er alles an Fiesem so wegschafft. Schon damals hat Alfred Brehm deshalb die Frage aufgeworfen, die von manch einem auch heute noch gestellt wird: „Wer hat wohl jemals seine Verdienste anerkannt?“