Jede Krise birgt die Chance auf einen Neuanfang in sich – das wussten schon die alten Griechen. Dies gilt auch für die aktuelle Flüchtlingskrise, auch wenn diese zunächst einmal mehr die Schwächen und Mängel Europas schonungslos offen legt. Doch schon lange vorher wusste man, dass die Europäische Union weltpolitisch nicht viel mehr als ein Papiertiger war. Ihr Versagen in den jugoslawischen Nachfolgekriegen der 1990er-Jahre war nur ein Vorspiel für ihre nahezu völlige Hilflosigkeit angesichts der Anfang des 21. Jahrhunderts aufbrechenden blutigen Konflikte im Krisenbogen, der Europa von Nordafrika über den Nahen Osten und den Kaukasus bis Afghanistan wie eine Klammer umgibt. Diese Konflikte sind eine der Ursachen für die massenhafte Migration nach Europa. Eine andere ist die genauso dramatische Bevölkerungsexplosion in Afrika und im Nahen Osten, die bei ständig sich verschlechternden Lebensbedingungen und dem fortschreitenden Klimawandel weitere Abwanderung auslösen wird. Im Grunde haben wir es mit dem Beginn einer neuen Völkerwanderung zu tun.

Die Europäische Union ist für diese Herausforderungen nicht gewappnet. Das wäre vielleicht der Fall, wenn sie über die notwendigen Instrumente und den politischen Willen zu ihrer Anwendung verfügte. Beides ist aber nicht vorhanden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende der Blockkonfrontation hatten den Willen zur weiteren Integration und zur Verteidigung nach außen gleichermaßen geschwächt. Die Europäer ließen sich von der Illusion einer Friedensdividende einlullen.

Um auf die eigene Stärke bauen zu können, wäre eine vertiefte Integration Europas und insbesondere eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik notwendig, die nicht nur auf dem Papier besteht.

Um auf die eigene Stärke bauen zu können, wäre eine vertiefte Integration Europas und insbesondere eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik notwendig, die nicht nur auf dem Papier besteht. Doch der Höhepunkt der europäischen Einigung wurde nach Meinung des kürzlich verstorbenen früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt schon im Jahr 1992 erreicht. Damals beschloss man eine gemeinsame Währung und die Erweiterung der EU um die früheren kommunistischen Staaten Mittelosteuropas wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei. Von diesem Zeitpunkt an waren aber „zunehmend schwerwiegende Versäumnisse zu beklagen“, wie Schmidt anmerkt. Was ursprünglich für sechs, dann für neun Mitglieder konzipiert war, konnte für zwölf und fünfzehn Staaten nur noch mühsam funktionieren. Mit jetzt 28 Mitgliedsländern ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Das schwerwiegendste Versäumnis war sicherlich die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages durch Franzosen und Holländer im Jahr 2005. Eine europäische Verfassung hätte die Grundlage für die Selbstbehauptung Europas in einer zunehmend gefährlichen Welt geboten. Der Lissabon-Vertrag von 2007 konnte dieses Versäumnis nicht wettmachen. Stattdessen wurde mit der verfrühten Aufnahme Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens sowie den Beitrittsperspektiven für die Türkei und den westlichen Balkan die Verwässerung des europäischen Projekts fortgesetzt nach dem Motto: „Größer, weiter, schwächer“.

Unabdingbar ist eine strategische Neuorientierung der EU und die Schaffung einer wirkungsvollen Verteidigungskapazität, um den neuen Herausforderungen, die ja so neu gar nicht sind, begegnen zu können: Bekämpfung der Fluchtursachen in Afrika und im Nahen Osten, zu der neben einer radikalen Wende in der verhängnisvollen Handels- und Subventionspolitik auch eine glaubwürdige Abschreckung und – wenn erforderlich – ihre Anwendung gegenüber fluchtverursachenden Regimen gehört; Behauptung in einer Welt, die seit Beginn des Jahrhunderts von einer Rückkehr der Geopolitik geprägt ist und in der alte (USA, Russland) wie aufstrebende Mächte (China, Indien) zunehmend in machtpolitische Verhaltensmuster zurückfallen; konstruktive Auseinandersetzung mit dem Islam, in dessen Verbreitungsgebiet die meisten bewaffneten Konflikte stattfinden und dessen ungelöstes Verhältnis von Staat und Religion mit der zunehmenden Zahl von Migranten eine Herausforderung für unsere säkularen Gesellschaften darstellt.

Diese Herausforderungen können mit der gegenwärtigen Verfassung der EU und 28 Mitgliedstaaten mit divergierenden Interessen nicht bewältigt werden. Europas Werte werden außerhalb Europas zunehmend in Frage gestellt, und vielleicht müssen wir uns auch von der Illusion verabschieden, dass wir überall in Europa die gleichen Werte teilen. Notwendig ist die Schaffung eines Kerneuropa, das zwar kleiner, aber handlungsfähiger wäre und das den Rest der EU einer Lokomotive gleich hinter sich herzieht und, wenn möglich, später integriert. Es wäre ein Europa, das mit einer Zunge spricht und das im Unterschied zum jetzigen Zustand wirklich demokratisch verfasst wäre, mit einem Parlament, das diesen Namen verdient und einer Regierung, die nicht jede Entscheidung in einer mühsamen Verhandlungsprozedur mit krummen Kompromissen am Ende herbeiführen muss.

Notwendig ist die Schaffung eines Kerneuropa, das zwar kleiner, aber handlungsfähiger wäre und das den Rest der EU einer Lokomotive gleich hinter sich herzieht und, wenn möglich, später integriert.

Eine solche Konstruktion scheint bei der gegenwärtigen Großwetterlage in Europa mit dem Erstarken rechtspopulistischer Strömungen und dem damit einhergehenden Hang zu Abschottung und Protektionismus eine Vision, wenn nicht gar eine Illusion zu sein. Doch sollte man sich vor Augen führen, dass die zwei wichtigsten Etappen der europäischen Einigung gerade in Krisensituationen erfolgten: die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl als Keimzelle der EU kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa in Trümmern lag und das Misstrauen zwischen den Völkern noch groß war; die Schaffung der Europäischen Währungsunion unmittelbar nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, als das drohende Chaos an den Rändern Europas den Willen zur Zusammenarbeit stärkte.

So könnten die Krisen rund um Europa und der Streit um Flüchtlingsquoten zu einer dritten Etappe der europäischen Integration führen, an deren Ende ein stabiles und handlungsfähiges Kerneuropa stünde. Die Initiative dazu müsste gemeinsam von Berlin und Paris ausgehen, die nicht nur in der Flüchtlingsfrage, sondern auch in der Eurokrise wieder zusammenfinden müssen. Die aufgrund der Terroranschläge in Paris quasi erzwungene Solidarität Deutschlands mit Frankreich könnte eine weitere Initialzündung bilden. Ideal wäre ein Kern aus den sechs Gründungsmitgliedern der EU, ergänzt durch das „Weimarer Dreieck“, das allerdings durch das Wahlergebnis in Polen zurzeit in Frage gestellt ist. Polen, wie auch die anderen mitteleuropäischen Länder, müsste aber mittelfristig an den Kern angebunden werden – so wie die Währungsunion ja auch erst nach zehn Jahren umgesetzt wurde.