Der Rückzug Angela Merkels vom CDU Vorsitz hat die politische Dynamik in Deutschland grundlegend verändert. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles schloss aus Merkels überraschendem Verzicht, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr lange Zeit habe, um sich inhaltlich zu erneuern. Sie hat recht. Doch es bleibt die bisher unbeantwortete Frage: Wie genau soll diese inhaltliche Erneuerung aussehen? Wie kann die SPD dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder wissen, wofür die Partei eigentlich steht? Es ist höchste Zeit, strategische Entscheidungen zu treffen und klare Positionen zu beschließen, statt die Kernkonflikte weiter zu umschiffen.

Schon seit längerem wird die Sozialdemokratie durch eine Auseinandersetzung zwischen Kommunitaristen auf der einen und Kosmopoliten auf der anderen Seite aufgerieben. Grob gesagt geht es um die sich immer unversöhnlicher gegenüberstehenden Lebensentwürfe derer, die sich durch Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung kulturell sowie sozioökonomisch bedroht fühlen und derer, die in diesen Entwicklungen hauptsächlich neue Chancen sehen. Die Analysen der Wählerwanderungen bei den letzten Landtagswahlen zeigen deutlich, dass sich die politische Landschaft genau entlang dieser Konfliktlinie in Richtung AfD und Grünen polarisiert. Das Resultat: Die traditionellen Volksparteien werden zerrieben.

Die Sozialdemokratie diskutiert vor diesem Hintergrund schon seit geraumer Zeit die strategische Frage, an welchem der beiden Lager die Partei sich denn nun orientieren soll. Auch unter Bezugnahme auf Beispiele wie Jeremy Corbyn in Großbritannien wird meist argumentiert, dass man sich dem kommunitaristischen Milieu zuwenden und eine nationalstaatlich geprägte Politik für diese Zielgruppe machen sollte. Die identitätsgetriebene Politik der Kosmopoliten wird oft als überholt und kontraproduktiv angesehen. Eine solche Verengung der Sozialdemokratie wäre strategisch jedoch ein schwerer Fehler.

Will die SPD Volkspartei bleiben, ist es prinzipiell falsch zu fragen, an welchem Lager man sich künftig orientieren soll.

Die Sozialdemokratie war immer schon die Partei des sozialen Aufstiegs. Damit hat sie traditionell eine integrative Funktion zwischen kommunitaristischen und kosmopolitischen Positionen innegehabt. Politik für die Breite der Bevölkerung zu machen, ist übrigens auch das Kernmerkmal einer Volkspartei. Im deutschen Diskurs wird der Begriff oft beliebig auf ein bestimmtes Wahlergebnis reduziert: Kann sich eine Partei mit weniger als X% der Stimmen noch Volkspartei nennen? Der äquivalente englische Begriff „catch-all party“ macht aber das eigentliche Kernkriterium einer Volkspartei deutlich: Es wird ein Politikangebot für die gesamte Gesellschaft gemacht. Hier zeigt sich der klare Gegensatz zu Klientelparteien, die diesen Anspruch nicht erheben und lediglich Interessenpolitik betreiben.

Will die SPD Volkspartei bleiben, ist es prinzipiell falsch zu fragen, an welchem Lager man sich künftig orientieren soll. Die wirklich wichtige Frage ist: Welche Umstände und Entwicklungen haben die von der Sozialdemokratie historisch angebotene Klammer zwischen kommunitaristischen und kosmopolitischen Positionen dermaßen überdehnt, dass dieser Spagat im Moment schwer möglich erscheint? Und vor allem: Was kann getan werden, um diese notwendige Verbindung wieder herzustellen? Es geht nicht um die exklusive Auswahl bestimmter Gruppen oder Interessen. Es geht weiterhin um die Integration politischer Positionen. Das ist im Kern genau das, was Willy Brandt meinte, als er bekräftigte, dass die SPD die Partei des „donnernden Sowohl-als-auch“ sei.

Die Integration verschiedener Positionen bedeutet aber auch, beiden Lagern Kompromissfähigkeit abzuverlangen. In schon stärker polarisierten Ländern wie den USA oder Großbritannien ist diese Kompromissfähigkeit bereits weitestgehend verlorengegangen. In Deutschland bietet sich noch die Chance, eine nachhaltig tiefe Spaltung zu verhindern. Das Handlungsfenster schließt sich aber schnell.

Das Thema Gerechtigkeit findet in der Bevölkerung zu wenig Gehör, solange das Feld Sicherheit weit oben auf der politischen Agenda steht und von der SPD nur unzureichend besetzt ist.

Wenn die SPD also weiterhin Volkspartei bleiben will, was bedeutet das dann konkret inhaltlich? Für die SPD ist es zum jetzigen Zeitpunkt zu eingeschränkt, die diskursiven Schwerpunkte exklusiv auf Gerechtigkeit und einen Regierungsfahrplan zu setzen. Gerechtigkeit bleibt natürlich Markenkern der Sozialdemokratie. Das Thema allein findet in der Bevölkerung aber zu wenig Gehör, solange das Feld Sicherheit weit oben auf der politischen Agenda steht und von der SPD nur unzureichend besetzt ist. Sicherheit ist ein noch grundlegenderes Bedürfnis als Gerechtigkeit. Anders formuliert: Ein bestimmtes Maß an physischer, sozialer und ökonomischer Sicherheit ist eine notwendige Voraussetzung, um einen Gerechtigkeitsdiskurs mit konkreten Maßnahmen anschlussfähig zu machen. Die beiden Themenfelder müssen viel besser verknüpft werden.

Was bedeutet eine Strategie des „Sowohl-als-auch“ und ein inhaltlicher Fokus auf Sicherheit und Gerechtigkeit konkret in der Praxis? Am Beispiel der Zuwanderungspolitik lässt sich das durchdeklinieren. Die Polarisierung dieses Themas verläuft zwischen einem ethnisch-nationalistisch definierten Diskurs am rechten Rand und denjenigen, die Konflikte herunterspielen, die in der Folge von Zuwanderung auftreten. Da die Pole diskursiv dominant sind, wird eine Mittelposition selten konkret ausformuliert. Dies ist nichtsdestotrotz notwendig, da sich mutmaßlich die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Mitte befindet.

Wie sieht die moderne Bundesrepublik heute aus? Die Realität ist, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist und dadurch nachhaltig bereichert wird. Das Zusammenleben benötigt zwar eine allgemein akzeptierte rechtliche und kulturelle Plattform. Generell aber ist Vielfalt eine wichtige Quelle gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Vitalität. Personenfreizügigkeit innerhalb der EU ist eine politische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt. Wir benötigen auch dringend ein Einwanderungsgesetz inklusive des Pfadwechsels für Flüchtlinge, um die außereuropäische Einwanderung zu strukturieren und das Asylsystem für die wirklich Verfolgten zu erhalten.

Es ist keine Option, den wirklichen Konflikten durch langwierige Parteiprozesse aus dem Weg zu gehen.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch gesellschaftliche Grenzen der Veränderung, die es notwendig machen, die Einwanderung politisch zu gestalten. Es gab und gibt kein generelles Recht auf Migration und nicht jeder, der will, kann auch nach Deutschland kommen. Im Bereich des Asyls gilt es, existierende Konflikte nicht herunterzuspielen. Vielmehr muss man der ethnisch-nationalen Deutung der Rechtspopulisten, die alle Andersaussehenden in einen Topf werfen wollen, den wahren Antagonismus entgegenzusetzen: den zwischen genuin Hilfesuchenden und Kriminellen.

Den wenigen Straftätern unter den Asylsuchenden muss der Rechtsstaat mit aller Härte entgegentreten, um die große Mehrheit der Flüchtlinge vor falschen Pauschalurteilen zu schützen und die Offenheit der Bevölkerung für Zuwanderung zu bewahren. In einer kohäsiven Gesellschaft muss gelten: Wer zur Solidargemeinschaft dazugehört, entscheidet nicht der individuelle Hintergrund, sondern ob man sich an die gesellschaftlichen Spielregeln hält. Wer die Regeln der Gemeinschaft nicht akzeptiert, hat in ihr keinen Platz und kann auch nicht auf Hilfe hoffen. Dadurch bleibt die Gesellschaft prinzipiell offen, es werden aber zugleich durch die Verbindung von Sicherheits- und Gerechtigkeitsthemen klare Grenzen gezogen.

Die inhaltliche Erneuerung der SPD ist dringender denn je. Die jetzt gestellten strategischen Weichen werden das Schicksal der Partei bestimmen. Eine Ausschlussentscheidung zwischen dem kommunitaristischen und kosmopolitischen Lager wäre strategisch falsch. Die empirische Lage lässt auch vermuten, dass sie selbst taktisch nutzlos wäre. Die Wagenknecht/Lafontaine-Linke versucht doch gerade genau diese Politik: Die Kommunitaristen mit national geprägten Ansätzen anzusprechen. Das Resultat ist politische Stagnation; von einem deutlichen Hinzugewinn an Unterstützung für Die Linke kann jedenfalls keine Rede sein.

Die Sozialdemokratie muss Volkspartei bleiben, das Thema Sicherheit effektiv besetzen und mit Gerechtigkeitsfragen verknüpfen, um ihren Markenkern wieder anschlussfähig zu machen. Das wird in einigen Teilen der Partei keine Begeisterung auslösen. Es ist aber keine Option mehr, den wirklichen Konflikten durch langwierige Parteiprozesse aus dem Weg zu gehen. Wie sich die SPD in den nächsten Wochen und Monaten positioniert, wird weitreichende Folgen nicht nur für sie selbst, sondern für das gesamte politische System Deutschlands haben.