Als Keir Starmer am 27. August im Rosengarten der Downing Street vor die Presse trat, war das Chaos der rechtsextremen Schlägertruppen erst wenige Wochen her. Er hatte die Krise mit Bravour gemeistert, die Wortführer saßen bereits hinter Gittern und die Erinnerung an den fulminanten Wahlsieg vom 4. Juli war noch frisch. Nun wartete das politische London auf erste Hinweise wie Labour den „Wandel“ nun auf den Weg bringen wolle. Was jedoch folgte, war eine Blut-und-Schweiß-Rede, die die Medien verwundert zurückließ und seine Zustimmungswerte seit Juli um 45 Prozentpunkte sogar unter die des Tory-Vorsitzenden Sunak fallen ließ.

War der Rosengarten nicht bewusst für einen positiven Auftritt gewählt worden? Alle erinnerten sich doch noch an Johnsons Lockdown-Partys, die genau hier stattgefunden hatten. Labour dagegen hatte Hoffnung versprochen. Vor der eigentlich perfekten Kulisse duftender Blumen sprach ein Premier mit düsterer Miene: „Wenn ein Bauwerk im Innersten verrottet ist, kann man es nicht einfach überdecken. Man kann nicht daran herumpfuschen. […] Man muss die ganze Sache [an] der Wurzel anpacken. […] Denn was passiert sonst? Die Fäulnis kehrt zurück. […] Ich muss ehrlich zu Ihnen sein: Die Dinge sind schlimmer, als wir uns jemals vorgestellt haben.“ Was wollte der Premier mit dieser Ansage erreichen? Chris Mason, politischer Kommentator bei der BBC, rückte seine schwarze Brille zurecht, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm etwas nicht logisch erschien. Die Lage war doch bekannt. „Und offen gesagt“, fuhr Starmer fort, „die Dinge werden schlimmer werden, bevor sie besser werden.“ „Doom and gloom“ – „Untergang und Verderben“ – lauteten am nächsten Tag die Schlagzeilen.

Die Vereinfachung komplexer Sachverhalte drohte sich in Liverpool auf dem Parteitag fortzusetzen. Die Stimmung unter den Delegierten war mies. Obwohl man allen Grund zum Feiern hatte, knallten keine Sektkorken und flogen keine Luftballons in das Dach des Konferenzzentrums. Stattdessen regnete es unablässig und die durchnässten Delegierten mussten sich wiederholt auf Reden einstellen, die die Herausforderungen allein als das Ergebnis von 14 Jahren konservativer Regierungsführung darstellten (was nicht falsch ist), aber die im Land tief verankerten ideologischen Grundlagen verleugneten, die über Jahrzehnte zu diesen Problemen beigetragen hatten. Kraftvolle Bilder von Fäulnis und Niedergang eröffneten also auch den Parteitag.

Pippa Crerar vom Guardian-Podcast fragte sich, weshalb die Stimmung nur so „strange“ sei, so seltsam. Die Presse hatte sich über angeblich nicht angemeldete Spenden an Starmer hergemacht, das Gehalt seiner obersten Spitzenbeamtin war plötzlich Stadtgespräch und die Ankündigung der Finanzministerin Rachel Reeves, die Energiepreisunterstützung für Rentner nur noch nach Bedarfsprüfung auszuzahlen, hatte für massiven Ärger gesorgt. Die Rosengartenrede Starmers hatte kein Narrativ geschaffen, dass der britischen Bevölkerung helfen würde, nach der seit Jahren anhaltenden Krise noch einmal den Atem anzuhalten, bis der angekündigte Wandel in fünf bis zehn Jahren eventuell eintreten würde.

Ein erster ehrlicher Schritt wäre, die Mitschuld an Jahren zerstörerischer neoliberaler Politik einzuräumen.

Stattdessen verlor auch Rachel Reeves, die für den kommenden Haushalt harte Entscheidungen in den Bereichen Soziales und Steuern versprochen hatte, 36 Punkte auf der Popularitätsskala. Zwar vermuten die Briten bei Labour hinsichtlich der meisten Themen noch immer Kompetenz, in Fragen der Wirtschaft hat sie ihren Zehn-Punkte-Vorsprung jedoch verloren. Ein Drittel der Befragten ist der Meinung, dass die Regierung offen mit den Herausforderungen des Landes umgeht, aber mehr als die Hälfte denkt, dass es der Regierung nicht gelungen sei, „Optimismus zu verbreiten“. „Warum“, so die Podcasterin, „kommuniziert Starmer nicht mit einer Vision? Ja, es wird harte Entscheidungen geben, aber verlasst Euch darauf, es wird sich lohnen!“

Ein erster ehrlicher Schritt wäre, die Mitschuld an Jahren zerstörerischer neoliberaler Politik einzuräumen, die dazu beigetragen hatte, das Land in seinen derzeitigen Zustand zu bringen. Wenn man von „verrotteten Fundamenten“ spricht, würde es vielleicht helfen, sich ehrlich zu machen und zuzugeben, dass die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sowie die De-Regulierung der Finanzmärkte auch unter Tony Blair als zeitgemäß galt. Starmer, von dem seine Berater sagen, er möge keine „Visionen“, sondern sei ein Macher, möchte vielleicht eine alternative Politik umsetzen, bislang hat er sich aber kaum bemüht, seine düsteren Ankündigungen mit nachvollziehbaren Beispielen auszumalen. Vielleicht konnte man noch keinen Champagner öffnen, aber ein Pint Bier hätte man sich schon verdient.

Denn keine 100 Tage sind vergangen und die Partei kann bereits auf eine beeindruckende Liste verweisen, obwohl die eigentliche parlamentarische Arbeit wegen der vorgezogenen Wahlen noch gar nicht wirklich begonnen hat. Das Unterhaus wird nach der Sommerpause, der traditionellen King’s Speech und den Parteitagen erst am 7. Oktober zusammentreten. Erst am 30. Oktober wird die Finanzministerin ihren Haushalt vorlegen können und das Regierungsprogramm konkrete Formen annehmen. Dennoch konnte bereits vieles auf den Weg gebracht werden.

Eine neue nationale Arbeitsagentur soll ab sofort nicht mehr von London aus, sondern in den Kommunen für Jobs sorgen. Dank Frühstücksclubs in allen öffentlichen Schulen werden Kinder aus sozial schwachen Familien ab April endlich nicht mehr hungrig im Unterricht sitzen. Die Gemeinderäte wurden verpflichtet, sofort Wohnbau- und Wachstumspläne zu erstellen. Die privatisierten Eisenbahnbetriebe werden wieder in öffentliches Eigentum überführt. Nur Tage nach dem Amtsantritt einigte man sich mit den Eisenbahngewerkschaften auf eine Lohnvereinbarung, die die jahrelangen Störungen im Bahnverkehr durch Streiks sofort beendet hat und von Pendlern erleichtert zur Kenntnis genommen wurde. Auch die Assistenzärzte beendeten ihren Ausstand, sodass sofort wieder mehr Termine im Gesundheitssystem NHS frei wurden.

Für die neu gegründete staatliche Agentur Great British Energy (GBE) ist mit dem ehemaligen Siemens-UK-CEO Jürgen Maier, ein Chef gefunden worden. GBE soll saubere Energieprojekte entwickeln, zur Wertschöpfung des Landes beitragen und Tausende von guten Arbeitsplätzen schaffen. Schon in wenigen Jahren soll Energie für britische Haushalte billiger werden.

Der Verweis auf die „arbeitenden Menschen“ blieb der rote Faden in Starmers Rede.

Angela Rayner nutzte in Liverpool als Erstes die Gelegenheit für eine Stimmungsaufhellung: Erste Schritte zur Umsetzung des Vorhabens Make Work Pay seien eingeleitet. Unter tosendem Applaus verkündete sie, dass in einer neuen Praxis des Sozialen Dialogs Regierung, Gewerkschaften und Unternehmensverbände ab sofort gemeinsam an einem Tisch säßen. Das Beenden ausbeuterischer Null-Stunden-Verträge und der Praxis von fire and rehire sowie die Einführung grundlegender Rechte – wie Anspruch auf Elternurlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung – würden bereits im Oktober als Gesetzespaket eingebracht. Und last but not least: Die Anti-Streik-Gesetzgebung der Tories seit 2010 werde zu Beginn der kommenden Sitzungsperiode aufgehoben.

Die wichtigste Aussage des Parteitags verkündete jedoch Finanzministerin Rachel Reeves: „Es wird keine Austeritätspolitik mehr geben“, rief die erste weibliche Schatzmeisterin Englands in 800 Jahren den Abgeordneten zu. Reeves habe in ihrer Rede, so die Financial Times, „erstmals Flexibilität für mehr staatliche Schulden für zukunftsweisende Projekte angedeutet“. Außerdem könne man – so die FT – leichte Veränderungen an der „britischen Schuldenbremse“ erwarten, ohne wie Liz Truss 2022 „die internationalen Finanzmärkte zu verschrecken“. Reeves begann endlich, das Narrativ zu wenden: Die Pläne der Regierung würden „ein Ende der niedrigen Investitionen einläuten, die den Niedergang gefördert hatten“.

Diese Einsicht mochte auch Starmer motiviert haben, dem es am Ende der Konferenz gelang, sich zwischen den Zeilen auch an Reform UK-Wähler zu wenden, die Nigel Farages rechtspopulistische Partei mit fünf Sitzen ins Unterhaus katapultiert hatten. Authentisch und glaubhaft vermittelte er, dass er um die Sorgen der Menschen wisse, die das Vertrauen in die Politik verloren haben, also der Generation von Briten, deren Kindern es erstmals schlechter ergeht als ihnen selbst. Der Verweis auf die „arbeitenden Menschen“ blieb der rote Faden in Starmers Rede. Seine Regierung werde das verloren gegangene Vertrauen wiederherstellen. Ja, es gehe um ein Langzeitprojekt, aber der Wandel habe bereits begonnen. Endlich gebe es wieder eine Industriestrategie, einen Zehn-Jahres-Plan für den NHS, eine Ausweitung der Dezentralisierung, eine Wiederherstellung der Arbeitnehmerrechte und die Zusage für mehr Lehrer in den Schulen sowie eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche. Die Transformation zu einer grünen Wirtschaft müsse dort stattfinden, wo alte Arbeitsplätze verloren gegangen waren und so werde die GBE selbstverständlich in Aberdeen angesiedelt werden, wo Anfang der 1970er Jahre erste Ölfelder in der Nordsee erschlossen wurden.

Das Vereinigte Königreich werde auch seine internationale Verantwortung wahrnehmen, was er in New York bei der UN-Generalversammlung wiederholen werde. Und ja, Migration benötige Kontrolle, aber Rassismus werde nicht mehr toleriert.

Die Fraktion mit ihrer Mehrheit von 158 Sitzen wird alle Vorhaben ohne Widerstände durchwinken können. Das „brüchige Großbritannien“, wie Starmer es in Liverpool nannte, wird die Gewinne und Verluste der massiven wirtschaftlichen, demografischen und sicherheitspolitischen Veränderungen auf einem langen, harten Weg ausgleichen müssen. Wie im Rosengarten hätte der Premier auch in Liverpool in einer populistischen Lüge von diesen Problemen ablenken und auf ein Lied von glorreichen Zeiten umschwenken können. Er hat sich entschieden, dies nicht zu tun. „Schwere Entscheidungen“ ist nun zu einer Art Klischee geworden, das Zustimmungswerte in den Keller rasen lässt. „Ich lege keinen Wert darauf, beliebt zu sein“, so Starmer. Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit brauche Zeit. Er konzentriere sich darauf, eine klare Vision für die Zukunft zu präsentieren, anstatt nach Popularität zu heischen.