Die deutsche Diskussion über Digitalisierung ist komplex. Beispielsweise wütet der gesellschaftspolitisch ultraliberale Zukunftsforscher Harald Welzer regelmäßig in Büchern und Gastbeiträgen gegen die „smarte Diktatur“ der Datenkraken aus dem Silicon Valley, die uns die Freiheitsrechte rauben und unsere Demokratie aushöhlen. Welzer ist damit nicht allein. Ein Gerhart-Baum-Liberalismus soll auch im 21. Jahrhundert noch überleben. Das ist hier das Ziel.

Es gibt nun aber auch solche Liberalen, die glühende Digitalisierungsphantasten sind und das aus ökonomischen Gründen. Kai Diekmann war früher dafür die Leitfigur. Der Journalist Christoph Keese ist auch so jemand. Ihr Tenor: Schaut auf das Silicon Valley. Wir müssen so werden wie die. Diese Liberalen kritisieren, dass in Deutschland vieles nicht schnell genug vorangeht. Sie bemängeln diese deutsche Mentalität des betriebswirtschaftlich abwartenden Strukturkonservatismus. Sie wollen, dass sich die Menschen und die Unternehmen möglichst schnell für die neue Zeit öffnen und sehen, was da auf sie zukommt. Die betriebswirtschaftliche Zukunft sehen sie eher in Start-ups, zumindest aber in der „schöpferischen Zerstörung“, so wie der Wirtschaftssoziologe Joseph Schumpeter es einmal ausgedrückt hat.

Die Lage ist also verworren. Was kann aber eine originär „linke,“ zumindest „keynesianische“ Antwort auf die Digitalisierung sein und worin könnte ihre besonders deutsche Ausprägung liegen? Es handelt sich um eine Doppelstrategie. 

Hat sich jemand mal gefragt, wie das einzigartige Ökosystem des Silicon Valley überhaupt entstehen konnte?

Erstens: Hat sich jemand mal gefragt, wie dieses einzigartige Ökosystem des Silicon Valley überhaupt entstehen konnte? Eine naive Antwort: Die ehemaligen Hippies aus Kalifornien haben es halt geschafft, im Kapitalismus anzukommen. Aus Visionen entstand so langsam ein neuer Wirtschaftszweig. Das war eben Disruption. Eine weniger naive Antwort ist: Die Universität Stanford und ihr Campus sind der Nukleus, der Kern des Ökosystems, ohne den es das Silicon Valley nicht gäbe. Das heißt: Ohne staatlich-öffentliche Infrastruktur kein florierendes digitales Ökosystem. Daraus sollte Deutschland lernen.

Deutschland braucht ein deutsches Stanford. Und das muss mit viel Geld des Staates finanziert und gegründet werden. Wo und wie? Man sollte die bisherige Technische Universität Berlin schließen und zugleich neugründen. Es sollte auf Basis und Verwaltungsstruktur der TU Berlin eine neue Berliner Universität entstehen – und zwar das BIT (Berlin Institute of Technology). Die MINT-Fächer und deren Institute der drei Berliner Universitäten sollen dafür ausgegliedert und in die neue Universität überführt werden. Das wird viel Geld kosten. Dazu werden fünf Milliarden Euro (oder mehr) in die Hand genommen werden müssen. Der Campus des BIT sollte auf dem Tempelhofer Feld errichtet werden. So können auch in Berlin ein Ökosystem wie Stanford und ein Silicon Valley 2.0 entstehen.

Zweitens: Man sollte zugleich nicht so naiv sein zu glauben, dass man das amerikanische Wirtschaftsmodell einfach kopieren kann. Deutschland kann und wird keine reine Start-Up-Nation werden. Das Wirtschaftsmodell Deutschlands ist nicht auf Disruption ausgelegt, sondern auf inkrementelle Weiterentwicklung. Hier gibt es weniger betriebswirtschaftliche Revolutionen, vielmehr ist Evolution das Leitbild. Und das wird auch im digitalen Zeitalter so bleiben. Der deutsche Maschinen- und Anlagenbau im konkreten, sowie die deutsche Industrie im Allgemeinen stehen dabei im Zentrum. Dieser Industrie und ihrer Zukunft muss sich eine deutsche Digitalisierungsstrategie im Kern widmen.

Das Glück besteht darin, dass Deutschland, etwa im Gegensatz zu Großbritannien, seine Industrie nie politisch aufgegeben hat. Die Deutschen sind nicht der Illusion einer „postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft“ erlegen, wie der Soziologe Daniel Bell sie in den 1970er Jahren kommen sah. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung war mit 22,6 Prozent 2015 ähnlich konstant wie noch im Jahr 2000. Das gilt auch für den Beschäftigtenanteil im verarbeitenden Gewerbe. Es gehört hier wahrscheinlich zu einer der wenigen Glanztaten des Altkanzlers Gerhard Schröder, dass er im Zuge der „New-Economy“- und „Dotcom-Phase“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre die Rolle und die Bedeutung der deutschen Industrie verteidigte.

Umso wichtiger ist es, die Industrie zu pflegen und zu stärken: Wir sollten nicht nur den Status Quo für die deutsche Industrie sichern, sondern ganz aktiv eine Re-Industrialisierung anstreben. Durch die sogenannte Industrie 4.0 ist das möglich. Denn die einfache Lehre des Fordismus –  je größer die Menge der hergestellten Teile, desto geringer die Stückkosten – gilt nicht mehr. Durch neue Technologien könnte individuelle Fertigung zu Kosten der Massenfertigung möglich werden. Selbst Unikate wären so rentabel. Das ist der neue Postfordismus der digitalen Industrie 4.0. Outsourcing in Billiglohnländer wäre damit auch betriebswirtschaftlich am Ende angelangt. Eine digitale deutsche Industrie könnte wachsen – wenn die Politik mitspielt und die Weichen richtig stellt.

Unternehmen scheinen immer noch zu glauben, dass qualifizierte Menschen von Bäumen fallen und sich ansonsten doch gefälligst privat und auf ihre eigenen Kosten weiterzubilden hätten.

Ein rein „marktorientierter“ Weg wäre hier falsch. Vielmehr sollte Deutschland die Potenziale der sogenannten „koordinierten“ oder „kooperativen“ Marktwirtschaft nutzen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder plädiert etwa für eine solche Rückkehr und Stärkung des „Rheinischen Kapitalismus“. Die Zukunft sieht er in klugen Arrangements und vitalisierenden Netzwerken aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Er verweist in einem Papier für die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) darauf, dass Deutschland mit dem Bündnis der Sozialpartner „Zukunft der Industrie“, der Industrie 4.0-Plattform des Bundeswirtschaftsministeriums und dem Arbeit 4.0-Prozess des Bundesarbeitsministeriums diesen korporatistischen Weg bereits eingeschlagen habe und dieser nun intensiviert werden müsse. Schroeder setzt hier auf die Kraft der deutschen Verbände, sich zusammenzuraufen und in Kooperation die Stärken der deutschen Industrie konsequent weiterzuentwickeln. Nun ist es leider so, dass auf Seiten der Arbeitgeber von Gesamtmetall und BDA – und mit Abstufungen auch beim BDI – ganz offensichtlich der Marktradikalismus immer noch so sehr das Bewusstsein bestimmt, dass sie die Potenziale des korporatistischen Weges nicht sehen oder nicht sehen wollen. Sie wollen auch nicht sehen, dass nur mit einer Rückkehr des Staates als aktiver Gestalter der Weg in die Industrie 4.0 erfolgreich beschritten werden kann.

Wie kann ein keynesianisch-korporatistischer Weg also aussehen? Anders gefragt: Worin könnte und sollte eine sozialdemokratische Politik für die Industrie 4.0 bestehen?

Eine kluge, konstruktive Digitalpolitik sollte mit dem Anschauen dessen beginnen, was es bereits gibt und was gut funktioniert. Den besten Aufschlag für so einen Best-Practice-Ansatz hat der ehemalige IG-Metall Vorsitzende Detlef Wetzel in seinem Buch „Arbeit 4.0“ gemacht. Auf einer „Zukunftsreise“ besuchte er eine Lernfabrik an der TU Darmstadt, ließ sich über betriebliche Gesundheitspolitik bei Thyssen Krupp informieren und sich die digitale Arbeitszeitgestaltung bei Gothaer Systems erklären. Einen ähnlichen Weg wählte der Journalist Klaus Heimann in einer Studie für die FES über „Berufliche Bildung 4.0“. So ein erworbenes Wissen kann dann wieder in Konzepte gegossen und von anderen Betrieben umgesetzt werden.

Best Practice ist also ein wichtiger Ansatz, um zu gemeinsamen konzertierten Aktionen zu kommen. Sehr zentral ist da der Bereich „Berufliche Bildung“. Sie ändert sich gerade radikal. Ein Facharbeiter etwa muss immer komplexere Tätigkeiten durchführen und immer mehr wissen. Und es ist gerade er, wie generell Beschäftigte mit einem mittleren Qualifikationsniveau, der durch die Digitalisierung am meisten unter Druck gerät. Die OECD beschreibt in ihrem „Beschäftigungsausblick 2017“, dass Jobs mit mittlerer Qualifikation wegfallen, während es sowohl im niedrig qualifizierten Tätigkeitsbereich als auch im Bereich hochqualifizierter Tätigkeiten mehr Beschäftigung gibt. Auch der „European Jobs Monitor 2017“ zeigt diese starke Polarisierung. Danach gibt es vor allem bei hochbezahlter und sehr gering bezahlter Beschäftigung hohe Zuwächse, wohingegen in der Mitte so gut wie nichts mehr passiert.

Ein korporatistischer Weg könnte das fatale Denken der Arbeitgeber durchbrechen. Mehr Wirtschaftsliberalismus wäre die falsche Antwort auf die Herausforderungen, die die Digitalisierung stellt.

Wenn man also weiß, dass Bildung immer wichtiger wird, muss man auch Wege finden, den Menschen diese Bildung zu ermöglichen. Ein Weg könnte hier das tarifliche Bildungsteilzeitmodell der IG-Metall sein. Bizarrerweise gibt es kaum einen Vorschlag der IG-Metall, der so vehement vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall bekämpft wird wie dieser. Unternehmen scheinen immer noch zu glauben, dass qualifizierte Menschen von Bäumen fallen und sich ansonsten doch gefälligst privat und auf ihre eigenen Kosten weiterzubilden hätten. Was für eine strategische Dummheit!

Ein korporatistischer Weg könnte das fatale Denken der Arbeitgeber durchbrechen. Mehr Wirtschaftsliberalismus wäre die falsche Antwort auf die Herausforderungen, die die Digitalisierung dem deutschen Wirtschaftsmodell stellt. Mehr Staat und mehr Korporatismus hingegen sind die richtige Antwort. Insofern deutet sich auch an, warum dieser Weg zugleich „keynesianisch“ genannt werden muss. Der Staat wird wieder zum zentralen Akteur.

Umso wichtiger ist es, schnellstmöglich eine keynesianisch-korporatistische Agenda für die Digitalisierung anzugehen. Sie sollte die folgenden Punkte umfassen:

Das schnelle Internet muss schneller kommen. Ähnliches gilt für den flächendeckenden Mobilnetzausbau – für 4G und 5G. Nur ein Beispiel, warum hier Handlungsbedarf herrscht: Das 4G-Netz in Deutschland ist laut einer aktuellen Studie des Aachener Beratungsunternehmens P3 schlechter als in Albanien. Eine hervorragende digitale Infrastruktur ist die Voraussetzung für alles andere. Dafür muss nicht nur der Druck auf die Unternehmen steigen, sondern auch der Staat aktiver werden.

Des Weiteren braucht es ein Milliarden-Programm „Duales Studium: Vom Meister zum Master“ und ein Milliarden-Programm für die Fraunhofer-Institute, die Helmholtz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Institute. Dann sollte es zur finanziellen Unterstützung beim Aufbau neuer Studiengänge zu Industrie 4.0 sowie zur Finanzierung von Lernfabriken kommen.

Es sollte zudem zur Gründung einer „Bundesagentur für Weiterbildung“ kommen, unter dem Dach der Bundesagentur für Arbeit oder im Verbund mit ihr. Damit müsste man auch eine soziale Absicherungspolitik für all jene verbinden, die befürchten, durch die Digitalisierung arbeitslos zu werden. Die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeld 1 (auch nicht nur für Ältere) und der Ausbau zu einem Arbeitslosengeld Qualifizierung sind hier zentral. Zuletzt braucht es einen massiven Ausbau staatlicher Forschungsförderung und mehr steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung. Deutschland benötigt eine „Industriestrategie 2025“. Ein „Sozialstaat 2025“, so wie ihn die SPD will, ist gut, aber noch nicht genug.