Die letzten Wahlen haben gezeigt: die Sozialdemokratie in Europa steckt in einer Krise. Allerdings hat die Labour Party mit ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2017 ein achtbares Ergebnis erzielt. Warum scheint Labour die einzige Ausnahme zu sein?

Bei der letzten Wahl hat die Labour Party zwar 40 Prozent der Stimmen geholt, allerdings wird dabei oft vergessen, dass in Großbritannien ein Mehrheitswahlrecht herrscht und Labour in einem Verhältniswahlsystem dieses Ergebnis sicher nicht erzielt hätte. Das britische Wahlsystem befördert zudem den Zweiparteienwettbewerb. Daher muss auch der konservative Gegner genauer betrachtet werden. Die Tories, mit Theresa May an der Spitze, haben eines der schlechtesten Wahlprogramme der jüngeren britischen Geschichte vorgelegt. May war sich nach der Labour-Niederlage bei den Lokalwahlen im Mai und den schlechten Umfragewerten für Corbyn schlicht zu siegessicher. Letzteres war auch der Hauptgrund dafür, warum sie überhaupt erst Neuwahlen ausgerufen hat. Was den Austritt Großbritanniens aus der EU betrifft, sind sowohl die Tories als auch Labour innerparteilich über die Form des Brexits zerstritten und May wollte sich mit der Wahl Rückhalt für einen harten Brexit holen, was vom Wähler abgelehnt wurde.

Demnach eignen sich Corbyn und seine Labour Party nicht als Vorbild?

Labour sieht seit der Wahl gegenüber einer schwachen Regierung weiterhin gut aus, was nicht weiter überraschend ist. Aber Lehren, zumindest inhaltliche, kann man aus diesen Umständen für Deutschland nicht ziehen. Die politische Ausgangslage in Großbritannien ist eine völlig andere. Eine Vielzahl von Problemen, mit denen Großbritannien zu kämpfen hat, resultieren aus Zeiten der harten Austeritätspolitik, die Deutschland in der Form nicht erlebt hat. Dieser Unterschied wird deutlich, wenn man sich das Labour-Wahlprogramm für die Parlamentswahlen im Juni anschaut. Es fällt auf, dass Positionen wie Steuergerechtigkeit, bezahlbarer Wohnraum oder mehr freie Kinderbetreuung entweder von der SPD bereits vertreten werden oder die Probleme in Deutschland so nicht existieren. Die Wasserversorgung ist in Deutschland in öffentlicher Hand. Es gibt keine Studiengebühren wie in Großbritannien und bei der Polizei und Feuerwehr wurden keine radikalen Sparmaßnahmen durchgeführt. Auch Beschäftigungspraktiken wie Scheinselbständigkeit ohne garantierte Arbeitsstunden sind hierzulande illegal.

Bei der Labour-Kampagne hat man verstanden, dass der authentische Kern des Kandidaten wichtig ist.

Dann anders gefragt: Was hat die Labour Party strategisch richtig gemacht? 

Was die Labour Party geschafft hat, ist, mit neuen Formen der Mobilisierung und Kommunikation eine Welle von neuen Mitgliedern, darunter viele junge Briten, zu rekrutieren. Ein weiterer Aspekt, der oft genannt wird, ist die demokratische Transparenz der Partei. Allerdings muss hier entgegengehalten werden, dass die Parteiführung auf dem letzten Parteitag eine Abstimmung zum Brexit gar nicht erst zugelassen hatte. Höchstwahrscheinlich befürchtete die Parteispitze, von ihren Mitgliedern mehrheitlich mit pro-europäischer Einstellung gezwungen zu werden, ihren Zickzack-Kurs in Sachen Brexit aufzugeben.

Bei der Labour-Kampagne im Vorfeld der Parlamentswahlen hat man aber verstanden, dass der authentische Kern des Kandidaten wichtig ist und dass ein transaktionaler Politikstil, der versucht, bestimmten Zielgruppen auf Basis von Meinungsumfragen Politikangebote im Tausch für Stimmen zu unterbreiten, nicht mehr funktioniert. Die Wählerschaft ist unentschiedener und volatiler. Daher lässt sie sich auch für grundlegend neue Politikprojekte mit Zukunftsvisionen, die bis vor kurzem als utopisch galten, durchaus begeistern und mobilisieren. Eine neu definierte transformative Politik muss auch Grundlage für die Erneuerung der Sozialdemokratie in Deutschland sein.

Nach der Bundestagwahl möchte die SPD nun einen Neuanfang wagen. Was kann sie sich hierfür von der Labour Party abschauen?

Notwendig für den Neuanfang der SPD wird sein, dass sie als ehrlich und authentisch wahrgenommen wird. Der Erfolg ihrer Erneuerung wird davon abhängen, inwieweit die Partei einen grundlegenden Neubeginn mit einem transformativen Politikstil schafft. In den Niederlanden und Frankreich hat man gesehen, was passiert, wenn sich sozialdemokratische Parteien bis zur politischen Bedeutungslosigkeit verwalten. Die SPD hat zwei Optionen: mit einem „weiter so“ den weiteren Absturz zu riskieren oder die Flucht nach vorne anzutreten. Mein Rat wäre: Angriff ist die beste Verteidigung.