Ein Finanzberater empfahl kürzlich im Guardian, dass man für die persönlichen Finanzen mehrere Bankkonten eröffnen solle. Mit sechs Konten, die über Daueraufträge miteinander verbunden seien, könne man sicherstellen, dass man genügend Geld für persönliche Ausgaben, Sparraten und Notfälle zur Verfügung habe.

Was für ein Luxus, sich in so einer privilegierten Position zu befinden! Zwar beliefen sich die Pro-Kopf-Ersparnisse in Großbritannien 2020 auf rund 7 800 Euro, doch jeder Dritte kam dabei auf weniger als 700 Euro und jeder Zehnte verfügte über keinerlei Ersparnisse. In Europa hatte etwa ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger vor der Pandemie keine Rücklagen. Und ein Drittel derer, die etwas zur Seite gelegt hatten, hätten nicht länger als drei Monate davon leben können.

Das heißt, dass sich in vielen Ländern, die zu den reichsten der Welt zählen, ein erheblicher Anteil der Bevölkerung am finanziellen Abgrund bewegt. Diese Menschen haben gerade genug zum Leben und können nur davon träumen, regelmäßig Geld zum Erreichen ihrer „Sparziele“ beiseitezulegen oder „den Weg in die finanzielle Unabhängigkeit“ zu planen.

Während Theresa Mays Amtszeit als Premierministerin von 2016 bis 2019 prägten die Konservativen in Großbritannien den taktlosen Begriff der „JAMs“ für Menschen, die „gerade so über die Runden kommen“ (just about managing). Damit waren diejenigen gemeint, die genug für den Lebensunterhalt verdienten, aber keinerlei finanziellen Puffer hatten und daher unerwartete Ausgaben oder sinkende Einkünfte nicht ausgleichen konnten. Die „JAMs“ gerieten in den Mittelpunkt der politischen Diskussion und Mediendebatte, doch ernsthafte politische Maßnahmen, etwa gegen überhöhte Wohnkosten, blieben aus.

Muss uns das kümmern? Wenn Leute nicht arm oder mittellos sind, wenn sie weder obdachlos sind noch hungern müssen, spielt es dann überhaupt eine Rolle, dass sie kein Geld für Sonderausgaben haben und nicht für Notfälle sparen können? Oh ja, es spielt sogar eine große Rolle.

In den 1980er Jahren, als unter Margaret Thatchers Tory-Regierungen die Arbeitslosigkeit stieg, taten sich Wissenschaftler schwer zu belegen, dass  Arbeitsplatzverlust die geistige oder körperliche Gesundheit von Menschen beeinträchtigt – obwohl sich die Forscher dessen sicher waren und Studien zeigten, dass Arbeitslose tendenziell kränker sind. Das Problem war eine Stichprobenverzerrung, durch die sich der schlechtere Gesundheitszustand von Arbeitslosen auch anders hätte erklären lassen können: Es konnte ja auch sein, dass die Menschen bereits vorher krank gewesen waren und daher eher ihren Job verloren. Es war unklar, in welche Richtung die Kausalkette verlief.

Um dieses Forschungsdilemma aufzulösen, prüfte ein Hausarzt in Wiltshire, der sich um die Auswirkungen der Schließung der örtlichen Fleischverarbeitungsfabrik auf seine Patientenschaft sorgte, die Krankendaten der Betroffenen vor und nach der Schließung. Mehr als zwei Jahrhunderte lang war das Unternehmen der größte Arbeitgeber in der englischen Kleinstadt gewesen, ein Garant für stabile und sichere Beschäftigung. In den zwei Jahren vor der endgültigen Schließung hatten bereits einzelne Abteilungen dichtgemacht, einige Beschäftigte waren arbeitslos geworden, und die verbliebene Belegschaft war sich bewusst, dass der Fortbestand der Fabrik gefährdet war.

Nicht nur die tatsächliche Arbeitslosigkeit, sondern auch die prekäre Situation der Vorahnung wirkt sich überaus negativ auf die Gesundheit aus.

Der Arzt hatte befürchtet, dass Arbeitslosigkeit medizinische Folgen habe. Bei ihren Erhebungen stellten ein Statistiker und er jedoch auch bereits für die Zeit der Ungewissheit – also die zwei Jahre vor dem Jobverlust, als sich die Betroffenen bereits Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft machen mussten – bei den Beschäftigten und ihren Familien eine signifikante Steigerung der Krankheitsfälle fest. Wie sich herausstellte, wirkt sich nicht nur die tatsächliche Arbeitslosigkeit, sondern auch die prekäre Situation der Vorahnung überaus negativ auf die Gesundheit aus – eine Erkenntnis, die seither in vielen anderen Studien bestätigt wurde.

Unser Körper reagiert auf eine plötzliche akute Bedrohung oder auf Stressfaktoren mit Kampf oder Flucht und kann uns so vor unmittelbaren Gefahren retten. Wenn wir aber in einem Zustand unentwegter Bedrohung leben, so belastet das die körperliche Gesundheit wie auch das geistige Wohlbefinden massiv. Der Biologe Robert Sapolsky erklärt das mit einem anschaulichen Beispiel: „Wenn wir vor einem Löwen davonrennen, steigt unser Blutdruck auf 180 zu 120. Das ist in diesem Fall kein Bluthochdruck, sondern rettet unser Leben. Geschieht dasselbe, wenn wir im Verkehr steckenbleiben, so rettet uns das nicht das Leben. Vielmehr leiden wir dann unter stressinduziertem Bluthochdruck.“

Chronischer Stress, auch auf niedriger Stufe, wirkt sich auf sämtliche Körpersysteme aus, vom Gehirn bis zum Blutkreislauf, von der Immunabwehr bis zum Hormonhaushalt, ja, sogar auf die Fortpflanzungsorgane. Chronischer Stress reibt uns auf.

Finanzielle Unsicherheit und prekäre Verhältnisse schädigen unmittelbar die Gesundheit. Die Forschung zu den Auswirkungen der Pandemie auf die öffentliche Gesundheit und zu den verheerenden Folgen von Covid-19 – auch bei Nichtinfizierten – steht noch am Anfang. In den Familienstudien im nordenglischen Bradford, an denen ich mitwirke, haben wir festgestellt, dass sich gegenüber der Zeit vor Covid bei Eltern die Fälle von Angst und Depression verdoppelt haben.

Die Verheerungen des Coronavirus im Gesundheits- und Sozialsystem dürften die unmittelbaren Folgen der Infektion somit überdauern und könnten diese letztlich sogar in den Schatten stellen.

Die britische Regierung hat für viele Beschäftigte eine Art Lohnfortzahlung eingeführt, damit während der Pandemie Arbeitsplätze und Einkommen erhalten bleiben. Nach dieser Regelung beziehen Beschäftigte, die pandemiebedingt nicht arbeiten können, maximal 80 Prozent ihres früheren Einkommens. Das Programm hat bis zu 10 Millionen Menschen ein Einkommen gesichert und wurde bis September 2021 verlängert. Mit anderen Programmen werden Solo-Selbstständige, Kleinunternehmer oder Beschäftigte in der Quarantänezeit unterstützt.

Man mag sich gar nicht vorstellen, was ohne diese Maßnahmen zur Einkommenssicherung geschehen wäre. Aber für alle „JAMs“, die schon vor der Pandemie nur gerade so über die Runden kamen, sind 80 Prozent von „gerade noch genug“ eben nicht mehr genug. Viele Familien in unserer Bradford-Studie stürzte jede Einkommensänderung in tiefe Sorge.

Haushalte, die schon vorher für Alltagsausgaben auf Darlehen und Überziehungskredite zurückgreifen mussten, wurden von der reduzierten Lohnfortzahlung noch tiefer in die Schulden getrieben. Diese Entwicklung wird sich kurz- und langfristig auf die Gesundheit, vielleicht besonders auf die seelische Gesundheit auswirken. Die Verheerungen des Coronavirus im Gesundheits- und Sozialsystem dürften die unmittelbaren Folgen der Infektion somit überdauern und könnten diese letztlich sogar in den Schatten stellen.

Geringe und unzureichende Löhne waren in einigen Branchen schon immer ein Problem, etwa in der Gastronomie, im Einzelhandel und in der Pflege, betreffen aber auch andere Gruppen, die mittlerweile als „systemrelevant“ gelten. Immer mehr Geringverdiener erhalten sogenannte Null-Stunden-Verträge, bei denen der Arbeitnehmer nur dann bezahlt wird, wenn der Auftraggeber Bedarf an der zu erbringenden Dienstleistung hat. Ende 2021 werden in Großbritannien bis zu 1 Million Menschen ebenso prekäre Arbeitsplätze haben wie die Beschäftigten jener Fleischfabrik in den 1980er Jahren, die vom Arbeitsplatzverlust bedroht waren und in der Folge krank wurden.

Wenn die „Normalität“ wieder zurückkehrt, wird daher ein guter Job und faire Bezahlung für sehr viele Menschen unerreichbar sein.

Die in der Pandemie grassierende Jobunsicherheit war schon vor Corona für allzu viele Menschen Realität. Wenn die „Normalität“ wieder zurückkehrt, wird daher ein guter Job und faire Bezahlung für sehr viele Menschen unerreichbar sein.

Die Pandemie hat viele Missstände ins Rampenlicht gerückt, viele bereits vorhandene Probleme sichtbar gemacht – von der Benachteiligung bestimmter ethnischer und sozioökonomischer Bevölkerungsgruppen im Gesundheitssystem bis hin zu Mängeln im Katastrophenschutz. Aber werden auf die Studien und das gestiegene Interesse in der Öffentlichkeit auch konkrete politische Maßnahmen folgen, um den chronischen Stress abzubauen, der unsere Gesellschaften dermaßen beherrscht und lähmt? Das bleibt abzuwarten.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Anne Emmert