Mitte Januar wurden in Israel bereits mehr als zwei Millionen Bürgerinnen und Bürgern die erste Impfdosis gegen Covid-19 verabreicht. 100 000 haben gar bereits die zweite Dosis erhalten. 75 Prozent der über 60-jährigen haben mindestens eine Impfung erhalten; gleiches gilt für das gesamte medizinische Personal des Landes. Als nächste sind die Lehrkräfte dran, und von Tag zu Tag wird das Alter der Impfberechtigten herabgesetzt. Ab kommender Woche können sich alle ab 45-jährigen bei einer der zahlreichen Impfstationen impfen lassen.

Seit Jahresbeginn erhält das Land jede Woche rund 700 000 Impfungen von Pfizer, nachdem im Dezember bereits 3,8 Millionen Dosen geliefert wurden. Auch der Hersteller Moderna hat bereits 120 000 Impfportionen eingeflogen, weitere 500 000 sind bis Ende Januar zu erwarten. Mit 170 000 bis 200 000 Impfungen pro Tag soll die Bevölkerung bis Ende März durchgeimpft sein. Damit hält Israel weltweit den Impfrekord. Anders als in Deutschland sollen nach Planung der Regierung Geimpfte einen „grünen Pass“ erhalten und damit Vorteile genießen, wie Veranstaltungen und Restaurants besuchen zu dürfen sowie von Quarantänemaßnahmen verschont zu bleiben.

Gleichzeitig aber befindet sich Israel im dritten vollständigen nationalen Lockdown. Bis auf wenige Ausnahmen sind Geschäfte, Arbeitsstätten und Bildungseinrichtungen geschlossen. Die Zahl der aktiven Corona-Fälle wurde vom Gesundheitsministerium am 15. Januar mit fast 79 084 angegeben. Derzeit liegen 1 825 Menschen im Krankenhaus, der Zustand von mehr als 1141 Patienten wird als ernst beschrieben. 291 von ihnen werden künstlich beatmet. Mittlerweile sind 3 892 Israelis an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben.

In medizinischer Forschung und Technik zählt Israel zur Weltspitze, gleichzeitig ist der Gesundheitssektor völlig überfordert.

Wie passen Impferfolg und Rekordzahlen bei den Neuerkrankungen zusammen?

In medizinischer Forschung und Technik zählt Israel zur Weltspitze, gleichzeitig ist der Gesundheitssektor völlig überfordert. Im OECD-Vergleich schneidet das Gesundheitssystem des Landes schlecht ab. Die Krankenhäuser sind überlastet, die Auslastungsrate lag bereits vor der Corona-Krise bei 93,8 Prozent. Damit liegt Israel deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 75,5 Prozent. Auf 1 000 Menschen stehen in Israel drei Betten zur Verfügung, während es im OECD-Durchschnitt 4,7 sind (in Deutschland 8,3). Für Gesundheit werden vom Staat 7,5 Prozent des Staatshaushaltes ausgegeben, das sind 1,3 Prozentpunkte weniger als der OECD-Durchschnitt.

Gleichzeitig ist Israel ein junges Land, mit einer im OECD-Vergleich kleinen Bevölkerung von 1,4 Millionen Seniorinnen und Senioren, was eine relativ schnelle Durchimpfung von Risikogruppen ermöglicht. Darüber hinaus funktioniert das krisengeschüttelte Land in Notzeiten wie eine Schweizer Uhr. Seit Jahren führt das Militär gemeinsam mit dem Gesundheitswesen Zivilschutzübungen durch, die chemische und biologische Raketenangriffe simulieren, in deren Rahmen in kürzester Zeit Impfstationen für die gesamte Zivilbevölkerung errichtet werden.

Doch der Hauptgrund für den Erfolg der Impfkampagne liegt wohl in der Struktur der Krankenkassen: Eine obligatorische Krankenversicherung gibt es in Israel zwar erst seit 1995, doch bereits davor waren über 90 Prozent der Israelis krankenversichert. Verantwortlich dafür war das attraktive Angebot der Gewerkschaftskrankenkasse, die über 70 Prozent der Versicherten abdeckte. Der Gewerkschaftsverband Histadrut war es auch, der das Gesundheitssystem des Landes aufbaute.

Warum unnötige Fragen stellen – schließlich geht es hier wieder einmal ums Überleben der Israelis und ihres Ministerpräsidenten.

Heute sieht die gesetzliche Regelung eine Pflichtmitgliedschaft in einer der vier miteinander konkurrierenden Krankenkassen vor. Der Staat fungiert als starker Regulator – er setzt die progressiven Pflichtbeiträge fest, zwingt die Kassen, alle Interessenten als Mitglieder aufzunehmen, und bestimmt medizinische Dienstleistungen, die die Kassen für den einheitlichen Mitgliedsbeitrag leisten müssen. Dazu zählen eben auch die Impfungen. Jede der Kassen verfügt über eine eigene Infrastruktur, wie ärztliches Personal und Kliniken. Mittels ihrer Datenbanken gelangen sie auf Knopfdruck an die Zielgruppen der Impfkandidaten – seien es bestimmte Altersgruppen oder besondere Risikogruppen. Per SMS oder Telefon wird der Betroffene aufgerufen, sich an einem gewissen Tag zu einer bestimmten Uhrzeit zur Impfung einzufinden. Dort wird dann der Termin für die zweite Dosis festgelegt.

Das israelische Beispiel zeigt ganz klar, dass nur ein funktionierender Sozialstaat eine so erfolgreiche Massenimpfaktion durchführen kann. Es war die israelische Sozialdemokratie, die bis Ende der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts unangefochten das Land regierte, die das Sozialsystem aufbaute. Freilich, danach folgten zumeist rechte Regierungen mit ihren neoliberalen Dogmen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist einer der Vorreiter dieser Ideologie. Er, der sich regelmäßig über zu viel Staat beschwerte, die Privatisierungspolitik vorantrieb, das öffentliche Gesundheitssystem aushungern ließ – er ist es nun, der während der Corona-Krise über 4,6 Milliarden Euro in genau dieses System fließen hat lassen.

Am 23. März wird ein neues Parlament gewählt – das vierte in zwei Jahren. Der wegen Betrugs, Korruption und Amtsmissbrauchs angeklagte Ministerpräsident steckt bereits mitten im Wahlkampf und punktet mit der erfolgreichen Impfkampagne. Er präsentiert sich als der Retter Israels, von dem die ganze Welt lernen will. Er habe sich mit „seinem Freund“ Albert Bourla, dem Geschäftsführer von Pfizer, geeinigt, eine Lieferung nach der anderen nach Israel zu senden. Tatsächlich stelle Israel für das Unternehmen einen „Modellstaat“ dar, um die Wirkung der Impfung mit statistischen Daten weiter zu untermauern, hatte Netanjahu kürzlich erklärt.

Israels Krankenkassen verfügen über ein hochdigitalisiertes System, in dem die Akten der Patienten abgelegt sind. Beobachter fragen sich nun, welche Daten da tatsächlich an den Pharmariesen weitergegeben werden, dem die israelische Regierung angeblich 39 US-Dollar pro Dosis zahlt. Aber warum unnötige Fragen stellen – schließlich geht es hier wieder einmal ums Überleben der Israelis und ihres Ministerpräsidenten.