Die Covid-19-Pandemie hält unserer globalisierten Welt einmal mehr den Spiegel vor – zumindest jenen, die es wagen hinzusehen. Während in Europa die Menschen dem „Ende der Pandemie“ entgegenfiebern, wütet das Virus in anderen Teilen der Welt schlimmer denn je.

Der Blick nach Nepal offenbart komplett unterschiedliche Realitäten: Während man sich im Globalen Norden neu gewonnener Freiheiten erfreut und viele ihren Sommerurlaub planen, hat in Nepal der Monsun eingesetzt. Der damit einhergehende Regen ist, wie jedes Jahr, Lebensquelle für die lokale Landwirtschaft, an der das Auskommen von Millionen Menschen hängt. Doch er bringt auch verheerende Überschwemmungen und Erdrutsche mit sich, Teile des Landes sind weitgehend abgeschnitten.

Da Covid-19 schon lange auch die ländlichen Gebiete erreicht hat, haben viele Erkrankte keinen Zugang zu medizinischer Hilfe jenseits der absoluten Grundversorgung. In nepalesischen Dörfern gibt es keine Intensivbetten, keine Sauerstoffflaschen und nur unzureichend Testmöglichkeiten, so dass Infektionen und Todesfälle nur unzureichend erfasst werden.

Vor einigen Wochen war Nepal wohl das weltweit am schlimmsten betroffene Land. Während die Welt entsetzt auf die gewaltigen Covid-19-Fallzahlen und das immense Leid in Indien blickte, blieb die nepalesische Tragödie allerdings weitgehend unbeachtet. Auf dem Höhepunkt registrierte das Land mehr als 9 000 Neuerkrankungen und 200 Todesfälle täglich. Verglichen mit den indischen Zahlen oder früheren Coronawellen in Europa auf den ersten Blick wenig beeindruckende absolute Zahlen. Allerdings lag die Rate positiver Testungen zu diesem Zeitpunkt bei schwindelerregenden 50 Prozent, während sie in Indien in der letzten Welle „lediglich“ 20 bis 25 Prozent erreichte.

Viele versuchten verzweifelt, über die sozialen Medien medizinischen Sauerstoff oder eines der letzten Intensivbetten für ihre Angehörigen zu ergattern.

Es bleibt nur der Schluss, dass eine große Zahl von Covid-19-Infektionen und Todesfällen aufgrund der begrenzten Kapazitäten nicht erfasst wurde. Erkrankte hatten große Schwierigkeiten, Krankenhausbetten und medizinische Versorgung zu finden. Viele versuchten verzweifelt, über die sozialen Medien medizinischen Sauerstoff oder eines der letzten Intensivbetten für ihre Angehörigen zu ergattern – häufig ohne Erfolg. Wenig überraschend überstieg die Zahl der angelieferten Leichen die Kapazitäten der Krematorien bei weitem.

Gleichzeitig bereiteten sich mehr als 400 Menschen aus aller Welt darauf vor, den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Die meisten hielten auch dann noch an ihren Plänen fest, als im Basislager die ersten Covid-19-Fälle bestätigt wurden. Die nepalesischen Behörden hatten eine Rekordzahl an Genehmigungen für die Besteigung des Mount Everest ausgestellt. Der Tourismussektor, der früher fast acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitrug und mehr als zehn Prozent der Arbeitsplätze im Lande sicherte, wartet verzweifelt auf Erholung.

Der Leichtsinn hatte gesiegt und die Regierung fast alle Beschränkungen aufgehoben. Aber auch der Umstand, dass Wanderarbeiter die offene Grenze zwischen Nepal und Indien in beide Richtungen ohne Coronatests oder Quarantäne überschritten, hatte zur explosionsartigen Entwicklung der Fallzahlen beigetragen.

Obwohl Nepal nicht viel exportiert, ist es mit der globalen Wirtschaft eng verbunden. Das Land hängt in fast allen Bereichen von Importen ab, sogar bei lebensnotwendigen Waren wie Lebensmitteln, Dünger und Benzin. Dazu kommt, dass Nepal auf Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten angewiesen ist, die insgesamt 25 bis 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter im Ausland sind die Lebensversicherung der nepalesischen Wirtschaft. Doch viele derer, die in den Golfstaaten, Malaysia oder Südkorea arbeiteten, mussten zurückkehren und konnten ihre Arbeit im Ausland mitunter nicht wieder aufnehmen. Abgesehen von vielen individuellen Tragödien, die Arbeitsmigranten aufgrund von Reisebeschränkungen und Flughafenschließungen durchlebten, sind die weiterhin vielerorts herrschenden Reisebeschränkungen ein massives Risiko für die Wirtschaft. Anders als andere Länder kann sich Nepal nicht für längere Zeit vom Rest der Welt abschotten.

Anders als andere Länder kann sich Nepal nicht für längere Zeit vom Rest der Welt abschotten.

Die Pandemie scheint sich derzeit zwar abzuschwächen, und die Zahl der Covid-19-Fälle sinkt wieder, aber daran hat offensichtlich auch die reduzierte Zahl von Tests einen erheblichen Anteil. Die Quote positiver Tests liegt noch immer bei 25 Prozent. Ungeachtet dessen stehen die Zeichen nach zwei Monaten Lockdown aktuell wieder auf Öffnung. Aber andererseits: Wie lange kann sich ein Land wie Nepal einen wirtschaftlich verheerenden Lockdown leisten?

Das Risiko bleibt ohne Zweifel groß. Die Impfkampagne, die in Nepal vielversprechend begonnen hatte, kam schnell wieder zum Stillstand. Anfang 2021 erhielt Nepal 1,1 Millionen Dosen Covishield aus Indien, das seinen Einfluss im nördlichen Nachbarland und anderen Ländern Südasiens mit einer Impfdiplomatieoffensive zu stärken suchte. Seit dem indischen Ausfuhrverbot für Impfstoffe fehlt es derzeit aber an Nachschub, und viele Nepalesinnen und Nepalesen warten immer noch, mehr als zwölf Wochen nach der Erstimpfung, auf ihre zweite Impfung.

Wie zu erwarten versuchte der chinesische Nachbar schnell, die Lücke zu nutzen, die Indien hinterließ. China baut seit einigen Jahren seinen Einfluss in Nepal aus und lieferte nun 1,8 Millionen Dosen. Auch im Rahmen der COVAX-Initiative erhielt Nepal Impfstoff von der Weltgesundheitsorganisation, und kürzlich erwähnten die USA Nepal explizit in ihren Plänen für COVAX-Lieferungen an asiatische Länder. Doch trotz allem: Aktuell sind weniger als drei Prozent der nepalesischen Bevölkerung vollständig geimpft.

Während die Impfkampagne in den entwickelten Ländern an Fahrt aufgenommen hat und in manchen Ländern bereits die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist, sieht die Situation in vielen Ländern des Globalen Südens wesentlich düsterer aus. In einer Zeit, in der die Impfstoffbeschaffung in fast allen Staaten der Welt oberste Priorität hat, gestaltet es sich für einkommensschwache Länder wie Nepal äußerst schwierig, an Vakzine zu gelangen. Viele Länder sind auf die Gnade der wenigen angewiesen, die die Impfstoffproduktion und -verteilung vollständig kontrollieren.

Während die reichen Länder Vakzine horten, bleibt anderen der Zugang zu lebensrettenden Impfstoffen und Medikamenten verwehrt.

Aktuell, so scheint es, werden die Impfungen weitgehend von geopolitischen Interessen geleitet. Für gefährdete Länder wie Nepal bedeutet das, dass sich Herdenimmunität sehr wahrscheinlich nur über einen steinigen Weg erreichen lässt. Gleichzeitig ist ein solches Szenario in einer globalen Pandemie natürlich eine Katastrophe mit Ansage.

Die internationale Gemeinschaft, deren Kritik an der Impfdiplomatie von Russland und China lauter wird, hat es bislang nicht geschafft, konkrete Lösungen zu präsentieren. Die Blockade der Freigabe von Patenten auf Impfstoffe von Ländern wie Deutschland trägt hier sicherlich auch nicht zu einer schnellen Lösung bei.

Während die reichen Länder Vakzine horten, bleibt anderen der Zugang zu lebensrettenden Impfstoffen und Medikamenten verwehrt. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass sich dadurch die Ungleichheit und die Spaltung der Welt weiter verstärken wird. Durch die Verfolgung geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen werden auf diese Weise viele Menschenleben gefährdet – den Betroffenen wird dies wohl kaum entgehen.

Der Ausweg liegt auf der Hand: konstruktive und entschlossene internationale Zusammenarbeit. Allerdings ist der Zustand der Welt in dieser Hinsicht aktuell nicht besonders vielversprechend, insbesondere angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Konfrontation zwischen den USA und China. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Architekten der Impfpolitik bald realisieren, dass sie aktuell dabei sind, ihren eigenen langfristigen Interessen zu schaden. Gerade jetzt, wo die – erstmals in Indien bestätigte – hochinfektiöse Delta-Variante droht, Europa in neue Lockdowns zu zwingen, scheint das mit weiteren Mutationen verbundene Risiko doch deutlich sichtbar. Der aktuelle Impfnationalismus könnte sich so für uns alle als brandgefährliche Strategie erweisen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert