Die Desintegrationstheorie lehrt uns, dass Desintegration immer in ihrem eigenen Tempo kommt. Anders formuliert heißt das: wenn sie kommt, kommt sie immer sehr schnell, jedenfalls schneller als man denkt. Ein Haus zu bauen, dauert lange, einstürzen kann es binnen Minuten, das ist die bildliche Metapher.
Das europäische Haus – in den Worten Michael Gorbatschows – ein über 60 Jahre aufgebautes Haus der sogenannten Vereinigten Staaten von Europa, die sich indes nie wirklich politisch vereinigt haben, stürzt gerade ein und zwar in einer Geschwindigkeit, die jeden Beobachter geradezu fassungslos macht. Eigentlich nicht verwunderlich, denn stets hat man vergessen, ein solides politisches und demokratisches Dach auf das europäische Haus zu setzen. So konnte es jahrelang hineinregnen und alles ist dabei morsch geworden. „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, sagte damals schon Jacques Delors.
„In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, sagte damals schon Jacques Delors.
Jahrzehnte von europäischer Aufbauarbeit, von Vertragswerken bis hin zu einem Verfassungsversuch, von europäischem Institutionenbau werden derzeit aufgeribbelt wie ein Strickpullover. Jahrzehnte von Städtepartnerschaften, kultureller Verständigungsarbeit und der Arbeit an einer europäischen Identität enden in einem Zerrspiegel von nationalistischen Erzählungen. Jahrzehnte von politischen Ambitionen („ever closer union“), strategischen Plänen (Europäischer Auswärtiger Dienst), von währungspolitischen Realitäten (Euro) oder offenen Grenzen (Schengen) führen derzeit in ein wildes, angstmachendes realpolitisches Chaos: Langsam merken viele, dass dabei etwas Wertvolles verloren geht.
„Wie schlimm steht es um die EU?“, lautet die hier gestellte Frage, die in der gewünschten Kürze wahrscheinlich – unterkomplex und nicht ausdifferenziert in die diversen Wiesos und Warums – nur so zu beantworten ist: sehr schlecht. Nein, eigentlich schlimmer noch: Was jetzt passiert, ist nicht die Erkenntnis – und der öffentliche Schrecken darüber –, dass es um die EU schlecht bestellt ist. Sondern es ist die Erkenntnis, dass wir Europa längst verloren haben, und wir es nur erst jetzt merken. Es ist wie bei privaten Beziehungen: Man merkt es immer erst, wenn es zu spät ist. Wenn man von Scheidung spricht, ist die Liebe längst verloren gegangen. Meistens unwiderruflich. Dann kommen die Schuldzuweisungen, die Vorwürfe. Schuld ist immer der andere.
Es ist die Erkenntnis, dass wir Europa längst verloren haben, und wir es nur erst jetzt merken.
So ist es auch jetzt in Europa. Waren es die Deutschen und ihr europäisches Hegemoniestreben in den letzten Jahren? Das ist die Sicht vieler in Europa, indes nicht die der Deutschen. Waren es die Franzosen, der Schmollmund des französischen „Nein“ beim – längst vergessenen – Verfassungsreferendum von 2005? War es gar schon die uneinige Reaktion Europas damals auf den US-geführten Krieg gegen den Irak, der die Osteuropäer („United we stand“) gegen große Teile Westeuropas, vor allem Deutschland und Frankreich gestellt und einen tiefen Riss verursacht hat? Oder fing alles erst mit den vermeintlich „faulen Griechen“ an? Den Schlendrian-PIIGS in Südeuropa während der Euro-Krise? Völker haben Gedächtnisse, wie Menschen auch; Kränkungen können auch kollektiv sein. Auf Kränkungen reagiert man – meistens unbewusst – aggressiv. Sie brennen sich ein. Da sind wir heute in Europa: ein großes tiefenpsychologisches Zerwürfnis.
Die Flüchtlingskrise war hier wohl nur der letzte Tropfen auf ein bereits übervolles Fass. Und die letzte politische Reaktion – die Abberufung des griechischen Botschafters aus Österreich, ein diplomatischer Vorfall, der eigentlich nur unter „verfeindeten Staaten“ angewandt wird – die letzte manifeste Reaktion einer Tragödie, zu derer aller Zeitzeugen wir jetzt werden. Aus einstürzenden Häusern versucht man heraus zu laufen, um das eigene Leben zu retten. Genau das passiert gerade in Europa. Alle laufen aus dem europäischen Haus heraus. Als könne man sich in die sichere nationale Hütte retten.
Was will man dort tun, ist wohl die eigentliche Frage. Aus dem Fensterchen der nationalen Hütte auf einen europäischen Trümmerhaufen schauen? Teetrinkend, sinnierend womöglich? Das steht Europa wohl bevor. Und damit die Frage, wie man mit diesem europäischen Trümmerhaufen in naher Zukunft umgehen soll: nationale Rollladen herunter lassen und wegschauen? Oder doch den Trümmerhaufen wegräumen, um dann wieder ein neues Haus zu bauen?
Da aber ist Europa noch nicht, und das ist die zweite Tragödie. Denn welches europäische Haus wollen wir bauen beziehungsweise überhaupt: Wollen wir noch einmal eines bauen? Ein anderes? Ein solideres, politischeres, demokratischeres? Und wer baut mit? Wo die europäischen Konturen und der neue europäische Bauplan nicht sichtbar sind, regiert die Zerstörung der europäischen Idee das öffentliche Bewusstsein. Wir tun dies in Missachtung der Tatsache, dass wir alle Europa sind – und wir alle von diesem Kontinent nicht weglaufen können.
19 Leserbriefe
"Ein solideres, politischeres, demokratischeres? ", das ist es, was wir brauchen, weniger Wirtschaft, mehr Soziales! Wieder den Menschen und dessen Wohlergehen in den Vordergrund ruecken. Fangen wir noch/doch mal mit einer gemeinsamen Verfassung an, anstatt uns um die Geschaeftemacherei mit den USA zu kuemmern. Als grundlegende Basis einen gemeinsamen Sozialstaat, gleicher Mindestlohn, gleiche garantierte Grundsicherung (Sozialhilfe oder so), gleiche Einwanderungs- und Asylbedingungen, gemeinsame Verteidgung, keine Kriege
Hierzu sollten die bisherigen EU Mitgliedsstaaten einfache Referenden über Ziel und Wesen dieser Zusammenarbeit abhalten (Freihandelszone vs. Bundesstaat), um für diese "Baustelle" die demokratische Basis zu haben. Wer engagiert mitbauen will ist dann gerne gesehen, wer sich abschotten will darf das auch - draußen.
Strukturen/Institutionen, Prozesse und Inhalte sind dann ein zweiter Schritt, die über politischen, ökonomischen und sozialen Sachverstand gelöst werden müssen.
Aber all das wird vor allem Zeit brauchen und derzeitige EU Strukturen nur sukzessive ablösen.
Verdun vor 100 Jahren - die Kanonen hörte die Großmutter bis an die Mosel. Der Großvater hat Verdun überlebt und erlebte die Deutsch-Französische Freundschaft noch. Zu mir, der Enkelin, sagte er auf dem Krankenbett, bete, dass Frieden herrscht in Europa und engagiere dich dafür.
Das habe ich versucht.
Ich hoffe auf sozialdemokratische deutsche und französische Europapolitiker, die mit uns die Grundfesten des Hauses erneuern: sozialer Frieden und Frieden in der Welt durch eine gemeinsame Entwicklungs- und Außenpolitik.
Seitdem folgen Katastrophen ohne Ende, bis hin zur heutigen Invasion durch hilflose Menschen.
Wären die nötigen Entscheidungen zu einer einer wahren Union rechtzeitig getroffen worden, so stünden die Chancen gut da, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Statt dessen steht die E.U. zerspalten und überfordert.
Wo bleibt "varietate in concordia"?
Die einzige Alternative dazu wäre nach meinem Verständnis: Zurück zur Nationalstaatlichkeit --> unausweichliche Folge: ein gewaltiger gesellschaftlicher Ruck nach rechts. Das aber wäre für mich die blanke gesellschaftliche Katastrophe!!!