Wer eine stabile Friedensordnung in Europa will, muss legitime Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen. Gleichermaßen muss Russland die legitimen Interessen seiner kleineren Nachbarn respektieren. Denn Schritte in Richtung auf eine europäische Friedensordnung sind nur dann realistisch, wenn sie nicht nur den Belangen einiger größerer Staaten, sondern auch denen der meisten kleineren Staaten Rechnung tragen. Da die Erinnerung an Bedrohung und Dominanz in kleineren Staaten in der Regel noch lebendig ist, sind größere Staaten gut beraten, wenn sie mit den historischen Erinnerungen und Narrativen ihrer Nachbarn konstruktiv umgehen. Der vor einigen Jahren ins Leben gerufene Dialog zwischen polnischen und russischen Historikern war ein erfreulicher Schritt in diese Richtung.

Vor diesem Hintergrund hätten sich der Westen im Allgemeinen und die Bundesregierung im Besonderen in den vergangenen Jahren weit mehr um eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland bemühen sollen. Dieses Versäumnis wollte die SPD bei ihrem Regierungseintritt korrigieren: In Anknüpfung an die von ihm entwickelte Modernisierungspartnerschaft plante Außenminister Frank-Walter Steinmeier gleich zu Beginn seiner Amtszeit entsprechende Initiativen. Die kooperative Absicht bleibt dabei auch nach der russischen Annexion der Krim bestehen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass Russland zur Achtung des Völkerrechts zurückkehrt und sich wieder an den spezifischen Normen und Regeln orientiert, die in Europa seit dem Beginn der Entspannungspolitik vereinbart wurden. Die Verletzung dieser in zahlreichen bilateralen und multilateralen Vereinbarungen festgelegten Grundsätze ist ein Angriff auf die Idee einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Es ist diese Friedensordnung, für die Sozialdemokraten immer gekämpft haben. Bestärkt fühlt sich hingegen die europäische und amerikanische Rechte. Das ist nicht weiter verwunderlich, haben sie letztlich doch nie auf die Konzepte klassischer Machtpolitik verzichtet.

Kooperation mit Russland nur in Abstimmung

Ein kooperatives Verhältnis zu Russland, das im deutschen Interesse liegt, kann in dieser Ausgangslage nur in Abstimmung mit den ostmitteleuropäischen Staaten erreicht werden. Andernfalls, würden sich diese aus Sorge vor einer russisch-deutschen Politik über ihre Köpfe hinweg auf die Suche nach Unterstützung aus Westeuropa oder den USA begeben. Fast alle Kritiker der gegenwärtigen Politik Frank-Walter Steinmeiers übersehen diesen Kontext. Insofern sind sie nach wie vor den Denkmustern Bismarcks und des Kalten Krieges verhaftet, als östlich der deutschen Grenzen der russische beziehungsweise sowjetische Faktor dominierte.

Wenn Präsident Putin den Schutz russischer und russisch-sprachiger Minderheiten zum wichtigen außenpolitischen Ziel erklärt und dabei militärische Gewalt nicht ausschließt, dann sehen mehrere russische Nachbarn das mit Recht als Bedrohung ihrer Integrität. Alte Ängste und Erinnerungen werden wach. Diese Sorge ist jedoch nicht Ergebnis westlicher Propaganda und amerikanischen Drucks, sondern Ergebnis russischen Redens und Handelns.

Den meisten russischen Nachbarn erscheint die Sicherheit vor Russland dringlicher als Sicherheit mit Russland.

Sicher, die USA und die EU haben zum Teil schwerwiegende Fehler im Umgang mit Russland begangen. Aber die entscheidende Ursache für die gegenwärtige Krise sind Veränderungen in der russischen Außen- und Europapolitik. Diese haben dazu geführt, dass für die meisten russischen Nachbarn die Sicherheit vor Russland dringlicher erscheint als Sicherheit mit Russland .

Russland hat sich stets gegen eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine gewandt. Die deutsche Politik hat diesen russischen Bedenken insofern Rechnung getragen, als sie sich für entsprechende Verträge mit der EU, nicht aber für eine weitere Osterweiterung der NATO eingesetzt hat. Seit einiger Zeit versucht Russland auch, die geplanten EU-Assoziierungsverträge mit früheren Sowjetrepubliken zu verhindern.

Der russische Politikwechsel

Dies ist Folge eines Politikwechsels: Für Moskau steht nicht mehr der Ausbau vertraglicher Beziehungen mit der EU, sondern ein eigenes Integrationsprojekt, die Zollunion und die Eurasische Union, im Vordergrund. Russland sieht in der EU-Nachbarschaftspolitik daher eine Gefährdung dieser vor allem geostrategisch motivierten Projekte. Die EU wendet sich dabei nicht gegen eine enge Kooperation der Ukraine mit Russland, der Zollunion und der geplanten Eurasischen Union. Im Gegenteil. Doch eine Vollmitgliedschaft in der Zollunion lässt sich nach Auffassung der EU nicht mit den Bestimmungen der Assoziationsverträge vereinbaren.

Deutschland wird sich an einem „Konzert der Mächte“, bei denen größere Staaten über das Schicksal kleinerer Staaten entscheiden, nicht beteiligen.

Die SPD wird sich, sobald die gegenwärtige Krise überwunden ist, erneut für ein kooperatives Verhältnis zwischen der EU, der Zollunion und der geplanten Eurasischen Union einsetzen. Hierzu gehört auch ein möglichst kooperatives Verhältnis zwischen Russland und den künftig mit der EU assoziierten Staaten Georgien, Moldawien und Ukraine.

Die Regierungen dieser Staaten streben seit Jahren eine möglichst enge Beziehung zur EU an. Darin werden sie von einem großen Teil ihrer Bevölkerungen unterstützt. Viele ihrer Bürger sehen in einer EU-Assoziierung dabei sogar nur einen Zwischenschritt zu einer Vollmitgliedschaft. Diese Perspektive verweigert ihnen bisher die EU. Georgien, Moldawien und der Ukraine wegen russischer Einwände eine EU-Assoziierung vorzuenthalten hieße jedoch, die Ziele und Interessen dieser Staaten zu missachten. Eine solche Missachtung der kleineren Nachbarn Russlands ist keine geeignete Grundlage für eine stabile Partnerschaft mit Russland. Deutschland wird die Bereitschaft zur Kooperation mit Russland nur vergrößern können, wenn es gleichzeitig die kleineren Nachbarn Russlands gegen Drohungen und überzogene Kritik in Schutz nimmt.

Eine deutsche Russlandpolitik über die Köpfe der westlichen Nachbarn Russlands und der östlichen Nachbarn Deutschlands hinweg würde alte Ängste wiederbeleben. Zugleich wäre sie Ursache neuer Spannungen. Diese Einsicht gilt heute noch mehr als im Kalten Krieg. Wenn Russland meint, zu einer Großmachtpolitik im Sinne des 19. Jahrhunderts zurückkehren zu wollen, dann wird das 21. Jahrhundert in Europa wieder ein sehr kaltes werden.

Deutschland wird sich daher an einem „Konzert der Mächte“, bei denen größere Staaten über das Schicksal kleinerer Staaten entscheiden, nicht beteiligen. Im Interesse Europas und im Interesse guter deutsch-russischer Beziehungen ist zu hoffen, dass Russland seine Politik wieder an den in den letzten Jahrzehnten vereinbarten europäischen Normen und Regeln orientiert. Dann aber kann und sollte mit ihm intensiv über seinen legitimen Platz in der europäischen Ordnung verhandelt werden.