Zäune, Schlagstöcke, Zurückweisung von Flüchtlingen – was sich derzeit an den europäischen Grenzen anspielt, ist der Geschichte und den Werten Europas unwürdig. Die Innenminister und Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten müssen in dieser Woche zu kohärenten und geordneten Verfahren zurückfinden. Für Deutschland erwarten wir 2015 nunmehr einen Anstieg der Asylbewerberzahlen auf 800 000. Das stellt zweifellos eine große Herausforderung für alle dar, die haupt- oder ehrenamtlich mit dem Thema befasst sind. Es geht um Unterkünfte, Verfahren, Betreuung und immer begleitend dazu um eine Integration in unsere Aufnahmegesellschaft über Spracherwerb, Vereine, Arbeit. Fünf flüchtlingspolitische Empfehlungen:
Dublin-Reform vorziehen
Die überwiegende Zahl der Asylsuchenden kommt über andere europäische Staaten zu uns. Zum Teil wurden sie dort bereits registriert, zum Teil nicht einmal. Dass nur neun Länder der EU 90 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen – Deutschland in absoluten Zahlen die meisten – hat nicht nur etwas mit fehlender Solidarität der europäischen Staaten zu tun. Sondern auch mit den Flüchtlingen selbst, die ziemlich genau wissen, wo sie hinwollen und wohin eben nicht. Und unsere Gerichte geben ihnen vielfach Recht und verhindern Überstellungen etwa nach Griechenland, Italien oder Ungarn, weil die Verhältnisse dort den Anforderungen des europäischen Asylsystems nicht entsprechen. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Rücküberstellung von Syrern zu unseren Nachbarn nun kappt, ist das völlig konsequent, denn hoher Aufwand stand minimalen Erfolgen im gerade mal zweistelligen Prozentbereich entgegen. Die Personalkapazitäten sind für schnellere Entscheidungen also effizienter eingesetzt. Und wir, die wir gerade auch als Innenpolitiker gerne mit markigen Worten für Sicherheit und Ordnung, die verlässliche Anwendung unserer Gesetze und gesellschaftliche Spielregeln eintreten, müssen erkennen: Wenn Regeln keine Akzeptanz haben, lassen sie sich letztlich auch nicht durchsetzen. Zäune und Lager werden das nicht verhindern und werfen noch dazu ein schmähliches Bild auf einen Kontinent, dessen Werte maßgeblich auf Christentum und Aufklärung fußen. Das europäische Asylsystem scheitert. An fehlendem Gleichklang in Europa, an fehlender Solidarität, an fehlenden alternativen Zugangswegen – sei es aus Bürgerkriegen oder für die Aufnahme von Arbeit – oder an der schieren Dimension der Wanderung. Die für 2016 vorgesehene Evaluation des Dublin-Verfahrens muss also dringend vorgezogen werden.
Und, mehr als eine Evaluation braucht es eine Reform, die der Lage angemessen ist. Kooperation macht immer dort Sinn, wo Lösungen von einzelnen alleine nicht ausreichen oder schwerer als gemeinsam erreicht werden können. Migration und Flucht sind kein deutsches oder niederländisches Problem, sondern ein europäisches. In Europa liegt der Schlüssel – für Hilfe und Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, für die Bekämpfung von Schleppern und Menschenhändlern, am Ende der Kette auch für die gerechtere Verteilung der Flüchtlinge. Vor allem müssen die Fluchtursachen, Kriege, Not, Perspektivlosigkeit, entschiedener und mit erheblichen Finanzmitteln bekämpft werden, und nicht die Flüchtlinge. Es geht um die Versorgung und Betreuung in den Flüchtlingslagern der Krisenregionen, um die Stabilisierung von Herkunfts- und Transitländern, die Festigung von Staatlichkeit und den Aufbau institutioneller Strukturen und vor allem um Konfliktlösung.
Zuwanderung als Chance begreifen
Vielfach heißt es, Flucht und Einwanderung müsse man auseinanderhalten. Und natürlich muss und kann differenziert werden. Nach Ursachen, nach Rechtstiteln, nach Zielstellungen. Aber am Ende des Tages geht es um Menschen, die zu uns kommen. Wir sollten nicht wie in den 1960er und 1970er Jahren dem Irrglauben nachhängen, sie würden bald wieder gehen. Also geht es um Integration, oder besser: Zusammenleben in einer bunter werdenden Welt. Das werden auch die Staaten lernen müssen, in denen heute noch über Homogenität schwadroniert wird. Es mag ja sein: Im Sandkasten lernen wir, dass zählt, wer zuerst da ist. Aber irgendwann weitet sich hoffentlich der Horizont und man begreift die anderen Kinder nicht nur als mögliche Konkurrenten, sondern auch als mögliche Kameraden. So geht es heute um unsere künftigen Kollegen, Nachbarn, Freunde. Und die benötigen wir ja sogar, denn der Kontinent altert und schrumpft. Für künftigen Wohlstand und Steuern, gegen den Fachkräftemangel brauchen wir Zuwanderung. Jetzt müssen wir sie so gestalten, dass sich die mit ihr verbundenen Hoffnungen auch einlösen lassen.
Spurwechsel angehen
Für Deutschland bedeutet das, die Trennung zwischen humanitärer und arbeitsmarktbezogener Einwanderung zu überwinden. Wir brauchen alternative Zugangswege, insbesondere für nicht-akademische Berufe. Es macht keinen Sinn, Menschen mit guten Deutschkenntnissen und nachgefragten Qualifikationen durch das Asylverfahren zu jagen. Selbst für abgelehnte Asylbewerber kann es in einem begrenzten Umfang und an strenge Kriterien wie Sprachkompetenzen, Qualifikationsprofil, Integrationsprognosen gebunden eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Arbeit geben. Der Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete wurde zwischenzeitlich nach drei Monaten eröffnet, die Vorrangprüfung nach 15, für bestimmte Berufe nach drei Monaten, abgeschafft. Diese Hürden sind absehbar weiter zu hoch und zu bürokratisch. An eine Evaluation muss sich noch im Herbst eine Überarbeitung dieser Regelungen anschließen.
Mehr Kontingente und neue Verantwortungsteilung für bessere Verfahren
Angesichts der Dimension der Katastrophe in Syrien und dem Irak und der Mühen der Nachbarstaaten Syriens wie beispielsweise der Türkei sind die Anstrengungen Europas blamabel und auch Deutschlands noch vergleichsweise dürftig. Statt die Flüchtlinge den Schleppern in die Hände zu treiben, braucht es ein europäisches Kontingent, in einer ersten Größenordnung von 100.000, außerhalb des Asylverfahrens. Denn lange Verfahrensdauern sind für alle eine Belastung.
Seit 2008 wächst die Zahl der unerledigten Asylanträge ununterbrochen, obwohl es vor 2013 im Vergleich zu heute kaum Flüchtlinge gab. Dreh-und Angelpunkt ist das BAMF. Offensichtlich reichen die zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht aus, die Zielstellungen des Koalitionsvertrags zu erfüllen. Gleichzeitig fehlen aber klare Aussagen, welcher Ressourcen und Maßnahmen es denn bedarf. Kein Vorstand eines Unternehmens würde eine solche fortgesetzte Zielverfehlung dauerhaft hinnehmen, während offensichtlich Doppelarbeiten zwischen BAMF und Bundesländern beispielsweise bei der Registrierung stattfinden und die vor uns liegenden Probleme ja gerade keine Erleichterung versprechen - ganz im Gegenteil. Die Frage einer Verantwortungsteilung ist nicht nur eine finanzielle. Die Zuständigkeit für die Asylverfahren sollte inklusive Erstaufnahme für die Zeit bis zum Entscheid der Verfahren auf den Bund übertragen werden. Die Fragen von Integration und Zusammenleben wären die zentrale Aufgabe für Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft.
Gesellschaftliche Akzeptanz sichern
Die Bevölkerung zeigt eine Hilfsbereitschaft, die anrührt und für die man nur dankbar sein kann. Gleichzeitig sind da viele Fragen: Wie geht es weiter, was kann getan werden, was ist in einem, was in zwei, drei Jahren? Willy Brandt forderte einst mehr Demokratie zu wagen, um die Menschen zur Mitverantwortung und Mitleidenschaft zu gewinnen. Heute beweisen die Menschen genau dies. Sie verdienen es, in die Überlegungen zur Migrationspolitik stärker eingebunden zu werden: Wieviel Zuwanderung braucht Deutschland? Wieviel humanitäres Engagement trauen wir uns zu? Was erwarten wir von denen, die zu uns kommen, was von anderen? Solche Fragen gilt es in einen öffentlichen Dialog zu überführen. Dieser muss relevante gesellschaftliche Gruppen, Experten und Laien einbinden. Seine Aufgaben sind transparente Faktenklärung, Zielbildentwicklung und Handlungsempfehlungen an die Politik. Und das Zusammenleben muss überall eingeübt werden, wo Menschen neu aufeinander treffen, im Wohnblock, im Dorf, in der Stadt. Angelehnt an das Projekt „Wiener Charta“ müssen wir ein Modell „Werte für gutes Zusammenleben“ entwickeln und umsetzen.
9 Leserbriefe
Wenn man einmal bedenkt, wieviel Zeit es gebraucht hat, bis die Flüchtlinge/Vertriebenen nach dem zweiten Weltkrieg integriert waren (als Vertriebenenkind der zweiten Generation weiß ich, wovon ich rede) und wie wenig es bislang gelungen ist, die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschen in den letzten 25 Jahren zuzuschütten und wie erschreckend wenig viele der Kinder und Kindeskinder der Menschen integriert sind, die in den 60er Jahre nach D kamen, dann kann man sich vorstellen, dass die augenblickliche Euphorie schnell in Ernüchterung umschlagen kann, es bildzeitungsmäßig ja auch bereits tut.
Wir brauchen ein Konzept, wie Integration diesmal schneller und erheblich besser funktionieren kann. Und wir sollten dabei unter keinen Umständen die vergessen, die bei den beiden letzten Zu"wanderung"swellen vor 50 und vor 25 Jahren am Rand stehen geblieben sind ...
1. Der gegenwärtig unregulierte und unbegrenzte Zustrom von Flüchtlingen und Migranten.
2. Der Umstand, dass die zu integrierenden Menschen völlig andere Lebensweisen, Kulturen und Wertesysteme haben, die den europäischen teilweise diametral entgegen stehen.
3. Die begrenzte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europas und Deutschlands.
Aus Deutscher Sicht bliebe daher anzumerken: Um die Flüchtlingskrise zu bewältigen, würde es ausreichen, einen Staat Nordafrikas - bevorzugt Algerien - zu einem Flüchtlingseinwanderungsstaat auszubauen. 100 Mrd. € wären eine Summe, die einen Anfang ermöglichte. Um tatsächlich das Land auf einen dem in der EU vergleichbaren Standard zu hieven wären allerdings wahrscheinlich eher 1800 bis 2000 Mrd. € erforderlich.
Allerdings könnte ein grosser Teil dieser Investments in Anlagen zur Erzeugung und Übertragung von erneuerbaren Energien getätigt werden, sodass über einen Zeitraum von einigen Jahrzehnten durch Export von Strom in die EU und andere Länder Afrikas sogar Gewinne erzielt werden könnten, zumindest aber die Tilgung und Zinsen für die Finanzierung dieser in den Aufbau der gesamten Infrastruktur benötigten Investitionen bedient werden könnten.
Ich denke, dass auch die politische Führung Algeriens durch diese Anreize an einer Kooperation interessiert sein könnten, zumal das Land über riesige unerschlossene Gebiete verfügt, in denen Konflikte mit bestehenden Einwohnern marginal wären.
Du hast ja Recht, in diese Richtung müssen wir jetzt arbeiten, und es ist erstaunlich, wieviele Menschen in unserem Land das verstanden haben und mit Engagement und sogar Enthusiasmus den Flüchtlichen das Ankommen, das Leben hier und die Integration ermöglichen und erleichtern.
Aber wir müssen auch ehrlich sein: Bis vor Kurzem war die Regelung, nach der die Staaten in Europa für die Registrierung u n d Aufnahme zuständig waren, in denen die Flüchtliche ankamen, für Deutschland noch eine komfortable Regelung - und auch in unserer Partei nicht ernsthaft kritisiert.
Und auch Frau Merkel, die sich jetzt an die Spitze der "Willkommens-Politik" setzt, hat bis vor einigen Jahren die Haltung ihrer Partei, dass wir kein Einwanderungsland sind, nicht bezweifelt.
Dass die "Kurve, die wir jetzt kratzen", einige aus der Kurve schleudert, haben wir uns auch selber zuzuschreiben. Auch deswegen laufen unsere Maßnahmen jetzt so langsam und verspätet an.
Denke nur an unsere bisherige Weigerung, den Bau von Sozialwohnungen wieder zu beginnen - jetzt tritt das in Konkurrenz zum Errichten von Wohnungen für Flüchtlinge.
Vielen Dank für die klaren Worte. Ich unterstütze Dich voll bei der Umsetzung. Aber mit einer gehörigen Portion Selbstkritik.
schön geredet. Aber wie Ihr Genosse Herr Schäfer schrieb, warum ist Ihre Fraktion nicht schon früher tätig geworden? Und auch jetzt wieder - wie gesagt - nur schöne Worte? Die im übrigen bei einer Vielzahl unserer (normalen, nicht rechtslastigen) Mitbürger wegen ihrer (zugegeben unberechtigten, aber trotzdem vorhandenen) Ängste gar nicht mehr ankommen. Im Schwäbischen sagen viele "Ma sott ..." (= Man sollte ...), nur der "man" hat noch nie etwas getan!
Ist das so?
Merken sie denn nicht, wie viele bei uns hier trotz guten Willens an ihre Grenze kommen.
Dazu noch in vielem Konfrontation mit zwei Religionen, wo jeder für sich seine Wahrheit und Richtigkeit fest verankert hat.
Wenn viele PolitikerInnen weiterhin so naiv bleiben, bieten sie " Rechten " Parteien offene Türen, für all die BundesbürgerInnen, die mit dieser Herausforderung nur schwerlich oder nicht mehr zurecht kommen.
Oder täusche ich mich da? ......
Manfred Fischer