Die demokratischen Spielräume für erwerbstätige Menschen schließen sich weltweit. Der Globale Rechtsindex  des Internationalen Gewerkschaftsbundes zeichnet ein düsteres Bild: Arbeiterinnen und Arbeiter geraten doppelt unter Druck. Einerseits verlangt ein exzessiv wütender Finanzkapitalismus immer höhere Renditen, was zu einem regelrechten Ausquetschen von Unternehmen führt und auf dem Rücken von Beschäftigten ausgetragen wird. Die Folge: prekäre Arbeitsverhältnisse, ein ausgeweiteter informeller Sektor, Lohndruck und schlechtere Sicherheit am Arbeitsplatz. Andererseits werden, von Industrie- und Handelskammern gefordert, Tarifsysteme geschliffen, das Streikrecht eingeschränkt, Finanzquellen von Gewerkschaften ausgetrocknet und die Gründung von Gewerkschaften erschwert.

Dies passt in die Agenda autokratischer und nationalistischer Kräfte, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit aushöhlen und sich der lästigen Gewerkschaften entledigen wollen.  Fügt man hierzu noch das Damoklesschwert der massiven Arbeitsplatzverluste durch Automatisierung und Digitalisierung hinzu, ist das Einschüchterungsinstrumentarium beeindruckend. Nicht umsonst redet die Weltbank in ihren Vorstellungen zur Zukunft der Arbeit  einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit geringeren Mindestlöhnen das Wort. Der digitale Tagelöhner passt den reichsten Ein-Prozent und all jenen ins Konzept, die sich eine gefügsame, atomisierte Arbeitnehmerschaft wünschen.

In einer Welt, deren Wirtschaftssystem zunehmend Exklusion und Ungleichheit produziert und die Lebensgrundlagen der Menschheit vernichtet, ist die Arbeiterbewegung womöglich die letzte Kraft, gesellschaftlichen Zusammenhalt auch über nationale Grenzen hinweg aufrecht zu erhalten. Das ist viel verlangt von einer Bewegung, deren Mitgliedschaften vielerorts zurückgehen, deren politischer Einfluss schwindet und die nicht frei ist von kurzfristigem Transaktionismus und Paternalismus. Dennoch gelingt es Gewerkschaften, ihrerseits Machtressourcen zu mobilisieren und inklusive Solidarität zu schaffen. Wir erleben dies auf mindestens drei Ebenen:

Erstens, hat die Gewerkschaftsbewegung das alte Diktum, nach dem nur Gewerkschafter ist, wer im formellen Sektor beschäftigt und einen fixen Anteil des Lohns an Mitgliedsbeiträgen zahlen kann, überwunden. Nicht nur sind informell Beschäftigte schon längst in der Mehrzahl. Konträr zu landläufigen Meinungen sind sie sehr wohl organisiert, nur eben in anderen Organisationsformen. Spannend ist, wie Gewerkschaften in Indien, Uganda, Nigeria und Südkorea die Kluft zwischen formell und informell Beschäftigten überwunden, neuartige Interessenvertretungen erschaffen, kollektive Regelungen erstritten und damit die eigenen Mitgliedszahlen zum Teil dramatisch erhöht haben. Aber auch im Globalen Norden wird die Spaltung  vielerorts überwunden, und die Frage, wer ein Arbeiter, eine Arbeiterin ist, neu und inklusiv beantwortet. Davon profitieren beispielsweise Hausangestellte, Kurierfahrer oder Zeitarbeiter, sowohl materiell als auch durch neu erlangte Würde, Akzeptanz und Zugehörigkeit.

Zweitens ist transnationale Solidarität schon lange kein Begriff linker Träumer mehr, sondern gelebte Realität der Gewerkschaftsbewegung. Langfristig konzipierte Netzwerkbildung in multinationalen Unternehmen, oftmals von den Globalen Gewerkschaftsföderationen strategisch begleitet, haben spektakuläre Erfolge bei offen gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen wie Walmart, Amazon, Pepsi und jüngst Ryanair ermöglicht. Noch vor kurzer Zeit wäre es unvorstellbar gewesen, dass diese Unternehmen Gewerkschaften anerkennen und Tarifverträge verhandeln.

Jeweilige Interessen formulieren und akzeptieren, geduldig agieren, kulturelle Differenzen überschreiten und strategische Einfallstore durch Organisieren und Kampagnen nutzen, gehören zu den Erfolgsrezepten grenzüberschreitenden Aufbaus von Gewerkschaftsmacht. Beschäftigte, die diese Solidarität erleben, definieren das „Wir“ nie mehr nur rein unternehmensbezogen oder national.

Drittens erweitern Gewerkschaften Mitgestaltungsräume. Immer häufiger erkennen sie, dass sie nur dann eine Chance haben, wenn sie demokratischer und partizipativer werden. Dazu gehört eine aktive Gleichstellungspolitik, Geschlechterquoten oder –parität, Förderung von jungen und prekär Beschäftigten, Mentorenprogramme, die Inklusion von LGBTIQ. Mit dieser Öffnung zu allen arbeitenden Menschen erweitert sich die Agenda von Gewerkschaften. Interessenvertretung jenseits des Arbeitsplatzes, ein aktiver Bezug zur Gemeinschaft, und Allianzen mit beispielsweise der Frauen- oder Umweltbewegung geben dem „Gemeinsam sind wir stark“ neue Bedeutung. Wenn dazu die Willensbildung nicht mehr in Hinterstübchen und Exklusivgremien sondern mithilfe von Mitgliederbefragungen und digitalen Kommunikationsforen erfolgt, erhöht sich die Beteiligung und Identifikation mit der eigenen Organisation. Auf dieser Grundlage aktivierter Mitglieder können Kampagnen geplant, Auseinandersetzungen mit der Arbeitgeberseite geführt, Streiks durchgehalten werden. Gewerkschaften werden so Orte gemeinsamen Handelns und entfalten ihre Organisationsmacht. Streikende Erzieher und Metallerinnen wissen, welche Kraft in solidarischem Wirken und im Arbeitskampf stecken.

Kollektives Handeln und Solidarität ist in fast allen (Konflikt-)Situationen möglich, und Gewerkschaften werden besser darin, ihre Organisationsmacht zu mobilisieren. Sie brauchen dazu aber auch institutionelle Unterstützung und Spielregeln, die ihr Handeln ermöglichen. Und so wird weiterhin eine Hauptaufgabe darin liegen, das Vereinigungs-und Streikrecht zu verteidigen, Mitbestimmungsrechte zu erweitern und neue Regelungen zur Sorgfaltspflicht von multinationalen Unternehmen zu schaffen. Dies gilt umso mehr, da das Wettbewerbsrecht sowie das Investitions- und Handelsregime der zukünftigen digitalen Wirtschaft jetzt ausgehandelt werden. Damit dies im Interesse der arbeitenden Menschen geschieht, kommen Gewerkschaften nicht umhin, ihre gesellschaftliche Macht zu mobilisieren: Gerechtigkeitsvorstellungen für die neue Wirtschaft gilt es zu formulieren, und neue Allianzen aufzubauen. Nur mit den Beschäftigten ist menschenwürdige Arbeit auch im digitalen, post-fossilen Kapitalismus möglich und kann eine sozial-ökologische Transformation gelingen.