Lateinamerika
Das Amazonasbecken gilt als die „grüne Lunge“ der Erde. Der gewaltige Regenwald ist von weltweiter Bedeutung für unser klimatisches Gleichgewicht. Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Mexiko und Peru gehören zu den zehn Ländern mit der höchsten Biodiversität weltweit. Doch Lateinamerika zählt auch zu den verletzlichsten Regionen in Bezug auf den Klimawandel. Ein Anstieg der Durchschnittstemperatur von mehr als 2°C kann die Ökosysteme massiv aus dem Gleichgewicht bringen und die hohe Biodiversität gefährden. Ungeachtet dessen werden immer größere Waldflächen durch Brandrodungen, Holzgewinnung und Rohstoffabbau vernichtet.
In Lateinamerika beobachten wir bereits ein Zukunftsszenarium des Klimawandels: soziale Verwerfungen, die durch Klima- und Umweltveränderungen verstärkt werden. Scheinbar kleinere lokale Umweltkonflikte sind Vorzeichen der deutlichen Verschärfung von Verteilungskonflikten.
Lateinamerikas heutiges Wirtschafts- und Entwicklungsmodell fußt auf der Nutzung und Ausbeutung der eigenen Rohstoffe. Die stetig größere Weltmarktnachfrage nach mineralischen, fossilen und agrarischen Rohstoffen führt dazu, dass der Rohstoffabbau in den meisten Ländern zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor wurde. Damit einher gehen massive Umweltzerstörungen, wovon nur die spektakulärsten wie die Brände in Amazonien, das Gletscherschmelzen in Patagonien oder Dammbrüche mit hoher Todesfolge in den europäischen Medien erwähnt werden.
In Lateinamerika beobachten wir bereits ein Zukunftsszenarium des Klimawandels: soziale Verwerfungen, die durch Klima- und Umweltveränderungen verstärkt werden.
Die vielen ökologischen Konflikte in Lateinamerika sind fast immer auch soziale Konflikte, denn die ersten, die unter der Umweltzerstörung sowie der Aneignung von Land leiden, sind die Armen und die indigene Bevölkerung. In der Regel profitieren Großproduzenten von diesen Entwicklungen wie die staatlichen lateinamerikanischen Erdölkonzerne Petróleos de Venezuela, PEMEX aus Mexiko und der brasilianische Konzern Petrobrás, aber auch ausländische Konzerne aus dem Bergbau- und Erdölbereich.
Das ökologische Bewusstsein ist in Lateinamerika in erster Linie nicht bei der urbanen Mittelschicht verankert, sondern aufgrund der beschriebenen Interessenskonflikte bei der ländlichen und indigenen Bevölkerung. Und es existierte bereits vor der europäischen Umweltbewegung als präkolumbianisches Vermächtnis von der Einheit von Natur und Mensch. Der politische Kampf um die Umwelt und für Gerechtigkeit findet heute in Lateinamerika punktuell und lokal statt. Die einzelnen Umwelt-Initiativen sind nicht in dem Maße strategisch verbunden, um als größere regionale Stimme oder politische Kraft in Erscheinung zu treten. Grüne Parteien wie in Europa sind in Lateinamerika ohne Bedeutung.
Im September und Oktober sind auch vermehrt in Lateinamerika junge Klimaschutz-Bewegte auf die Straßen gegangen, um von ihren Regierungen mehr Klimaschutz einzufordern. Im Vergleich zu Europa sind es eher wenige. Die Dringlichkeit der sozialen Not lässt Umweltfragen in der Region häufig in den Hintergrund treten beziehungsweise gibt ihnen eine andere Gewichtung. Hätte der UN-Klimagipfel in Chile stattgefunden, wäre Greta Thunberg emissionsfrei von den USA nach Chile gereist, hätte sie helfen können, das mediale Augenmerk auf Lateinamerikas Umweltprobleme zu richten. Die Konfrontation mit den enormen sozialen Problemen Lateinamerikas hätte vielleicht auch ihr Verständnis erweitert, dass ökologische Gerechtigkeit weitaus umfassender ist als die Erreichung der Klimaziele des Pariser Abkommens.
Es gibt aktuell ein Momentum in der lateinamerikanischen Politik, das der Idee Auftrieb geben könnte, sozio-ökonomische und ökologische Fragen gemeinsam zu denken und anzugehen. Lateinamerika ist politisch und sozial in Aufruhr. In Chile, Guatemala, Honduras, Peru, Ecuador, Bolivien, Kolumbien: Überall gibt es massive Proteste. Eine sehr große Anzahl an Bürgerinnen und Bürgern sind in höchstem Maße unzufrieden und überzeugt, dass die regulären institutionellen und repräsentativen Kanäle ihrer Demokratien nicht ausreichen, um ihrem Unmut effektiven (Aus-)Druck zu verleihen. Es sei hier auch angemerkt, dass die großen politischen Korruptionsfälle der letzten Jahre teils direkt mit dem extraktivistischen Wirtschaftsmodell verbunden waren.
Das Entwicklungsmodell sollte aus sozialen und aus ökologischen Gründen angepasst werden.
Dringlichkeit im politischen Handeln ist geboten. Das Entwicklungsmodell sollte aus sozialen und aus ökologischen Gründen angepasst werden. Der Aufbau lokaler Wertschöpfungsketten und qualifizierter Arbeitsplätze ist dabei unverzichtbar. Neben ökonomischen Visionen ist echte Repräsentativität gefragt. Die ökonomische Elite und die städtischen Mittelschichten Lateinamerikas werden ihren Wohlstand teilen und ihre Privilegien demokratisch abtreten müssen. Minderheitenrechte müssen von der Mehrheit geschützt werden. Demokratische und partizipatorische Einbindung auf lokaler Ebene, Umweltbildung, Beteiligung anderer sozialer Akteure wie Gewerkschaften beim Thema Kohleausstieg, verbindliche Konsultationsprozesse mit der indigenen Bevölkerung bei wirtschaftlichen Großvorhaben und deutlich größere Wiederaufforstungsprogramme sind notwendige Maßnahmen.
Auch würde Lateinamerika von einer Transition zu Erneuerbaren Energien profitieren. Ein Großteil der Energie wird aus fossilen Quellen und großen Wasserkraftwerken gewonnen. Aufgrund der Wasserkraft – die wegen großer Staudammprojekte umstritten ist – liegt der Anteil von Erneuerbaren Energien bei 52,4 Prozent. Wind- und Solarenergie sind gewachsen, allerdings bescheiden – trotz optimaler natürlicher Voraussetzungen für die Stromerzeugung durch Sonne oder Wind –, aber die Ziele sind in einigen Ländern ambitionierter als in der Vergangenheit. Die kleinen Länder Uruguay und Costa Rica sind Vorreiter bei den Erneuerbaren. In Uruguay kommen mittlerweile 98 Prozent der Energie aus Quellen erneuerbarer Energie, Windenergie hat enorm aufgeholt. In Costa Rica besteht der Mix aus Wasserkraft, Biomasse und Wind.
Brasilien und Mexiko sind die mit Abstand größten Energiekonsumenten. Beide Länder zusammen vereinen circa 57 Prozent des Energieverbrauchs der Region auf sich und belegen regelmäßig die Plätze 12 und 13 auf der Liste der weltweit größten CO2-Emittenten. Der Energieverbrauch der Region wird laut der Interamerikanischen Entwicklungsbank bis 2040 um mehr als 80 Prozent steigen. Um die in Paris verabschiedeten Klimaziele zu erreichen, müssen also vor allem die größten Volkswirtschaften der Region ihre Ambitionen in Sachen Klimaschutz deutlich erhöhen.
Die Ausrichtung einer COP in Lateinamerika hätte global eine gute Chance geboten, die Umweltprobleme des Kontinents in Verbindung mit ihrer sozialen Dimension sichtbar zu machen. Nun werden sich viele Aktivisten anderweitig Gehör verschaffen müssen. Aber es sind vor allem die Vertreter und Vertreterinnen der lateinamerikanischen Regierungen gefragt, die umdenken müssen.
Aus Lateinamerika berichtet Svenja Blanke
Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika
Mohammed bin Salman, Kronprinz und stellvertretender Premierminister Saudi-Arabiens, rechnet mit Einkünften durch Ölförderung und Ölexport für Saudi-Arabien bis zum Jahr 2200. Während man in Deutschland über den Kohleausstieg im Jahr 2035 oder 2038 streitet, werden die Förderpraktiken in den Golf-Staaten weiter optimiert, so dass die Produktion in den zahlreich vorhandenen Ölfeldern Saudi-Arabiens immer günstiger wird und derzeit bei 2,80 US-Dollar pro Barrel liegt. Das Wohlstandsmodell vieler arabischer Staaten basiert auf der Förderung von CO2-haltigen Rohstoffen, weswegen viele Regierungen nicht am Aufhalten des Klimawandels oder gar der Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes interessiert sind. Mehr als die Hälfte aller weltweiten Ölvorkommen liegen in den Golfstaaten. Diese Staaten werden seit Beginn des lukrativen Ölexports in den 70er Jahren stabil und wirtschaftlich erfolgreich von autoritären Monarchen geführt.
Die Golfstaaten und deren Nachbarn Algerien, Libyen und Iran haben zwar das Pariser Abkommen unterschrieben, sind allerdings nicht an seiner schnellen Umsetzung interessiert. Deutlich wurde dies im Sommer, als Saudi-Arabien in der Allianz mit anderen ölproduzierenden Ländern dafür sorgte, dass der Bericht des unabhängigen Expertengremiums IPCC im UN-Abschlussbericht nicht genannt wurde. Der IPCC-Bericht empfiehlt der Staatengemeinschaft den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, um große Katastrophen für Mensch und Natur zu vermeiden. Saudi-Arabien hingegen legt ein Ambitionsniveau an den Tag, mit dem sich die Erde um 4 Grad Celsius erwärmen würde, würden alle Staaten ähnlich unangestrengt ihre Emissionen reduzieren. Das ist das eine Gesicht der arabischen Welt.
Zahlreicher, allerdings ökonomisch unbedeutend sind die rohstoffarmen Länder in der arabischen Liga. Jordanien, Tunesien, Marokko, Palästina, Libanon – diese Länder sind von Importen für ihre Energienachfrage abhängig und daher an einer Reduzierung von Treibhausgasemissionen sehr viel eher interessiert. Außerdem leiden sie unter den Auswirkungen des Klimawandels bereits erheblich, sei es aufgrund fehlender Einkünfte in der Landwirtschaft wegen Trockenheit, zusätzlich zum ohnehin bestehenden Wassermangel, oder aufgrund von Schäden durch Starkregen und Schlammfluten. Die Länder haben ihre Nationalen Klimaschutzbeiträge (NDCs) bei beim UNFCCC eingereicht wie von ihnen erwartet und ausgerechnet, welches Finanzvolumen sie von Entwicklungsbanken oder der Gebergemeinschaft bräuchten und was sie selbst zuschießen können, um die Reduktionsziele zu erreichen.
Das Wohlstandsmodell vieler arabischer Staaten basiert auf der Förderung von CO2-haltigen Rohstoffen, weswegen viele Regierungen nicht am Aufhalten des Klimawandels interessiert sind.
Interessant ist nun, dass die Region bei den Weltklimakonferenzen trotz aller Unterschiede gemeinsam auftritt – und nichts anderes sollte man für die kommenden Tage in Madrid erwarten. Immer schon führt Saudi-Arabien bei den Klimakonferenzen die Arabische Liga an. Andere arabische Regierungen verstecken sich hinter der 20-köpfigen und kompetenten Delegation des drittgrößten Ölexporteurs der Welt. Rohstoffarme Länder wie Jordanien, Libanon oder Tunesien sind von den Finanzspritzen des Ölriesen abhängig und wollen auf der internationalen Bühne keine Risse in der Liga riskieren. „Die Saudis haben uns gestern alle zum Empfang mit üppigem Dinner eingeladen. Da möchten wir heute, wenn Saudi-Arabien um Kompensationszahlungen für Verluste bei künftigen Öl-Einkünften bittet, unseren Nachbarn nicht in den Rücken fallen, sondern werden sie stärken”, erklärt Bilal, Sprecher der jordanischen Delegation auf dem COP-Gelände.
Die COP 25 könnte erstmals anders aussehen: Die Arabische Liga wird überraschend von Ägypten angeführt, wobei Saudi-Arabien eine andere Koalition eingeht, mit Staaten wie Russland, den USA sowie – zur Überraschung vieler – Iran.
Auch die arabische „Non-Party“-Delegation spielt dieses Jahr in einer anderen Liga: jünger, weiblicher und strategischer. Die Delegation, bestehend aus NGOs, Jugend, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Arabischen Welt, ist vorbereitet. „Climate Action Network Arab World“ grenzt als regionaler Dachverband für über 100 Klima-NGOs an sich schon an ein Wunder: In einer beinahe demokratielosen Region etablierte das Netzwerk demokratische Strukturen über mehr als 10 Ländergrenzen hinweg und wählte im Juli einen radikalen Vorstand. Hala und ihre Verbündeten haben sich auf Madrid vorbereitet. Sie werden dort auf Podiumsdiskussionen sprechen, Flyer verteilen und ihren Umweltministern auf Augenhöhe begegnen. Sie weisen auf die Auswirkungen des Klimawandels in der Arabischen Region hin und fordern den schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien. Ihr Referenzpunkt ist Marokko, das laut dem Climate Change Performance Index (CCPI) von 2019 den zweiten Rang von 56 verglichenen Ländern weltweit hinsichtlich seiner Klimaschutzmaßnahmen erreicht hat. Marokko ist auch eines der wenigen Länder, dessen Ambitionsniveau die 1,5 Grad Erderwärmung einhalten würde.
Auch die arabische „Non-Party“-Delegation spielt dieses Jahr in einer anderen Liga: jünger, weiblicher und strategischer.
Klimaschutz wird nicht an der Zahl der Fridays For Future-Proteste gemessen, sondern am Anteil der Erneuerbaren Energien. Trotzdem hat Greta Thunberg Veränderungen bewirkt. Statt in Demonstrationen drückt sich das hier anders aus: Junge Araber wollen die Energiewende, die Möglichkeiten zum Ausbau der Erneuerbaren Energien, die Speichermöglichkeiten verstehen, um den herrschenden Eliten etwas entgegensetzen zu können. Gretas Ansporn drückt sich hier in Wissensdurst, Expertise und technischen Diskussionen aus. Die arabische Jugenddelegation hat ihre Vision der Energiewende in der MENA-Region verschriftlicht und wird diese in Madrid vortragen.
Aus der Region Naher und Mittlerer Osten berichtet Franziska Wehinger