Im Jahre 1996 prägte Samuel P. Huntington mit seinem Buch „The Clash of Civilizations“ die außen- und sicherheitspolitische Debatte nach dem Ende des Kalten Krieges. Seine These vom Kampf der Kulturen klingt auf den ersten Blick verführerisch. Sie erklärt die Welt anhand von Kulturkreisen, die dem Suchenden Halt in einer unsicher werdenden Welt bieten. Diese „festgeschriebenen“ Kulturkreise wiederum dienen ihm dazu, bestehende oder heraufziehende Konflikte zu erklären.

19 Jahre später könnte diese kulturelle Schablone noch immer die derzeit multipolare Weltordnung erklären und regionale Konfliktherde auf einen einfachen Ursprung bringen. Beispiele gäbe es genug: Ein augenscheinlich aufziehender Hindunationalismus auf dem indischen Subkontinent; die Lateinisierung der Vereinigten Staaten; die Instabilität der islamischen Welt mit ihrem Terrorismus-Potential; das Heraufbeschwören „asiatischer Werte“; die Konfrontation in der Ukraine basierend auf einer Ost-West-Spaltung, und natürlich geopolitisch begründete Freihandelsabkommen zur Festigung regional und kulturell bestehender Vormachtstellung.

Doch sind die Konfliktherde wirklich so einfach anhand eines Einteilungsmerkmals erklärt? Der in Indien geborene Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen widersprach schon 2006 in seinem Buch „Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“, und die Debatte ist heute aktueller denn je. Menschen jeweils nur einer einzigen Identität zuzuschreiben ist falsch. Aus seiner Sicht gibt es keinen Krieg der Kulturen. Auf dieser exklusiven Zuschreibung basiere vielmehr die Ideologie von Fundamentalisten. Denn mit einer solitaristischen Deutung wird man mit ziemlicher Sicherheit fast jeden Menschen auf dieser Welt missverstehen. Wir sind vielmehr Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen. Oder mit den Worten von Amartya Sen: „Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt (...).“ Bleibt nur die Frage offen, ob Grand Old Party oder Democrats. Aber das nur am Rande.

Die Verkürzung des Menschen auf ein alleiniges Einteilungsmerkmal schürt Konflikte. Die Chance auf Frieden in der heutigen Welt könnte aber nach Amartya Sen sehr wohl davon abhängen, dass „wir die Pluralität unserer Zugehörigkeiten erkennen und anerkennen und dass wir als gemeinsame Bewohner einer großen Welt von der Vernunft Gebrauch machen, statt uns gegenseitig unverrückbar in enge Schubladen zu stecken.“ 

Gerade die oberflächige Zuschreibung als Hindu-Nation verkennt die mehr als 150 Millionen Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens in Indien, die über Jahrhunderte die indische Kultur und Geschichte mitgeprägt haben. Besonders der Großmogul Jalaluddin Muhammed Akbar war im 16. Jahrhundert ein Vorbild an Toleranz und Vielfalt. Bemerkenswert sind auch die Erkenntnisse der frühen indischen Mathematiker, die in zwei Schritten den Weg nach Europa erreichten und eine Bereicherung für Europa waren und sind. Denn wer weiß schon, dass der trigonometrische Begriff "Sinus" aus dem Sanskrit kommt. Wie anmaßend war da doch das imperial angehauchte Buch „The History of British India“ von James Mill über die Geschichte Indiens. Ein damaliges Standardwerk für die britischen Beamten, das den "Hindus" einen allgemeinen Hang zu Arglist und Verrat unterstellte. Wobei anzumerken ist, dass Mill Indien weder bereist hatte, noch eine indische Sprache sprach. 

Das mit vielen Vergleichen aus Alt- und Neuzeit angereicherte Buch von Amartya Sen durchzieht ein roter Faden: Wie werden Menschen gesehen? Soll man sie einstufen nach althergebrachten Traditionen, speziell der überkommenen Religion der Gemeinschaft, in die sie zufällig hineingeboren wurden, und soll diese ungewählte Identität automatisch Vorrang haben vor anderen Zugehörigkeiten nach politischer Einstellung, Beruf, Klasse, Geschlecht, Sprache, Literatur oder sozialen Engagements? Oder soll man sie begreifen als Menschen mit vielen Zugehörigkeiten und Verbindungen, über deren Prioritäten sie selbst entscheiden?

Diese Frage ist aktueller denn je. Beim Lesen wird dem Leser dabei die wahre Komplexität und Mehrdimensionalität von vergangenen und bestehenden Konflikten immer wieder vor Augen geführt. Gerade auch im Hinblick auf die Kultivierung der Gewalt derjenigen, die Verfolgung und Gemetzel geschickt befehligen und damit die Illusion der singulären Identität für ihre gewalttätigen Absichten instrumentalisieren.