Die AfD droht angesichts der hohen Inflation und insbesondere wegen der rapide steigenden Energiepreise mit einem „heißen Herbst“ und versucht aktiv, auch linke Proteste zu vereinnahmen. Bisher verfängt die Querfrontstrategie zum Glück kaum, auch weil es der Bundesregierung zu gelingen scheint, auf legitime Forderungen nach Unterstützungsmaßnahmen sozial gerechte Antworten zu finden. Allerdings wird das die AfD und ihre Unterstützer kaum befrieden, denn für sie sind Protest und Opferstatus Teil ihrer Identität. Die Anlässe sind beliebig, sie sind Mittel zum Zweck der Untergrabung der demokratischen Institutionen. Die von völkischen Hetzern wie Björn „Bernd“ Höcke herbeigesehnten „Weimarer Verhältnisse“ einer zwischen extremistischen Angriffen von links und rechts zusammenbrechenden demokratischen Regierung sind auch Gegenstand der kürzlich erschienenen Graphic Novel Nacht in Berlin, die in den frühen, wilden, „goldenen“ 1920er-Jahren spielt, und in der Friedrich Ebert als Präsident der ersten deutschen Demokratie zwei wichtige Auftritte hat. Die Spanier Juan Días Canales und Rubén Pellejero haben ein vielschichtiges, spannendes Abenteuer vorgelegt, das auch als Lehrstück für die Gegenwart gelesen werden kann.
Der Protagonist, Corto Maltese, lässiger und melancholischer Kapitän ohne Schiff, ist ein klassischer Antiheld, der immer wieder gezwungen ist, sich trotz seiner vorgeblich rein egoistischen Interessen moralisch und auch politisch zu positionieren, und der sich dann regelmäßig als Humanist erweist – allerdings mit komplexen Grautönen. Schon sein erstes Abenteuer berührte Ereignisse der deutschen Geschichte. In der Südseeballade, der wohl berühmtesten Graphic Novel avant la lettre – ab 1967 zuerst in Fortsetzungen erschienen und erst später als Buch –, ließ sein Schöpfer, der 1995 verstorbene Italiener Hugo Pratt, Corto als Piraten im Pazifik für die deutsche Marine im Ersten Weltkrieg Kohle und Lebensmittel beschaffen. Pratts Nachfolger setzen Cortos Abenteuer seit 2015 kongenial im Stil des Meisters fort.
Für Pratt waren authentische historische Kontexte genauso wichtig wie mystische Bezüge. Jede Geschichte steht für sich, die wenigen, gelegentlich wiederkehrenden Figuren werden für neue Leser stets eingeführt. In Berlin ist dies Cortos Freund Jeremiah Steiner – wahrscheinlich angelehnt an Rudolf Steiner –, dessen Foto er zufällig auf einer Polizeistation entdeckt. Steiner ist nicht zur Fahndung ausgeschrieben, sondern tot. Die Suche nach den Hintergründen von Steiners Tod und nach seinen Mördern verstrickt Corto nicht nur in die Jagd nach einer wertvollen Tarot-Karte, sondern auch in die Aufdeckung einer politischen Verschwörung des nationalistisch-rechtsextremen Geheimbunds Organisation Consul.
Die Geschichte spielt 1924, zwei Jahre nach dem Mord an Walter Rathenau, inmitten der Wirren der beginnenden „Weimarer Verhältnisse“.
Die Geschichte spielt 1924, zwei Jahre nach dem Mord an Walter Rathenau, inmitten der Wirren der beginnenden „Weimarer Verhältnisse“. In Begleitung seines Freundes, des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth, streift Corto nicht nur durch das sagenumwobene Berliner Nachtleben mit seinen schillernden Gestalten, sondern besucht auch eine Rede des Präsidenten Friedrich Ebert, der hier zwar nicht sein bekanntes Diktum „Demokratie braucht Demokraten“ verwendet, aber explizit den „Geist von Weimar“ beschwört, um in Deutschland eine starke Demokratie zu verankern. Wie nah Zeichner Pellejero am künstlerischen Stil Pratts ist, sieht man an dem grafischen Kniff, Roths quasi-soziologische Beobachtung, dass in der modernen Gesellschaft alle „Teil der Masse“ seien, dadurch zu illustrieren, dass man nur noch die ununterscheidbaren Regenschirme der Zuhörer Eberts von oben sieht. Corto unterstreicht seine lapidare Antwort – „Ach was“ – mit dem entschlossenen Zuklappen seines Regenschirms und ist dadurch sofort wieder als Individuum sichtbar.
Der Regenschirm kommt unmittelbar danach zum Einsatz, um einen Angriff von Nazis abzuwehren, die die Rede mit Gewalt stören. Action gehört genauso zu den Zutaten einer Corto-Geschichte wie die Suche nach Gold oder einem anderen Schatz, die Lösung eines mystischen Rätsels, rätselhafte Ereignisse und Verwechslungen sowie eine Prise Romantik und subtil angedeutete Erotik. Auch meist selbstironischer Humor gehört dazu. Auf die aggressive Frage eines antisemitischen Polizeibeamten, „Sind Sie Jude?“, antwortet Corto zu dessen Verblüffung: „Nur samstags. Und Sie?“
Die Hintergründe des politischen Mords an Außenminister Rathenau sind der historische Kern der Geschichte, wobei es den Autoren nicht um völlige Authentizität geht. Corto folgt der Spur der Tarot-Karte nach Prag, wo zugleich Filmaufnahmen eines Ufa-Teams stattfinden. Hier kommt ein schwarz-weißer, expressionistischer Stil zum Einsatz, was hervorragend als Zeitgeistkolorit passt. Natürlich soll hier nicht verraten werden, wie die Geschichte endet und welche Rolle Friedrich Ebert dabei spielt, der einen zweiten Auftritt hat – im damaligen Obdachlosenheim Wiesenburg im Berliner Wedding. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür und trotz einiger Übersetzungsfehler, die hier und da den Lesefluss stören, eignet sich der Band hervorragend als Geschenk, nicht nur für Fans der Serie Babylon Berlin, die atmosphärisch ähnlich ist. Gesagt sei nur, dass Nacht in Berlin eine Warnung und Ermahnung ist, dass Demokratien wehrhaft sein müssen, wenn sie gegen ihre Feinde bestehen wollen.