Die Fragen stellte Alexander Isele.
Mit dem Generalstreik am Montag hat der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut den Druck auf Netanjahu erhöht, um ihn zu Verhandlungen über die Freilassung der verbleibenden Geiseln zu bewegen. Was sind Ihre Forderungen?
Die Hauptforderung, die wir mit unserem Solidaritätsstreik verbinden, ist eindeutig: Holt die Geiseln nach Hause! Die Regierung tut nicht genug, um die am 7. Oktober verschleppten Menschen zu befreien. Vom ersten Tag an stand die Histadrut an der Seite der Geisel-Angehörigen. Die Befreiung der Menschen, die in den Tunneln im Gazastreifen gefangen gehalten werden, wird ein Schritt auf dem Weg zur Beendigung des Krieges sein. Das ist eine moralische und für die Wiederherstellung unseres Landes zentrale Frage. Menschenleben zu retten, ist nicht nur für die Histadrut, sondern auch für unsere Religion, Gesellschaft und Nation essenziell. Wir können die Sicherheitsdefizite nicht ignorieren und dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass das Bildungswesen und die Wirtschaft alleingelassen werden. Welcher Schaden dadurch angerichtet wird, erleben wir überall im Land. Die ohnehin schon schlimme Lage in Israel verschlimmert sich immer weiter. „Im Stich gelassen“ ist das entscheidende Stichwort. Welcher Schaden dadurch angerichtet wird, sehen wir in allen Bereichen. Die Geiseln werden ebenso im Stich gelassen wie die gewaltsam aus ihren Häusern vertriebenen Israelis, die Sicherheit, das Bildungssystem und die Wirtschaft. Wir haben die Pflicht, so zu handeln, weil der Staat Israel uns am Herzen liegt.
Die Regierung verurteilte den Streik. Laut Gerichtsbeschluss musste er am frühen Nachmittag beendet werden. Warum übernehmen die Gewerkschaften bei den Bemühungen, Druck auf die Regierung zu machen, eine so aktive Rolle?
Die Geiselfrage steht im Zentrum der Probleme, die den Stillstand verursachen. Wir stehen in der Pflicht, uns über die israelische Wirtschaft Gedanken zu machen und die israelischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu schützen. Doch für die Regierung hat weder die arbeitende Bevölkerung noch der Staat Priorität. Diese Regierung ist nicht fähig, die Zwangslage, in der wir uns gegenwärtig befinden, angemessen zu bewältigen. Für Benjamin Netanjahu haben seine eigenen politischen Interessen Priorität und nicht die Geiseln oder Israel.
Diese Regierung ist nicht fähig, die Zwangslage, in der wir uns gegenwärtig befinden, angemessen zu bewältigen.
Die Histadrut engagiert sich dafür, dass es den Israelis gut geht, dass alle – jüdischen und nichtjüdischen – Israelis und nichtisraelischen Arbeitnehmer in unserem Arbeitsmarkt anständige Lebensverhältnisse haben. Sie versucht, wieder für Normalität, Wohlstand und ruhige Verhältnisse zu sorgen. Israel ist gegenwärtig an vielen Fronten gefordert: in Gaza, im Norden durch die Hisbollah im Libanon, aber auch durch die Huthis, den Iran und andere. Terror und Krieg haben aber noch viele andere gravierende Auswirkungen: Vertriebene, dysfunktionale Schulen, traumatisierte Menschen. Wir müssen sehr viel Wiederaufbauarbeit leisten. Der Weg dahin ist klar: Die Geiseln müssen freikommen, und das wird zum Ende des Krieges führen. Zudem fordern wir Neuwahlen, weil diese Regierung versagt.
Die israelische Gesellschaft war schon lange vor dem 7. Oktober polarisiert. Bereits davor gab es Massendemonstrationen gegen die Regierung Netanjahu und seine sogenannte Justizreform. Welche Rolle spielen die Gewerkschaften heute in der israelischen Gesellschaft?
Die Histadrut hat sich der Justizreform entgegengestellt. Der Histadrut-Vorsitzende Arnon Bar-David forderte den Premierminister eindringlich auf, die Pläne zu stoppen, weil es dazu keinen Konsens gab. Netanjahu hat die Reform einseitig durchgedrückt und die israelische Gesellschaft dadurch noch mehr polarisiert. Ein Land, das von Feinden umringt ist, die ihm aus ideologischen Gründen das Existenzrecht absprechen, kann es sich nicht leisten, gespalten zu sein. Die aktuelle Situation, in der wir an unseren Grenzen mit Extremismus konfrontiert sind, verlangt nach Geschlossenheit im Inneren. Nur eine geeinte Gesellschaft kann die nötige Kraft aufbringen, um Frieden, Stabilität und Wohlstand zu erreichen.
Ein Land, das von Feinden umringt ist, die ihm aus ideologischen Gründen das Existenzrecht absprechen, kann es sich nicht leisten, gespalten zu sein.
Die Histadrut unter ihrem Vorsitzenden Bar-David macht exemplarisch vor, wie man Diversität und Zusammenarbeit verbindet. Wir vertreten jeden Einzelnen in gleicher Weise. Ethnische Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht oder andere Unterschiede spielen dabei keine Rolle. Die Politiker sollten unserem Beispiel folgen: Sie sollten auf Inklusion hinarbeiten und Entscheidungen nicht einseitig, sondern gemeinschaftlich treffen. Die Histadrut hat die Aufgabe, die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter zu schützen, und ist die größte gesellschaftliche Bewegung in Israel. Wir erbringen soziale Dienstleistungen und kämpfen für die Gleichstellung der Geschlechter, für die Rechte junger Menschen und für LGBTQI-Rechte. Eine Gewerkschaft sollte Vorbild für eine gerechtere und tolerantere Gesellschaft sein. Die amtierende Regierung ist das Gegenteil: Sie erzeugt Ausgrenzung und Spaltung. Sie ignoriert nicht nur die Auswirkungen, die der Krieg für Israelis und Palästinenser hat, sondern schließt auch viele Israelis aus Entscheidungsprozessen und der Sorge für ihr Wohl aus. Statt nur ihre eigenen Interessen im Blick zu haben, sollte die politische Führung darüber nachdenken, was allen Menschen in Israel nützt und nicht nur einem kleinen ausgewählten Personenkreis.
Seit dem Terrorangriff am 7. Oktober und dem anschließenden Ausbruch des Krieges in Gaza ist fast ein Jahr vergangen. Zugleich ist die Lage an der Grenze zum Libanon angespannt, und es gibt Spannungen mit anderen Akteuren. Halten Sie nach wie vor Verbindung zu palästinensischen Gewerkschaften? Was kann die Histadrut tun, um zu erreichen, dass palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter mit Würde und Respekt behandelt werden?
In den vergangenen zehn Jahren hat die Histadrut Berufsbildungsmaßnahmen für palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter in vielen Bereichen durchgeführt und wurde dabei von zahlreichen internationalen Partnern wie dem DGB und dem schwedischen Gewerkschaftsbund LO unterstützt. Auch nach dem 7. Oktober haben wir gemeinsam mit unserer palästinensischen Partnerorganisation, dem Palästinensischen Gewerkschaftsverband PGFTU, berufliche Weiterbildungsmaßnahmen für palästinensische Elektriker durchgeführt, ebenfalls unterstützt von DGB und LO. Diese Initiativen fördern den Frieden und die Solidarität. Unser Verhältnis zum PGFTU hat allerdings gelitten. Sie hat nach den Gräueln des 7. Oktober weder Bedauern geäußert noch Trauer bekundet. Dadurch wurde das Vertrauen beschädigt, das in unserem Verhältnis seit 30 Jahren ein zentraler Wert ist. Inzwischen sind wir dabei, dieses Vertrauen gezielt wiederaufzubauen, weil wir überzeugt sind, dass wir Frieden und gute Beziehungen mit unseren Nachbarn brauchen. Andererseits muss garantiert sein, dass unsere Partner in wichtigen Fragen hinter uns stehen. Die internationale Gemeinschaft und speziell die Gewerkschaftsbewegung müssen faire und konstruktive Vermittler sein, um eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Dieses Vertrauen ist eine essenzielle Voraussetzung dafür, dass wir weiter miteinander kooperieren und dauerhaften Frieden erreichen können.
Mit wenigen Ausnahmen hat Israel seit 20 JahrenLikud-geführte Regierungen. Vor welchen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen Israels Gesellschaft und Wirtschaft gegenwärtig in erster Linie?
Die politische Dynamik in Israel ist sehr ungewöhnlich. Viele, die im israelisch-palästinensischen Konflikt rechte Positionen vertreten, sind entschiedene Verfechter sozialdemokratischer Werte, wenn es um Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften geht. Das Resultat ist eine Art politische Androgynie, die sich dadurch auszeichnet, dass ideologische Standpunkte nicht immer stringent zusammenpassen. Viele Menschen, die Likud oder andere rechtsgerichtete Parteien wählen, sind gleichzeitig überzeugte Unterstützerinnen und Unterstützer der Gewerkschaften und der Histadrut. Oft engagieren sie sich sogar aktiv in Gewerkschaften und Arbeitnehmergremien und haben in arbeitsrechtlichen Fragen erheblichen Einfluss auf die Haltung der Regierung.
Deshalb wurden die Histadrut und ihre Mitgliedsgewerkschaften in der Vergangenheit von Likud-geführten Regierungen nicht zwangsläufig als Gegner behandelt oder schikaniert. Im Gegenteil, oft haben diese Regierungen unsere Initiativen unterstützt und beim Schutz von Arbeitnehmerrechten eng mit uns zusammengearbeitet. Hinzu kommt, dass den Likud-geführten Regierungskoalitionen oft Parteien der politischen Mitte oder linke Parteien angehörten, die eine größere Nähe zu sozialdemokratischen Werten haben. Diese Koalitionen haben für ein Gleichgewicht gesorgt und dazu beigetragen, dass die Regierung trotz ihrer grundsätzlichen Präferenz für eine neoliberale Wirtschaftspolitik an vielen Maßnahmen zur sozialen Absicherung von Arbeitnehmern festgehalten hat. Diese Dynamik ist der Grund, warum wir auch unter rechten Regierungen bedeutende Erfolge für Arbeiterinnen und Arbeiter erwirken konnten, und lässt sich nicht in einem Schwarzweiß-Schema abbilden.
Gilt das auch für die amtierende Regierung?
Dem Histadrut-Vorsitzenden ist es bei verschiedenen Themen gelungen, sich mit dieser Regierung zu verständigen, aber diese Regierung ist ein Problem. Sie versagt nicht nur in ihrer Regierungsführung, sondern geht auch nicht auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ein. Sie hat keine klare Vision für die Zukunft, obwohl der Krieg uns wirtschaftlich vor große Probleme stellt und Israel auf den wirtschaftlichen Kollaps zusteuert. Sie schustert die Ressourcen einem kleinen Kreis von Unterstützern zu, die sie stützen und in vielen Fällen keinen Beitrag zur Volkswirtschaft leisten, und gibt Geld für unnötige Ministerien aus. Das führt zu Verteilungsungerechtigkeit und Stillstand. Wir wollen ein blühendes, gerechtes und faires Land, das die gesamte Bevölkerung repräsentiert. Leider hat die amtierende Regierung allem Anschein nach mehr die eigenen Interessen als das Wohl der Allgemeinheit im Blick und missachtet ihre moralische Verpflichtung, das Leben unschuldiger Menschen zu schützen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld