Hätte jemand die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 als Drehbuch einer Netflixserie eingereicht, so wäre dieses mit hoher Wahrscheinlichkeit als zu grotesk und absurd verworfen worden. Rar sind in der Weltgeschichte die Momente, in denen es zu einer derartigen Verdichtung dramatischer Ereignisse kam wie in dem Drama, welches der Nahe Osten in den letzten zehn Monaten erlebt hat. Und all das könnte nur das Vorspiel zu dem sein, was noch kommen wird.
Als alle Welt gebannt auf den Libanon schaute, wo Israels Regierung und die Hisbollah sich anschickten, die nächste Eskalationsstufe zu erklimmen, schlug der jüdische Staat in Teheran zu. Im Herzen der iranischen Hauptstadt, dem zentralen Knotenpunkt der antizionistischen Achse des Widerstands, wurde Ismail Haniyeh, der politische Führer der Hamas, eliminiert. In einer einzigen Nacht starben somit in Beirut und Teheran die Nummer 3 der Hisbollah und die Nummer 1 der Hamas. Es ist seit dem 7. Oktober der größte Triumph für Israel. Und doch ist es ein Sieg, der – einem modernen Franz-Ferdinand-Moment gleich – die ganze Region an den Rand eines großen Krieges zu stoßen droht.
Jenseits von Gaza, wo tatsächlich eine Art entfesselter Krieg tobt, folgte die regionale Eskalation bisher einer wohlkalibrierten Choreografie. Bedrohlich tanzten die Gegner umeinander herum, setzten sich hart zu und versuchten doch, die ganz große Eskalation zu vermeiden. Mit dem nahezu gleichzeitigen Zuschlagen im Herzen der Machtapparate von Hisbollah und Islamischer Republik sendet Israel die Botschaft, dass kein gegnerischer Entscheidungsträger mehr sicher sei. Es ist die ultimative Herausforderung. Sollte es den Kriegsparteien in Beirut und Teheran noch an Argumenten gefehlt haben, Tel Aviv hat sie ihnen auf dem Silbertablett serviert.
Jenseits der Symbolik stellt sich die Frage nach dem strategischen Nutzen solcher gezielter Ermordungen. Wenn die Vergangenheit ein Maßstab ist, ist dieser eher gering. 2004 tötete das israelische Militär Scheich Ahmad Yasin, den damaligen geistigen Führer der Hamas. Seitdem ist es der Organisation gelungen, die palästinensischen Wahlen zu gewinnen, den Gazastreifen komplett zu kontrollieren, am 7. Oktober 2023 nach Israel einzufallen und eine ganze Region ins Chaos zu stürzen. Schwächer geworden ist die Hamas ganz sicher nicht. Auch Haniyeh ist ersetzbar. Die Hamas ist eine ideologische Vereinigung und keine straffe Ein-Führer-Organisation. „The devil you know“ galt früher mal als Devise. Was danach kommt, ist häufig nicht besser und ganz sicher nicht moderater. Unmittelbarster Profiteur des kurzfristigen Vakuums an der Spitze der Terrororganisation ist der ranghöchste Hamas-Führer in Gaza, Yahya Sinwar, in seinem einstürzenden Tunnelreich.
Haniyeh war der politische Kopf der Verhandlungsfraktion.
Die Verhandlungen und mit ihnen die Hoffnungen auf einen Waffenstillstand, das Ende des Leids der Zivilbevölkerung sowie eine mögliche Geiselfreilassung aus der Hölle von Gaza dürften nach dem Teheraner Zwischenfall jedenfalls erstmal passé sein. Haniyeh war der politische Kopf der Verhandlungsfraktion, mit ihm stirbt diese Option womöglich endgültig. Dies freilich ist ganz im Sinne Benjamin Netanjahus, der erst vor Tagen in Washington unter Jubelstürmen amerikanischer Volksvertreter den „totalen Sieg“ als Ziel ausgab. Es ist damit auch eine Niederlage für die Biden-Administration. Der scheidende Präsident hatte zumindest öffentlich viel darauf gesetzt, die Lage im Nahen Osten und die Gewaltorgie in Gaza auf dem Verhandlungsweg zu deeskalieren. Die als bear hug umschriebene Strategie, den israelischen Verbündeten sanft, aber bestimmt zu einem Einlenken zu bewegen, hat nicht gefruchtet. Mit der Tötung Haniyehs in Teheran riskiert Tel Aviv ganz offen die ganz große Eskalation.
Die israelische Regierung sendet mit dieser Tötung auch eine klare Botschaft an die Palästinenser. Keine Hamas, keine Verhandlungen, keine politische Perspektive. Unterwerfung oder Tod ist die politische Wahl, vor der die Palästinenser stehen. Vor knapp zwei Wochen beerdigte die Knesset endgültig die Zweistaatenlösung. In Gaza erlebt die Welt tagtäglich die systematische Zerstörung aller menschlichen und natürlichen Lebensgrundlagen. Völlig unklar ist, welche Art von Leben die zwei Millionen traumatisierten Bewohner erwartet, sollte der „totale Sieg“ einmal erreicht sein. Im Westjordanland überlässt Israel derweil den regierungsoffiziellen Rechtsextremen vom Schlage Ben Gvirs und Smotrichs das Heft des Handelns. Auch hier nehmen Hass und Gewalt fast täglich zu.
Der Kampf gegen den Terrorismus, hier sollte man sich keinen Illusionen hingeben, gebiert so selbst immer neuen Terrorismus, schafft sich seine eigene Rechtfertigung und verlängert sich dadurch ad infinitum. Wirksam bekämpfen ließe sich der Extremismus nur dann, wenn es eine politische Perspektive gäbe, mit der ihm die Verankerung in den Bevölkerungen entzogen würde. Indem diese jedoch verweigert wird, verkümmert alles Moderate. Die Art der Kriegsführung in Gaza wirkt regional wie ein gigantisches Rekrutierungsprogramm für Hamas und Konsorten. Trotz der Schläge, die die Terrororganisationen einstecken, wirken sie wie die einzigen Handlungsfähigen gegenüber Israel, während die arabischen Regime als ohnmächtige Depeschenschreiber danebenstehen.
Die Gewalt in Gaza entlarvt auch die westliche Heuchelei. Der Werte-Westen erscheint hier als Komplize in einer Unternehmung, die mittlerweile allem widerspricht, für das er in seinen Sonntagsreden zu stehen vorgibt. Statt eines Kampfes der Zivilisation gegen die Barbarei erscheint das, was im Nahen Osten vor sich geht, zunehmend wie ein Wettbewerb zwischen Barbarei und Barbarei.
Die Gewalt in Gaza entlarvt auch die westliche Heuchelei.
Die Gretchenfrage, die sich die Unterstützer der reinen Gewaltstrategie gegen den islamistischen Extremismus gefallen lassen müssen, ist: Wie effizient kann sie auf Dauer sein? Die Islamisten leben von der Gewalt, sie haben eine binäre Vision von Politik als Kampf zwischen Gut und Böse. Sobald sie sich um die Müllabfuhr kümmern müssen, versagen sie. Das grausame Vorgehen vom 7. Oktober kann aus Sicht der Hamas auch als ein Ausbruch aus dem entnervenden Kleinklein der Tagespolitik interpretiert werden. Gleiches gilt für die Islamische Republik Iran, deren Parolen der eigenen Bevölkerung längst als hohl und heuchlerisch aufstoßen. Der neu entflammte regionale Konflikt wirkt wie ein Revitalisierungsschub für ein ausgelaugtes Regime.
Diese Akteure in den Kampf zu zwingen, bedeutet letztlich, ihnen zu geben, was sie selbst wollen. „Wir lieben das Leben, sie lieben den Tod“, hieß es in den Anfangsjahren des globalen Kampfes gegen den Terror. Gegner waren damals freilich nur die Desperados der Al-Qaida, nicht das sehr viel potentere Terrornetzwerk autonomer Glieder, dessen Nervenenden in Teheran zusammenfließen. Trotzdem gilt auch für Hamas, Hisbollah und die Huthis: Die Opferbereitschaft dieser Akteure ist weit größer als alles, was der Westen aufbringt. Was sind schon 30 000 tote Zivilisten, oder vielleicht auch 300 000, gegen das langfristige Ziel der Eroberung Jerusalems? Es ist ein Denken in anderen Kategorien. In einer Welt, in der der Märtyrertod als erstrebenswert gilt, hat niemand Angst vor einem Ende auf dem Schlachtfeld. Das bedeutet nicht, dass diese Akteure selbstmörderisch oder politikunfähig sind. Es bedeutet aber, dass eine Strategie, die den militärischen Kampf absolut setzt und das Politische außer Acht lässt, in ihnen Instinkte weckt, die eine weitere Eskalation befeuern.
Die Tötung Haniyehs, der als „Staatsgast“ auf iranischem Territorium weilte, ist für den Iran eine beschämende Demütigung. Sie trifft die Islamische Republik in ihren Grundfesten. Sie wirft die Frage auf, inwieweit der Iran die Sicherheit der eigenen Funktionsträger garantieren kann – nicht zuletzt die des Obersten Revolutionsführers, mit dem Haniyeh am Vorabend seines gewaltsamen Todes noch zusammentraf. Sie setzt das Regime nun unter gewaltigen Druck, ausgeübt nicht nur von den eigenen Anhängern, sondern auch von den Verbündeten innerhalb der Achse, denen nun lebhaft vorgeführt wurde, dass Teheran selbst dort, wo es vermeintlich absolute Kontrolle ausübt, ihr Leben nicht garantieren kann. Ali Khamenei hat bereits Rache für den Tod des „lieben Gastes“ angekündigt.
Der Nahe Osten steht an seinem gefährlichsten Moment seit Mitte Oktober.
Mit der Attacke unterminiert Israel auch das, was der Iran als seine eigene Abschreckung definieren würde. Den israelischen Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus konterte Teheran am 13. April dieses Jahres mit dem präzedenzlosen direkten Raketen- und Drohnenangriff auf Israel. Dieser glich freilich einer Inszenierung mit siebentägigem Vorlauf. Das Ziel war Gesichtswahrung bei gleichzeitiger peinlich genauer Sicherstellung, dass eine völlige Eskalation vermieden würde. Es fungierte somit als erfolgreiche Off-ramp für beide Kontrahenten. Ob sich eine solche „Show“ nun wiederholen lässt, ist mehr als fraglich.
Der Nahe Osten steht heute somit an seinem gefährlichsten Moment seit Mitte Oktober, als die USA mit der Verhinderung eines israelischen Präventivschlags gegen die Hisbollah einen möglichen Flächenbrand schon einmal abwenden konnten. Sollten sich in Teheran und bei der Hisbollah nun die Anhänger der Vergeltungslogik durchsetzen, stünden die Zeichen auch angesichts einer zunehmend eskalationsbereiten israelischen Regierung auf Sturm. Die wohlkalibrierte Choreografie wäre dahin. Israel und die iranische Achse des Widerstands befinden sich in einer Art höchstgefährlichem „Game of Chicken“, in dem beide Seiten zwar eigentlich den völligen Krieg nicht wollen, aber immer größere Risiken eingehen, um den Gegner zum Einlenken zu bewegen.
Angesichts der angeschlagenen lame duck im Weißen Haus und der mittlerweile angenommenen Komplizenschaft vieler in der amerikanischen Administration sollte man nicht zu viel Deeskalationshoffnung auf Washington projizieren. Unwahrscheinlich, dass die Tötungen in Beirut und Teheran ohne amerikanisches Einverständnis erfolgten – auch wenn Washington sich unwissend gibt. Die Hoffnung, die bleibt, ist, dass sich bei der Widerstandsachse rationalere Gemüter durchsetzen. Absurd und unglaubwürdig? Für eine Netflixserie wäre es dies ganz sicher.