Seit dem verheerenden Angriff der palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 befindet sich Israel in einem Mehrfrontenkrieg, den es militärisch nicht gewinnen kann. Die militärische Überlegenheit der israelischen Armee ist nicht mehr ausreichend, um strategisch-vernichtende Schläge gegen ein vom Iran geleitetes Netzwerk-Cluster zu führen. Dies zeigt, wie in den rund zehn Jahren nach dem Arabischen Frühling gut vernetzte, nicht-staatliche Akteure zu wichtigen Playern in der Region geworden sind. In Sachen Widerstandsfähigkeit übertreffen diese Netzwerke oft Staaten mit ihren starren Hierarchien.
Israel sieht sich nun von dem mächtigsten dieser Netzwerke in der Region umzingelt: der sogenannten „Achse des Widerstands“. Die vom Iran geführte lose Organisation umfasst bewaffnete irakisch-schiitische Gruppen, die libanesische Hisbollah, die palästinensische Hamas, den Islamischen Dschihad, die syrische Regierung und die jemenitische Ansarullah-Bewegung, besser bekannt als die Huthis. Diese staatlichen und nicht-staatlichen Akteure sind tief in das soziopolitische Gefüge der Region eingebettet.
Das Zerwürfnis zwischen Teheran und Tel Aviv ist in den vergangenen Jahren weitgehend statisch und in einer Grauzone verhaftet geblieben. Doch seit Oktober 2023 bewegt man sich aus diesem Graubereich langsam heraus, rote Linien werden immer wieder überschritten oder verschoben. Israel kann zwar die Hamas in Schach halten und bis zu einem Waffenstillstand weiterkämpfen (wenn auch zu einem inakzeptablen Preis für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen), aber die Kosten des Zermürbungskrieges gegen die Hisbollah entlang der Grenze zum Libanon sind für Tel Aviv zunehmend untragbar geworden.
Die Netzwerke, die der Iran nutzt, sind älter als die Islamische Revolution von 1979. Transnationale schiitische Netzwerke, die den Iran über den Irak und Syrien mit dem Libanon und darüber hinaus verbinden, reichen teils Jahrhunderte zurück. Sie bieten Geistlichen, lokalen Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren seit langem gegenseitigen Anschluss und Kontakt. Die iranischen Revolutionäre bauten schon auf diese bestehenden Netzwerke, um Unterstützung für die mit der Revolution 1979 errichtete Theokratie zu mobilisieren. Die so entstehende „Achse“ biete dem neuen iranischen Staat seitdem neue strategische Möglichkeiten.
Nach dem Vorbild von Bienen und Vögeln sind diese Zellen in der Lage, mit relativ kleinen Einheiten aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig anzugreifen.
Um den stärksten hierarchisch organisierten Kräften in der Region (namentlich dem US- und dem israelischen Militär) etwas entgegenzusetzen, setzte der Iran auf „Heterarchien“: auf Einzelgruppen, die unter dem gemeinsamen Banner eines Widerstandsnarrativs lose miteinander verflochten sind. Im Zentrum dieser Netzwerkstrategie stehen die Prinzipien Dezentralisierung und räumliche Verteilung. Damit setzt der Iran das westliche militärische Konzept der Einsatzleitung – mit zentral ausgegebenen Zielen, aber dezentraler Ausführung – in einer eigenen strategischen Version um. So lässt Teheran seinen Partnern ein unterschiedlich hohes Maß an Autonomie bei strategischen und operativen Entscheidungen. Der Iran ist von den meisten globalen Versorgungsketten und Finanzdienstleistungen abgeschnitten. Daher setzt er darauf, die Umsetzung der Staatsinteressen über Netzwerke und Allianzen zu steuern.
Selbst auf der organisatorischen Ebene weisen die Knotenpunkte in Irans „Widerstandsnetzwerk“ eine Mischung aus klassisch-hierarchischen und netzwerkartigen Strukturen auf. Die Hisbollah und die Huthis bestehen aus verschiedenen Zellen, die sich wie Satelliten um die Dschihad-Räte drehen, die ihrerseits als zentrale Schaltstellen fungieren. Über diese Zentralen können die Islamischen Revolutionsgarden des Iran ihre Verbindung zu den verschiedenen Punkten des Netzwerks aufrechterhalten. Die unterschiedlichen operativen Zellen in dieser Organisationsform agieren wie Schwärme: Sie sind scheinbar amorph, aber dennoch koordiniert und unter einem übergeordneten strategischen Ziel vereint. Nach dem Vorbild von Bienen und Vögeln sind diese Zellen in der Lage, mit relativ kleinen Einheiten aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig anzugreifen. Diese Art von Angriff ist für eine große hierarchische Organisation wie die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) trotz ihrer deutlich größeren Feuerkraft nur schwer zu bewältigen.
Ein umfassender Krieg mit der Hisbollah (einem besonders wichtigen Knotenpunkt in der „Achse des Widerstands“) wäre für Israel wahrscheinlich die verheerendste Auseinandersetzung seiner Geschichte. Hunderttausende Flugkörper, Drohnen und Raketen sind auf praktisch jeden Quadratzentimeter des israelischen Territoriums gerichtet. Israel ist somit strategisch von einem Netzwerksystem eingekreist, das der Iran seit den 1970er Jahren in der Region aufgebaut hat. Für Tel Aviv ist das dramatisch. Die alles überwältigende Waffenkraft kann nur schwer gegen ein dezentralisiertes Netzwerkbündel eingesetzt werden; und Israels Ziele dürften auf diese Weise nicht erreicht werden. Das liegt zum Teil daran, dass der ideologische Schwerpunkt der „Achse des Widerstands“ die wichtige strategische Erzählung von eben jenem einigenden „Widerstand“ ist. Vor allem ist aber das flexible Netzwerkformat der Garant für Resilienz und Widerstandskraft.
Teheran hat ein organisches Netzwerk geschaffen, das sich selbst trägt.
Die „Achse des Widerstands“ ist dabei weitaus mehr als die lokalen militärischen Zellen. Es besteht auch aus globalen Finanzvehikeln, um Geld zu waschen; es bietet logistische Ressourcen, um Waffen und andere materielle Unterstützung über das Netzwerk hinweg zu befördern; es schafft Kultur- und Bildungsstrukturen, um die ideologische Unterstützung vor Ort aufrechtzuerhalten; es betreibt Medien, um die Wahrnehmung auf regionaler sowie auf globaler Ebene zu beeinflussen; und es bietet eine Art Regierungsführung, wie im Irak, im Libanon oder im Jemen, wo individuelle Gruppen (wie die Huthis) als quasi-staatliche Entitäten auftreten und quasi-staatliche Dienstleistungen erbringen. Jedes Zentrum des Netzwerks ist darüber hinaus in weitere Netzwerke untergliedert. Dies stellt Israel vor die Sisyphusaufgabe, immer wieder einzelne Punkte des Netzwerks zu eliminieren, wobei aber die Organisation als Ganze nicht zu Fall gebracht wird.
Teheran hat ein organisches Netzwerk geschaffen, das sich selbst trägt. Zuvor war die „Achse“ auf Finanzierung durch das iranische Zentrum angewiesen, aktuell konzentriert sich die Islamische Republik hingegen vielmehr auf den Transfer von Technologie und Know-how innerhalb des Netzwerks. Die Last des „bewaffneten Widerstands“ kann derweil geteilt werden. Zwar war die tatsächliche Unterstützung für die Hamas bisher weitgehend symbolisch, doch das dezentralisierte Netzwerk setzt immer wieder kleine Nadelstiche, die Israel auch gleichzeitig zugefügt werden können. Die Israelischen Streitkräfte sehen sich daher einem kostspieligen Zermürbungskrieg an mehreren Fronten und in unterschiedlichen Intensitäten gegenüber.
Vor allem aber ermöglicht das Netzwerkmodell dem Iran ein dreidimensionales Spiel, bei dem verschiedene Züge gleichzeitig stattfinden. Israel hingegen spielt ein sequenzielles Schachspiel in einem zweidimensionalen Raum. Tel Aviv mag auf seine militärische Stärke und Überlegenheit setzen, um Kräfte wie die Hamas und die Hisbollah zu „vernichten“, doch Letztere messen ihre Leistungen und Erfolge nicht in binären Begriffen und Zahlen.
Um es vereinfacht auszudrücken: Die „Achse des Widerstands“ gewinnt, indem sie einfach nicht verliert. Ebenso verliert Israel, weil es langfristig nicht gewinnen kann. Es gilt die Gleichung: Solange die „Achse“ in der Lage ist, für Israel Kosten und Verluste zu verursachen, kann das israelische Militär kein Siegesnarrativ konstruieren – trotz aller taktisch-militärischer Erfolge. Mehr noch, seit dem 7. Oktober hat die kumulative Wirkung der verstreuten und dennoch koordinierten bewaffneten Operationen der Hisbollah, der Huthis und der irakischen bewaffneten Gruppen den Druck auf Tel Aviv erhöht. Was einst eine Grauzone war, in der Israel die eskalatorische Dominanz hatte, ist nun eine Pattsituation, die für den israelischen Staat zu kostspielig ist, um sie auf unbestimmte Zeit weiter aufrechtzuerhalten.
Schon jetzt wird Israels vermeintliche Allmacht und Unbesiegbarkeit auf den arabischen Straßen infrage gestellt.
Für seine nationale Sicherheit und zur Machtausübung baut der Iran auf den Netzwerkansatz. Dieser scheint auf lange Sicht weitaus resilienter zu sein als der rein hierarchische Ansatz, den Israel mit seinem Militär verfolgt. Harte Schläge, mit denen einzelne Zellen der Hisbollah oder der iranischen Revolutionsgarden ausgeschaltet werden sollen, sind in einem vernetzten Raum weitgehend bedeutungslos. Schließlich ist kein Knotenpunkt im Netzwerk so zentral und bedeutend, dass die „Achse“ in ihrer Gesamtheit strategisch auf ihn angewiesen wäre. Die Verbindungslinien können leicht umgeleitet werden, selbst wenn ein oder mehrere Knotenpunkte eliminiert werden.
Während der Iran das Herzstück einer vernetzten regionalen Ordnung ist, scheint Israel seine Staatsmacht lediglich auf die eiserne Faust seines hierarchischen Militärs zu stützen. Da es keine konsequente politische Strategie gibt, muss Israels Armee ein unendliches Whac-A-Mole spielen: Wenn man auf den einen Gegner einschlägt, ploppt irgendwo anders der nächste auf. Die Israelischen Streitkräfte müssen auf eine wachsende Anzahl von zumindest störenden Aktivitäten in einem sich ausweitenden dreidimensionalen Kampfgebiet reagieren.
Ein uneingeschränkter Krieg gegen die Hisbollah – so zerstörerisch er für die vom Iran unterstützte Gruppe (und die libanesische Zivilbevölkerung) auch sein mag – könnte die israelische Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs bringen. Dies gilt besonders, wenn andere Teile des „Achsen“-Netzwerks in diesem Falle entscheiden, gleichzeitig ihre Zurückhaltung zu beenden. Tatsächlich dürfte eine starke „Einheitsfront“ entstehen (man könnte von „Einer für alle, alle für einen“ sprechen), wenn die iranische Führung fürchten müsste, dass ihre langfristigen Investitionen in den Libanon in Gefahr sind. Schon jetzt wird Israels vermeintliche Allmacht und Unbesiegbarkeit auf den arabischen Straßen infrage gestellt. Die israelische Regierung wäre gut beraten, die Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit der „Achse des Widerstands“ nicht zu unterschätzen oder auszutesten.
Auch für Europa ist es wichtig, die sich entwickelnde vernetzte Ordnung im Nahen Osten anzuerkennen. Die meisten EU-Staaten haben ihr Engagement in der Region auf zwischenstaatliche Beziehungen beschränkt, wobei hierarchische staatliche Institutionen die Führung in der Außenpolitik übernehmen. Europa muss seine eigenen Netzwerke in der Region aufbauen, durch Handel, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Nur dann kann es mit den Knotenpunkten konkurrieren, die der Iran durch seine „Achse des Widerstands“ miteinander verbunden hat.
Die EU muss verstehen, dass weder der Iran noch die verschiedenen Akteure in seinem Netzwerk Einzelspieler sind – ihre Machtquelle ist das Netzwerk und die Vernetzung selbst. Und obwohl Teherans Verbindungen sehr widerstandsfähig sind, könnte Europa mehr tun, um die Ströme von Informationen, Waffen, Technologie, Geld und Kämpfern zu stoppen, die durch die Netzwerke des Iran laufen. Um diese zu unterbrechen, bedarf es jedoch mehr als nur der Zustimmung der EU oder der Behörden der Mitgliedstaaten. Es bedarf der Zusammenarbeit von Privatpersonen, Banken, Unternehmen und der Zivilgesellschaft, die alle effektiver in die Außenpolitik der EU und seiner Mitgliedstaaten eingebunden werden müssen.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch bei Amwaj.media und ist leicht verändert worden.
Aus dem Englischen von Tim Steins