Das Interview führte das Team des FES-Russlandprogramms.

Sie schreiben, dass der russische Zuschauer durchaus den Eindruck gewinnen kann, dass im Fernsehen eine Meinungsvielfalt herrscht. Was meinen Sie damit genau? 

Es gibt im öffentlichen Raum viele Meinungen und es wird der Eindruck erweckt, dass eine Vielfalt von Ansichten vertreten wird. An den politischen Sendungen im Fernsehen nehmen verschiedene Personen teil, darunter auch Vertreter der „feindlichen“ Agenda: gefakte, vermeintlich kritische Amerikaner, Ukrainer oder Liberale. So entsteht für den Durchschnittsbürger der Eindruck einer Vielstimmigkeit. Dass all diese Meinungen im Grunde auf das Gleiche hinauslaufen und die alternativen Positionen lächerlich sind, ist für den russischen Zuschauer von innen heraus nicht ersichtlich.
Die Aufgabe von Propaganda in der Russischen Föderation besteht nicht darin, die Menschen dazu zu bringen, Putin zu lieben, sondern darin, jede denkbar argumentierbare Position zur Unterstützung des Krieges abzudecken. Daher werden einem viele Meinungen zur Auswahl angeboten: Erzählungen über die historische Größe Russlands, den Plan der Wiederbelebung der UdSSR, Hass auf die Ukraine, die Behauptung, der Krieg sei angeblich gerechtfertigt und gar nicht so schlimm, weil es sich um einen Präventivkrieg handele oder weil die NATO expandiere.

So entstehen viele Zwischenpositionen. Ein typisches Beispiel ist Igor Strelkow, der Putin kritisiert und die militärische Führung der Russischen Föderation öffentlich bloßstellt, aber gleichzeitig den Krieg unterstützt. Nach dem Motto: Ihr müsst Putin nicht mögen und die Armee kämpft nicht gut, aber unsere Soldaten beziehungsweise den Donbass können wir nicht im Stich lassen, deshalb müssen wir weiterkämpfen.

Warum funktioniert die russische Staatspropaganda so gut? Wie schafft es die russische Propaganda, selbst bei eindeutigen Verbrechen wie in Butscha andere Narrative in der eigenen Bevölkerung zu verbreiten? 

Propaganda ist immer wirksamer als die Wahrheit. Denn die Wahrheit ist immer singulär, während Propaganda sehr vielseitig sein kann. Wer die Wahrheit sagt, ist durch die Fakten eingeschränkt. Im Gegensatz dazu kann die Staatspropaganda sich verschiedene Versionen ausdenken und sie auch fortlaufend ändern. Man kann einen Politiker dafür kritisieren, dass er seine Meinung unbegründet ändert. Aber ein Propagandist kann sich Beliebigkeit erlauben, denn heute ist die eine Sache profitabel, morgen die andere, und das ist sein Trumpf. 

Zu Butscha: Für einen Menschen im Westen sieht die Lage wie folgt aus: Seht her, die russische Armee war dort, hier sind Beweise für Verbrechen. Das sind die Fakten, die im Westen ziemlich eindeutig wahrgenommen werden.

Für Butscha hat die russische Propaganda eine ganze Auswahl an Erklärungstheorien.

Derweil hat die russische Propaganda eine ganze Auswahl an Erklärungstheorien. Erstens: Es ist überhaupt nichts passiert. Wenn jemand damit nicht einverstanden ist, sagt man, zweitens: Ok, es gab die Morde tatsächlich, aber nicht so, wie die im Westen es sagen. Das Massaker war inszeniert. Dann kommen Verschwörungstheorien ins Spiel, die in Russland weit verbreitet sind und vom Staat noch mehr gefördert werden. Drittens: Für ein Publikum, bei dem auch das nicht funktioniert, wird Folgendes angeboten: Natürlich sind Menschen gestorben, aber durch ukrainische Hand. Das sind Opfer des Kiewer Regimes. Oder, viertens: Menschen starben, aber es waren keine Zivilisten, sondern die ukrainische Armee, also haben sie es verdient. So ist es im Krieg, Feinde zu töten ist kein Verbrechen.
Eine für westliche Nachrichtenleser unbestreitbare Tatsache teilt sich so für Russen in viele Theorien auf und wird dadurch relativiert. Der Staat macht seiner Bevölkerung ein Angebot: Wählt das, was für euch am ehesten Sinn ergibt. 
Butscha steht im Westen für ein gravierendes und unbestreitbares Verbrechen, während in der Russischen Föderation nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob es wirklich passiert ist. Für einen Russen ist dieses Wort nicht sehr belastet. Fragt man jemanden, so kommt häufiger als Antwort: „Im Westen redet man über Butscha … ja, irgendwas klingelt da, aber was genau ist denn passiert?“

Vor allem ältere Personen unterstützen Putin. Wie versucht die russische Propaganda auch das jüngere Publikum zu erreichen? 

Das ist nicht so einfach. Einige junge Menschen stehen auch unter dem propagandistischen Einfluss, aber die Erstellung von überzeugenden Informationsinhalten für Jugendliche ist insgesamt eher misslungen. Es gibt im Grunde nichts, was man ihnen anbieten könnte. Der patriotische Sänger Schaman versucht es, aber er erreicht die Jugend kaum, da er sie nicht berühren kann und eher altmodisch klingt. Junge Menschen haben ihre eigenen Influencer, die entweder schweigen oder bereits ausgewandert sind und sich daher frei und offen gegen den Krieg aussprechen können.

Die Strategie zur Beeinflussung von Jugendlichen ist eine andere: Einschüchterung. 

Daher ist die Strategie zur Beeinflussung von Jugendlichen eine andere: Einschüchterung. Es wird mit Gefühlen von Feigheit und Schwäche gespielt. Der Kreml will Angst vor der Einberufung erzeugen oder potentielle junge Protestierende durch exzessive Gewalt abschrecken. Andersdenkende vorsorglich zu bestrafen, gehört auch dazu. Deshalb machen die Repressionen jungen Menschen Angst, denn nur wenige sind bereit, ihr Leben und ihre Karriere zu ruinieren. Die Einschüchterung ist also wirksam. Die ältere Generation ist sich der Unterdrückung und der Repressionen nicht einmal bewusst.

Sind die Techniken der russischen Propaganda im Ausland und im Inland dieselben?

Ja, auf jeden Fall. Wobei man sagen muss, dass die Informationsblasen von Menschen innerhalb und außerhalb Russlands sich überhaupt nicht mehr berühren. Die Menschen in Russland konsumieren keine ausländischen Medien mehr.

Die Informationsblasen von Menschen innerhalb und außerhalb Russlands berühren sich überhaupt nicht mehr.  

Ein durchschnittlicher Russe wird kaum glauben, dass Putin die Unterstützung der extremen Rechten in der EU hat. Bei Demos im Westen zur Unterstützung Russlands werden im russischen TV einfach Bilder von normalen Menschen gezeigt. Die Russen verstehen nicht, dass Putin im Ausland nicht von breiten Massen an Europäern unterstützt wird, sondern vor allem von der extremen Rechten. Innerhalb Russlands sind diese Schattierungen nicht sichtbar. 

In der UdSSR erfolgte die ideologische Rekrutierung von Verbündeten im Ausland vorwiegend unter den Linken. Aus diesem Grund ist es für die russische Bevölkerung heute schwierig, an eine Zusammenarbeit des Kremls mit der extremen Rechten zu glauben. Obwohl man sagen muss, dass Putin auch mit der linken Flanke zusammenarbeitet, weil er keine Ideologie hat. Diese Komplexität ist vielen in Russland nicht klar.

Was bedeutet das für Deutschland und Europa, wenn wir immer wieder im russischen Fernsehen bestimmte, teilweise absurde oder sehr bedrohliche, Ansichten auf den Krieg in der Ukraine oder den Westen sehen?

Ich sehe derzeit im Westen keine Fähigkeiten und Mittel, um der russischen Propaganda entgegenzuwirken. Genau das ist das Problem. Selbst die baltischen Staaten, die ein besonderes Interesse an der Unterbindung der Beeinflussung aus Russland haben, kriegen das nicht hin. Sie versuchen, Strafen anzuwenden, aber ohne Erfolg. Technische Sperren können mit VPNs leicht umgangen werden. Je mehr russische Medien im Westen verboten werden, desto mehr Angriffsfläche und Grund hat Russland zu behaupten, es gebe keine Redefreiheit mehr in Europa und unangenehme – also putintreue – Meinungen würden nicht mehr geduldet, es herrsche Zensur. Das ist auch in der Tat eine Art Einschränkung von Redefreiheit und gibt der russischen Propaganda starke Trümpfe in die Hand.

Je mehr russische Medien im Westen verboten werden, desto mehr Angriffsfläche hat Russland zu behaupten, es herrsche Zensur.

Gegenwehr darf nicht durch Verbote, sondern muss mit den Mitteln eines demokratischen Diskurses erfolgen. Die russische Rhetorik sollte öffentlich diskutiert werden, prorussische Redner sollten öffentlich eingeladen und ihre Worte mit vernünftigen Gegenargumenten widerlegt werden. Die Debatte wird zeigen, wer Recht hat und wer nicht. Ich kann mir aber leider vorstellen, wie das in der Realität ablaufen würde: Die Organisatoren einer solchen Veranstaltung würden sofort beschuldigt werden, prorussische Propagandisten einladen zu wollen, oder die russischen Redner würden sich nicht bereiterklären, bei einer nicht zu ihren Gunsten manipulierbaren Debatte zu diskutieren.

Wie kann „der Westen“ Strategien finden, Gegennarrative und Fakten wirkungsvoll innerhalb der russischen Bevölkerung zu verbreiten? Insbesondere im Kontext der Zensur? 

Der Westen hat die Fähigkeit zu einer effektiven Gegenpropaganda verloren. Sie wurde an russische Medien im Exil übergeben, bei denen die ganze Diskussion darauf hinausläuft, dass Putin schlecht ist. Das ist aber keine Gegenpropaganda, denn das Publikum aller dieser Medien ist sowieso dieser Meinung.

Die Geschichte des Verbots von TV Rain in Lettland ist sehr anschaulich und zeigt einmal mehr, dass es heutzutage leider gefährlich ist, Halbtöne und Empathie gegenüber Russen zu äußern. Aber genau darum sollte es bei der Gegenpropaganda gehen! Es ist wichtig, dass wir die Befürworter des Krieges zum Nach- und Umdenken zu bringen, anstatt mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu betonen, dass sie im Unrecht sind und nicht zu den „Normalen“ gehören. 

Wie kann dann die richtige Gegenpropaganda funktionieren? 

Die Aufgabe besteht darin, die Zweifler anzusprechen, die die Exilmedien nicht erreichen. Dafür braucht man spezielle Inhalte und passende Themen. Nur dann gelingt es, einen Durchschnittsrussen vom Einfluss des Putinismus zu befreien. Die Inhalte müssen individuell auf die jeweilige Zielgruppe und in Kenntnis ihres üblichen Informationskonsums vorbereitet und zugeschnitten werden. One-Size-Fits-All-Strategien funktionieren hier nicht.