Was verrät uns die Reaktion auf den jüngsten Einbruch terroristischer Gewalt über Zustand und Befindlichkeit westlicher Gesellschaften?

Trotz des jüngsten Anstiegs terroristischer Gewalt in europäischen Ländern gilt nach wie vor, dass die überwältigende Mehrzahl der Terroropfer im Irak, in Syrien, in Afghanistan, auch in Pakistan und in afrikanischen Ländern zu beklagen ist. Auch in den 1970er Jahren kam es in Europa zu weit mehr terroristischen Anschlägen als heute. Das ist kein Grund sich zu beruhigen, aber doch ein Hinweis darauf, dass die aktuelle Situation nicht grundstürzend neu oder gar weit dramatischer ist als in früheren Jahren und anderen Weltregionen. Die terroristische Bedrohung der 1970er Jahre war Ausdruck einer inneren Zerrissenheit der Gesellschaft und der Generationen. Auch wenn die individuellen Motive der RAF- oder Brigade Rosse-Terroristen durchaus Ähnlichkeiten aufweisen, wozu die Selbstüberhöhung durch Ideologisierung eigener Untaten gehört und der Zynismus im Umgang mit dem Leben von Unbeteiligten, wird die aktuelle Zunahme terroristischer Aktionen in den westlichen Gesellschaften als Ausdruck eines asymmetrischen Krieges interpretiert. Hier gleichen sich die medialen Reaktionen im Westen und die Stellungnahmen der IS-Propaganda in hohem Maße. Es handelt sich in dieser Wahrnehmung nicht lediglich um das grausame Verbrechen einzelner Täter, sondern um eine Bedrohung der westlichen Lebensform. Genau dies wird von den Hintermännern des Terrors beabsichtigt.

Der Begriff „Terror“ ist seit jeher umstritten. IS-Kämpfer jedoch erscheinen – anders als etwa die ebenfalls ethnisch-religiös argumentierenden IRA-Kämpfer der 1980er Jahre – sehr viel stärker als irrational konnotiert. Teilen Sie diese Einschätzung?

Allein die Tatsache, dass die meisten islamistisch motivierten Terrorakte suizidal sind, lässt sie als irrational erscheinen. Die Abschreckungslogik, der wir im Krieg, mehr noch in der zivilen Gesellschaft vertrauen, funktioniert dann nicht. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass von jeher terroristische Ideologien eine besondere Anziehungskraft auf labile, verunsicherte, jüngere Männer ausüben, die ihr Selbstwertgefühl durch eine am Ende sie selbst auslöschende Überidentifikation mit einer „großen Sache“ zu stabilisieren suchen. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch die anarchistisch motivierten Terrorakte des 19. Jahrhunderts über die Pamphlete mancher Surrealisten, die RAF bis zum IS. Nach meinem Verständnis gehört zur menschlichen Vernunft die Rücksichtnahme auf andere. Wer Unbeteiligte tötet, um seinen eigenen Zielen oder den Zielen einer Ideologie zu dienen, verhält sich unvernünftig. Zudem gibt es kein einziges Beispiel in der Geschichte dafür, dass mit Terroranschlägen die angestrebten politischen Ziele erreicht worden wären.

Inwiefern ist terroristische Gewalt konzeptionell von einem Amoklauf zu unterscheiden, wenn die Zielsetzung des Terrors über rationale Interessensverfolgung hinauszugehen scheint?

Amokläufe und terroristische Gewalt sind gleichermaßen irrational. Der Unterschied besteht darin, dass terroristische Gewalt mit politischen, ideologischen oder religiösen Zielen gerechtfertigt wird, während Amokläufe Reaktionen auf persönliche Kränkungen sind. Soweit man das beurteilen kann, überlappen sich bei manchen Einzeltätern diese beiden Motive: das Gefühl persönlicher Kränkung und die Identifikation mit einer vermeintlich „großen Sache“.

Brauchen westliche Gesellschaften einen wehrhaften Humanismus? Wie müsste der aussehen?

Ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass die neuen Fanatismen und Fundamentalismen die philosophische und politische Antwort in einem vitalen Humanismus haben. Da geht es nicht lediglich um die westlichen Gesellschaften. Einige philosophische Aspekte eines erneuerten Humanismus habe ich in dem kürzlich erschienenen Band „Humanistische Reflexionen“ zusammengestellt. Der normative Kern des Humanismus kann sich auf einen erstaunlichen, internationalen, alle Kulturregionen und Staaten einbeziehenden Konsens berufen: die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und die beiden Menschenrechtsverträge aus den 1960er Jahren. Der zeitgenössische Menschenrechtsdiskurs ist kein Oktroi des Westens, sondern Ausdruck einer humanistisch begründeten ethisch-politischen Erkenntnis der globalen Zivilgesellschaft. Die Erneuerung des Humanismus in Theorie und Praxis, die ich fordere, ist nicht das esoterische Projekt eines intellektuellen Querdenkers, sondern steht auf der Agenda der Weltpolitik. Ohne eine kosmopolitische Praxis, ohne den schrittweisen Aufbau globaler institutioneller Verantwortung, lässt sich diese Agenda nicht realisieren. Deswegen habe ich der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema „Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung“ einzurichten, deren erstes Treffen am 15. Juli stattgefunden hat. Was wir gegenwärtig erleben, ist die Rückkehr antihumanistischer Praxis in Gestalt des religiösen und weltanschaulichen Fundamentalismus, in Gestalt populistischer Hetze, in Gestalt von Bürgerkrieg und Terrorismus. Der Westen hat zu dieser Situation mit unbedachten Interventionen und erratischer Bündnispolitik leider einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Die Fragen stellte Anja Papenfuß.