Das Interview führte Claudia Detsch.
Was bedeutet die Corona-Pandemie für den deutschen Arbeitsmarkt? Werden wir glimpflich davonkommen oder ist mit einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen?
Einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit erleben wir zurzeit noch nicht. Mit dem Kurzarbeitergeld haben wir ein Instrument, das Beschäftigung sichert. Deshalb war die Erleichterung beim Zugang zum Kurzarbeitergeld absolut richtig. Gleiches gilt für die Anhebung auf 70 bzw. 80 Prozent, die aus gewerkschaftlicher Sicht allerdings früher hätte erfolgen sollen. In seiner ursprünglichen Form betrug das Kurzarbeitergeld nur 60 bzw. 67 Prozent des Gehalts und führte somit zu einem Einkommensverlust von 40 Prozent bei den Beschäftigten. Ein solcher Einschnitt beim Einkommen führt dazu, dass Menschen ihre Rechnungen nicht mehr begleichen und ihre Mieten nicht bezahlen können. Es hat aber auch Auswirkungen auf die Nachfragesituation, die wir dringend stimulieren müssen.
Wie bewerten Sie die Hilfsprogramme der Bundesregierung? Sind die Hilfen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgewogen verteilt?
Wir haben die Hilfsprogramme begrüßt. Sie kamen sehr schnell und auch sehr umfassend. Allerdings haben wir immer auf soziale Schieflagen hingewiesen. So brauchen wir dringend mehr Unterstützung für Eltern, die Corona-bedingt ihre Kinder nicht in Kitas oder Schulen unterbringen können, sondern Betreuungsaufgaben übernehmen müssen. Es ist richtig, dass der Lohnersatz verlängert wurde, darauf haben die Gewerkschaften lange gedrängt. Und auch hier fordern wir eine Anhebung der Lohnersatzleistung von 60 auf 80 Prozent, um soziale Schieflagen zu vermeiden.
Wir müssen weiterhin große Anstrengungen unternehmen, um die klimapolitischen Ziele der EU bis zum Jahr 2030 zu erreichen.
Bisher gab es Liquiditätshilfen oder Eigenkapitalhilfen. Nun ist ein umfangreiches Konjunkturprogramm dringend nötig. Allerdings muss dieses Konjunkturprogramm intelligent ausgestaltet werden. Ein solches Programm muss bei den Menschen ankommen – und es muss Nachfrage sichern. Mit Blick auf die Digitalisierung, aber insbesondere auch zur Bekämpfung des Klimawandels muss es eine Lenkungsfunktion enthalten und darf kein Weitermachen wie bisher bedeuten.
Die Digitalisierung hat durch die Corona-Pandemie und die Beschränkungen des sozialen Lebens einen massiven Schub erhalten. Ist das für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eher vorteilhaft oder tun sich hier neue Gefahren auf?
Da ergibt sich ein ambivalentes Bild. Natürlich stellt mobile Arbeit für viele Menschen eine Erleichterung dar. Für viele Menschen bedeutet sie aber auch zusätzliche Belastungen. Wir müssen uns genau anschauen: Was wollen wir von dem aktuellen Schub hinüberretten in die Zeit nach Corona? Die Menschen müssen mit ordentlichen Arbeitsmitteln ausgestattet werden. Es muss eine Arbeitszeiterfassung geben, damit Arbeitgeber sich nicht an unbezahlten Überstunden bereichern. Es gibt also großen Bedarf, mobiles Arbeiten zukünftig vernünftig zu gestalten. Dazu gehört auch der Datenschutz. Wir erleben das gerade: Manche Systeme, mit denen von zuhause aus Telefonkonferenzen oder Videokonferenzen gemacht werden, sind alles andere als sicher.
Sie haben auch die Klimaziele angesprochen. Viele Unternehmen und Wirtschaftsverbände fordern jetzt, über die Klimaziele neu zu verhandeln, um die finanziellen Belastungen in Grenzen zu halten. Der richtige Weg?
Da ist das Bild im Arbeitgeber- und Unternehmerlager durchaus gemischt. Viele Unternehmen halten explizit an den Klimazielen fest. Das ist auch richtig so. Mit dem Virus wird der Klimawandel nicht gestoppt. Wir müssen weiterhin große Anstrengungen unternehmen, um die klimapolitischen Ziele der EU bis zum Jahr 2030 zu erreichen.
Sie haben in den vergangenen Wochen mehr europäische Solidarität angemahnt. Was ist falsch gelaufen?
Die anfänglichen Antworten auf die Corona-Pandemie waren zu sehr national und zu wenig europäisch koordiniert. Und auch die ersten europäischen Antworten waren noch zu zögerlich und zu kurzfristig orientiert, um dem Ausmaß dieser Krise gerecht zu werden. Erst die Vorschläge für gemeinsame europäische Anleihen des französischen Staatspräsidenten Macron und der Bundeskanzlerin vom 18. Mai deuten einen echten Richtungswechsel an. Der DGB und die französischen Gewerkschaften haben diesen wichtigen Impuls für die europäische Integration begrüßt. Jetzt müssen alle anderen Mitgliedstaaten davon überzeugt werden.
Es ist auch wichtig, dass man das Thema europäische Arbeitslosenversicherung angegangen ist. Allerdings ist das bislang viel zu wenig ambitioniert. Hier sind Kredite für die Mitgliedstaaten zur Finanzierung des Kurzarbeitergeldes vorgesehen – in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber gibt es das nicht. Wir sind noch weit entfernt von einer wirklichen europäischen Arbeitslosenversicherung, die in einem europäischen Binnenmarkt dringend erforderlich ist. Wir können nicht wirtschaftliche Freiheiten organisieren, ohne dass wir auch Sozialpolitik mit europäischen Instrumenten begleiten.
Da kommt gerne die vorwurfsvolle Frage: Wieso sollen wir für die Spanier oder Italiener zahlen? Was entgegnen Sie darauf?
Dieser Vorwurf berücksichtigt überhaupt nicht, dass Deutschland der größte Gewinner der europäischen Währungsunion ist. Wir sind das exportstärkste Mitgliedsland. Und wenn andere europäische Länder wie Spanien, Portugal, Italien oder Griechenland abstürzen, dann wird das erhebliche wirtschaftliche Folgewirkungen haben für die deutsche Exportwirtschaft. Daran kann kein Mensch Interesse haben. Deshalb ist es ein Gebot europäischer Solidarität, gerade den besonders betroffenen Ländern jetzt unter die Arme zu greifen. Wer sagt „wir zahlen die Zeche für diese europäischen Länder“, versteht die Logik des europäischen Binnenmarktes nicht.
In den nördlichen Mitgliedstaaten und insbesondere in Deutschland konnten sehr viel umfangreichere Hilfsprogramme aufgelegt werden als im Süden. Gehen deutsche Unternehmen gestärkt aus der Krise hervor? Das wäre aus deutscher Sicht doch nicht schlecht.
Das wäre nicht nur schlecht, das wäre katastrophal, eine völlige Fehlorientierung, weil wir jetzt schon erhebliche regionale Disparitäten haben. Eine weitere Verschärfung der Ungleichheit im Binnenmarkt, aber auch in der Euro-Zone, wird die gemeinsame Währung massiv in Gefahr bringen. Daran kann niemand Interesse haben. Den deutschen Unternehmen kann es auf Dauer nur besser gehen, wenn der Binnenmarkt ordentlich funktioniert.
Welche Erwartungen haben die Gewerkschaften an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die in einigen Wochen beginnt?
Deutschland kommt damit eine ganz besondere Verantwortung zu. Ich erinnere immer an das erste Kapitel des Koalitionsvertrags: Aufbruch für ein neues Europa. Da müssen jetzt praktische Taten folgen.
Den deutschen Unternehmen kann es auf Dauer nur besser gehen, wenn der Binnenmarkt ordentlich funktioniert.
Wir müssen die Koalition ernst nehmen bei ihrer Ankündigung im Koalitionsprogramm, Deutschland solle in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen. Das bedeutet auch mehr Verantwortung für den mittelfristigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Wenn wir einen vernünftigen mittelfristigen Finanzrahmen haben, der jetzt nach der politischen Verständigung im Rat der Staats- und Regierungschefs auf 2 Prozent aufgestockt werden soll, ist das die völlig richtige Maßnahme. Der entscheidende Konflikt liegt anderswo: Für welche Zwecke wird dieser EU-Haushalt und ein Europäisches Recovery-Programm verwendet und wie wird es finanziert.
Die Ziele des Green Deal und die Herausforderungen der Digitalisierung müssen wir europäisch angehen, daran hat auch Corona nichts geändert. Nationalismus und Rechtsradikalismus bedrohen unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte. Aber es geht noch um mehr: Wie schaffen wir es, dass die Europäische Union stärker, sozialer, nachhaltiger und demokratischer aus der Corona-Krise hervorgeht? Hier muss die Bundesregierung liefern und dafür sollte die deutsche Ratspräsidentschaft genutzt werden.
Es wird im Moment viel debattiert über eine Umkehrung der Globalisierung, eine Rückverlagerung von Produktionsketten. Bringt das Deutschland Vorteile oder überwiegen angesichts unserer starken Exportwirtschaft die Nachteile?
Auch das muss man sich sehr differenziert anschauen. Wir werden die Globalisierung nicht zurückdrehen können. Wir werden uns aber anschauen müssen, wie insbesondere systemrelevante Wertschöpfungsketten strukturiert sind. Wir haben erlebt, dass wir in sicherheitsrelevanten Bereichen nicht in der Lage sind, in Krisenzeiten medizinische Hilfsgüter zu produzieren. Da brauchen wir dringend eine sektorale De-Globalisierung. Das bedeutet aber nicht das Ende der Globalisierung, sondern eine Neujustierung. Wir müssen unter deutscher Ratspräsidentschaft zudem dafür sorgen, dass wir entlang der internationalen Lieferketten mehr Verantwortung der Unternehmen sicherstellen. Es kann nicht sein, dass europäische Unternehmen sich auf den internationalen Märkten mit Zulieferindustrien versorgen, die weder menschenrechtlichen Ansprüchen noch den Erfordernissen des Umweltschutzes entsprechen.
Zu Beginn der Corona-Krise wurde stark darüber debattiert, ob nun ein grundsätzlich anderes Wirtschafts- und Sozialmodell aufgelegt wird, da das Scheitern des Neoliberalismus deutlich würde. Diese Debatte allerdings scheint bereits an Kraft zu verlieren. Droht im Großen und Ganzen doch ein Weiter-So?
Ein Weiter-So wird hoffentlich nicht eintreten. Wir müssen Konsequenzen aus dieser Pandemie ziehen. Eine davon ist, dass wir einen handlungsfähigen Staat brauchen. In den letzten Jahrzehnten haben wir uns aufgrund einer falschen Politik in vielen Bereichen regelrecht zu Tode gespart – in Deutschland, aber auch in vielen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das zeigen beispielsweise die erheblichen Schwächen im Gesundheitssystem in Italien, in Spanien. Deutschland ist noch relativ glimpflich davongekommen, aber zu Lasten der Beschäftigten. Wir brauchen eine deutlich bessere Ausstattung unseres Gesundheitswesens. Wir brauchen eine vernünftige Personalbemessung. Wir brauchen eine vernünftige Bezahlung der Menschen.
In den letzten Jahrzehnten haben wir uns aufgrund einer falschen Politik in vielen Bereichen regelrecht zu Tode gespart.
Es ist schon verrückt, dass in der Krise plötzlich die Heldinnen und Helden der Arbeit gewürdigt werden, man aber auf Dauer offensichtlich nicht bereit ist, neben Wertschätzung auch entsprechende Löhne und Arbeitsbedingungen zu garantieren. Wir werden als Gewerkschaften alles daransetzen, dass diese Erkenntnisse aus der Corona-Epidemie nicht schnell wieder vergessen werden. Das muss ganz oben auf der Tagesordnung bleiben.
Frauen sind die Verliererinnen der Corona-Pandemie, wenn sie auch nicht so stark gesundheitlich betroffen sind. Sie schultern die häuslichen Belastungen und haben dadurch beruflich oft das Nachsehen. Wie lässt sich das ändern?
Die Spaltung des Arbeitsmarktes in die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist in der Corona-Krise noch einmal deutlich geworden. Es droht die Gefahr, dass sie sich sogar wieder verschärft. Das muss dringend verhindert werden. Wir brauchen ein neues Verhältnis, was die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern betrifft. Wir brauchen zudem dringend eine Aufwertung von Erwerbstätigkeit von Frauen. Wir haben in Deutschland immer noch einen sogenannten Gender-Pay-Gap von gut 20, 21 Prozent. Das ist nicht nur ein Pay-Gap, sondern ein Income-Gap, denn er zieht sich durch bis zum Ruhestand, da Frauen deutlich niedrigere Renten bekommen.
Da droht tatsächlich eine Wiederholung der Fehler, die wir zur Bewältigung der Finanzmarktkrise 2008/2009 gemacht haben: eine erneute Segmentierung zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt. Viele Frauen sind unfreiwillig im Niedriglohnsektor gefangen. Da müssen sie herauskommen. Wir haben erste Teilfortschritte, die aber auch zu spät kommen – das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit beispielsweise. Das gilt aber nur für neue Teilzeitbeschäftigte. Viele Frauen wollen längere Arbeitszeiten, können sie aber nicht durchsetzen. Und wir brauchen Anstrengungen, den Gender-Pay-Gap zu überwinden. Wo es tarifvertragliche Regelungen gibt, ist die Situation deutlich besser. Es ist also wichtig, dass die Tarifbindung in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt, wieder zunimmt.