Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Kurz nach dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine rief Deutschland seine „Zeitenwende“ aus – eine radikale Neuausrichtung der Sicherheits- und Außenpolitik. Welche Konsequenzen zieht Kanada aus dem Krieg?

Der russische Angriff auf die Ukraine verändert unsere Sicht auf die Welt. Die Annahme, man könne ein Land durch Handel demokratisieren, gilt nicht mehr. Einem Land blind zu vertrauen, wenn es um Lieferketten, Energieversorgung oder andere Belange geht, ist ein Problem – vor allem, wenn das betreffende Land unsere Werte nicht teilt.

Zudem rückt durch den Krieg unsere transatlantische Ausrichtung stärker in den Mittelpunkt. Kanada trägt die Lasten des Krieges nicht in dem Maße wie Europa, aber auch wir leisten unseren Beitrag. Wir setzen empfindliche Wirtschaftssanktionen durch. In früheren Zeiten wurden Sanktionen kurzerhand gegen ein ganzes Land verhängt, aber wir möchten mit diesem Instrument ganz gezielt die Verantwortlichen und speziell Putin treffen, und zwar finanziell.

Weitere Bereiche sind die humanitäre Hilfe und die Unterstützung für Flüchtlinge. Einwanderung zu ermöglichen, hat in Kanada eine lange Tradition. Zudem unterstützen wir die Ukraine unmittelbar militärisch mit Ausbildung, Waffen und Nachschubgütern. Allen, die an der NATO gezweifelt haben, sei gesagt: Dieser Krieg zeigt, wie wichtig es ist, dass wir eine Organisation haben, die auf gemeinsamen Werten aufbaut, die demokratische Länder schützt und den Herausforderungen begegnet, die es in der Welt gibt.

Wie sollten liberale Demokratien mit autoritär regierten Ländern umgehen? Kanadas Verhältnis zu China war in der Vergangenheit immer wieder von Spannungen geprägt. Welche Lehren müssen wir aus dem Verhalten ziehen, das Russland in jüngster Zeit an den Tag legt?

Unser Verhältnis zu China war in der Tat sehr schwierig. Zwei kanadische Staatsbürger wurden in China zu Unrecht und unter miserablen Bedingungen festgehalten. Sie haben schweres Leid erlitten. Wie gesagt: Russlands Verhalten zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir uns nicht zu sehr von einem Land abhängig machen dürfen. Wir müssen unseren Handel diversifizieren. Wir haben geglaubt, allein durch Handel könne man ein Land dazu bewegen, sich zu demokratisieren oder die Menschenrechte zu achten, aber diese Rechnung geht nicht auf. Wir müssen genauer überlegen, woher wir unsere Waren importieren, wohin wir sie verkaufen und wo wir unser Geld ausgeben. Über all diese Fragen muss neu nachgedacht werden – und zwar mit dem Ziel der Diversifizierung.

Manche Stimmen im Westen fordern, man solle die Oppositionsbewegung im Iran unterstützen, alle Verhandlungen mit dem Regime stoppen und massive Sanktionen verhängen. Nun ist der Iran aber ein wichtiger Akteur – nicht nur wegen seines Atomprogramms. Wenn man die bestehenden Beziehungen zum Regime abbricht, könnte das gravierende Folgen haben. Was ist der beste Weg?

Eines vorweg: Offener Dialog und Diplomatie sind für uns immer von Vorteil. Die Tür zuschlagen und nicht mehr miteinander reden, ist der falsche Ansatz. In Kanada gibt es eine ziemlich signifikante Zuwanderung aus dem Iran. Viele Kanadierinnen und Kanadier haben familiäre Bindungen in das Land. Um deren Familien zu helfen und dafür zu sorgen, dass Menschen nach Kanada kommen können, sind diplomatische Beziehungen essenziell wichtig. Auf der anderen Seite sollten wir unmissverständlich verurteilen, was im Iran geschieht.

Die Tür zuschlagen und nicht mehr miteinander reden, ist der falsche Ansatz.

Die USA haben in solchen Fällen häufig den Weg der Destabilisierung gewählt – mit niederschmetternden Resultaten. Dieser Weg ist erwiesenermaßen nicht der richtige. Wirklich etwas bewirken lässt sich dadurch, dass man Protestbewegungen solidarisch unterstützt. Wenn wir unsere Stimme erheben, die Protestierenden unterstützen und die Gewalt verurteilen, senden wir eine wichtige Botschaft aus. Auch Sanktionen sind ein wichtiges Abschreckungsinstrument gegen Machtmissbrauch und Missachtung der Menschenrechte.

2018 hat Kanada ein neues Handelsabkommen mit den USA und Mexiko unterzeichnet. Ihre Partei NDP hat sich anfangs dagegen gesträubt, dieses Abkommen zu unterstützen. Wie stehen Sie heute dazu?

Handelsabkommen sollten faire Handelsbedingungen schaffen und den Schutz der Arbeitnehmer und der Umwelt gewährleisten. In dieser Hinsicht gab es einige gravierende Probleme. Durch entsprechenden Druck konnten wir einige Änderungen erwirken, sodass wir das Abkommen in seiner jetzigen Ausgestaltung mittragen können. Wir wollten einen besseren Schutz für die Umwelt und die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie mehr Möglichkeiten für den Staat, souverän zu entscheiden. Freihandel darf nicht dazu führen, dass wir im eigenen Land nur noch eingeschränkt Entscheidungen zum Wohl der Menschen treffen können.

Ursprünglich sah das Abkommen zum Beispiel eine Einschränkung unserer Entscheidungsmöglichkeiten in der Energiepolitik vor. Diese Regelung wurde gestrichen. Vorgesehen war außerdem ein Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und dem Staat. Dieser Mechanismus hätte es großen Konzernen ermöglicht, den Staat zu verklagen. Das konnten wir komplett ändern. Einmal wollten wir einen bestimmten krebserregenden Stoff aus allen Produkten in Kanada verbannen. Dieses Verbot hätte sich auf den Import ausgewirkt. Daraufhin wurden wir verklagt, weil das nach dem bestehenden Abkommen unzulässig war. Durch diesen Streitbeilegungsmechanismus wurden also unsere gesundheitspolitischen Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt. Bei dem jetzigen Abkommen konnten wir das zum Glück ändern. Viele Punkte, die uns Bauchschmerzen bereitet haben, wurden geändert, sodass wir das Abkommen am Ende mittragen konnten.

Wir hätten uns einen konsequenteren Schutz der Arbeitnehmerrechte gewünscht.

Trotzdem gibt es nach wie vor manches, was uns Sorgen bereitet. Wir wollen unsere Landwirtschaft und unseren Lebensmittelsektor schützen. Leider mussten wir auf einige Bestimmungen verzichten, mit denen wir die kanadische Milchwirtschaft schützen wollten. Das ist ein Problem, aber dieses ist nicht so gewichtig, als dass wir uns deswegen gegen das Abkommen gestellt hätten. Wir hätten uns einen konsequenteren Schutz der Arbeitnehmerrechte gewünscht, weil viele gut bezahlte Arbeitsplätze durch schlechter entlohnte Jobs in Mexiko ersetzt werden, wo die Rechte der Arbeitnehmer nicht so geschützt werden wie hier. Hier wünschen wir uns für die Zukunft Nachbesserungen.

Die Inflation in Kanada ist zwar nicht so hoch wie in Europa, bewegt sich aber immerhin um die sieben bis acht Prozent. Welche Maßnahmen halten Sie für geeignet, um die Inflation wirksam zu bekämpfen und die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten?

Durch eine dichte Abfolge von Krisen wurden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stark belastet. Während der Pandemie verloren viele Menschen ihren Arbeitsplatz, während große Konzerne wie Amazon oder Walmart Rekordgewinne machten. Die Arbeitnehmer leiden, die Milliardäre machen Profit. Dasselbe erleben wir jetzt infolge der Inflation und der steigenden Lebenshaltungskosten. Kanadas arbeitende Bevölkerung leidet, und die großen Lebensmittelketten streichen gigantische Profite ein. Auch die Öl- und Gasunternehmen in der ganzen Welt erzielen im Augenblick Rekordgewinne.

Kanada hat auf die Inflation mit einer Anhebung der Zinssätze reagiert. Das allein reicht aber nicht, um das eigentliche Problem zu lösen: die Profitgier der Unternehmen. Viele prosperierende Konzerne nutzen die Inflation als Vorwand, um die Preise zu erhöhen und Gewinne zu machen auf dem Rücken von Menschen, die ohnehin schwer zu kämpfen haben. Die Zufallsgewinnsteuer zur Abschöpfung von übermäßigen Profiten der Öl- und Gaskonzerne ist eine Möglichkeit, Druck auf diese Unternehmen auszuüben, damit sie nicht aus dem Krieg Kapital schlagen.

Zudem ergreifen wir in Kanada Maßnahmen, um den Anstieg der Lebensmittelpreise in den Griff zu bekommen. Zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger haben wir verstärkt direkte Finanzhilfen auf den Weg gebracht, die nach Einschätzung von Ökonomen die Inflation nicht verstärken, weil sie gezielt an die Bedürftigen fließen. Viele Familien entlasten wir dadurch, dass wir ihnen bei Zahnbehandlungen und anderen Gesundheitsdienstleistungen finanziell unter die Arme greifen. Hinzu kommen direkte Mietzuschüsse. Diese ganzen Maßnahmen werden helfen, aber wir wollen noch mehr tun. Unter anderem fordern wir Maßnahmen zur Senkung der Energiekosten in diesem Winter. So sieht unsere Inflationsbekämpfung aus: Wir rücken die Arbeitnehmer in den Mittelpunkt, gehen gegen die Profitgier der Unternehmen vor und federn die Auswirkungen für die arbeitende Bevölkerung ab, damit sie nicht auf sich gestellt ist.

Die Bilder von kanadischen Lkw-Fahrern, die gegen Corona-Auflagen und die Impfpflicht protestierten, gingen um die Welt. Wie stark ist die kanadische Gesellschaft polarisiert?

Sie ist bei Weitem nicht so stark polarisiert wie in den USA, aber mit Sicherheit viel stärker polarisiert als früher. Der Zorn auf Politiker und Politikerinnen ist in einem bisher ungekannten Maß zur Normalität geworden. Ihre Unzufriedenheit haben die Menschen immer schon artikuliert, aber die Wut hat ein gefährliches Maß erreicht, bis hin zu Gewalt und Drohungen gegen Politiker. Der Lkw-Konvoi war ein Versuch rechtsextremer Gruppierungen, die Menschen zu radikalisieren. Die Protestler schwenkten die Konföderiertenflagge, die mit Kanada überhaupt nichts zu tun hat. Sie ist ein Symbol der extremen Rechten in den USA, ein Symbol der Sklavenhaltergesellschaft.

Rechtsextreme Gruppierungen müssen zerschlagen werden.

Was mir Sorgen bereitet, sind zwei Dinge. Zum einen gibt es Menschen, die Hass und Spaltung propagieren. Diese Leute müssen gestoppt werden. Rechtsextreme Gruppierungen müssen zerschlagen werden. Dem Hass im Internet müssen wir durch Regulierung den Boden entziehen.

Zum anderen gibt es Normalbürger, die den Eindruck haben, in einem manipulierten System zu leben, und sich darüber empören. Sie haben das Gefühl, dass sie immer mehr bezahlen müssen und es ihnen immer schlechter geht. Wenn das Gesundheitssystem nicht funktioniert, man sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann und die Lebensmittel teurer werden, löst das bei den Menschen Wut und Frustration aus. Dann melden sich die Rechten zu Wort und machen sich diese Wut zunutze, indem sie zum Beispiel alles auf die Zuwanderung schieben.

Ich sehe unsere Aufgabe als Linke darin, dass wir den Menschen sagen: Wir hören euch, wir sehen euch, eure Wut ist real. Und: Wir müssen den Menschen Hoffnung geben, indem wir ihre Probleme lösen – indem wir sie finanziell stärker unterstützen und etwas gegen die hohen Lebensmittelpreise unternehmen. Wenn Menschen aufgebracht und frustriert sind, müssen wir sie vor Ausbeutung schützen und die materiellen Rahmenbedingungen verbessern. Damit wirken wir auch der Polarisierung entgegen, isolieren die extreme Rechte und drängen sie zurück. Im Augenblick habe ich allerdings die Sorge, dass mit der Wut auch die Chancen zunehmen, dass die Menschen sich radikalisieren lassen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld