Die Fragen stellte Anja Wehler-Schöck.
Die AfD hat bei der Bundestagswahl am Sonntag zwar bundesweit Einbußen erlitten, konnte in Sachsen aber stärkste Kraft werden. Hat die AfD bundesweit ihren Zenit überschritten und ist nun nur noch ein regionales Phänomen?
Das Ergebnis der sogenannten „Alternative für Deutschland“ ist immer noch zweistellig. Und selbst wenn sie nicht mehr im Parlament vertreten wäre, ist das rechtsextreme Gedankengut ja noch da – mehr oder weniger versteckt in anderen Parteien. Der Kampf gegen Extremismus ist leider ein dauerhafter. Es gibt keinen Grund zum Aufatmen, nur weil die AfD ein oder zwei Prozentpunkte verloren hat. Besonders beunruhigend ist die Tatsache, dass es Bundesländer gibt, in denen solche Rechtsextremisten stärkste Kraft werden.
Rund 5 Millionen Menschen haben ihre Stimme bei der Bundestagswahl der AfD gegeben. Sie lehnen es konsequent ab, sich mit Vertretern der AfD auf ein Podium zu setzen. Welchen Platz hat die AfD als gewählte Partei in unserem politischen System und wie sollten wir mit ihr umgehen?
Ich bin ein Freund davon, mit möglichst allen zu reden und andere Meinungen nicht zu diffamieren. Man muss sie weder teilen noch mögen, aber man muss sie zulassen. Allerdings gibt es in einem zivilisierten Miteinander immer Grenzen des Zulässigen. Wenn jemand sagt: „Ich komme mit Muslimen insgesamt nicht zurecht“ – meinetwegen. Wenn aber jemand sagt, „Wir müssen die alle abknallen!“, dann ist das nicht zulässig. Über diese Grenzen müssen wir uns klar werden. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, man muss in der Gesellschaft darüber verhandeln.
Es gibt keinen Grund zum Aufatmen, nur weil die AfD ein oder zwei Prozentpunkte verloren hat.
Aber es gibt bestimmte Prinzipien, die sind glasklar und unverrückbar: Wir können zum Beispiel nicht darüber abstimmen, ob wir jemanden hinrichten. Die AfD ist so oft über diese Grenzen gegangen – absichtlich, sie spielt damit –, dass sie mitverantwortlich ist für gefährliche Grenzverschiebungen, die wir in unserer Gesellschaft erleben. Es gibt Situationen, in denen man mit AfD-Vertretern reden kann. Aber ich möchte ihnen keine Plattform bieten und so tun, als würden sie eine völlig legitime, akzeptable Meinung vertreten, als wären sie eine Stimme im demokratischen Spektrum. Das sind sie nicht. Ich könnte stundenlang Zitate bringen von AfD-Politikern, in denen es darum geht, Menschen zu vergasen, abzuknallen, in den Graben zu schmeißen und mit Löschkalk zu bedecken. Das ist eine unfassbar menschenverachtende, gewaltverherrlichende Sprache, die im demokratischen Spektrum keinen Platz hat. Deswegen: Wenn wir schon mit ihnen reden müssen, weil sie im Parlament sitzen, dann auf einem niedrigen Niveau. Aber gewiss nicht akzeptierend und auf Augenhöhe.
In den Tagen vor der Bundestagswahl hat die Gewalttat von Idar-Oberstein für große Erschütterung gesorgt. Steht sie für einen Trend in Deutschland, dass Hassrhetorik immer häufiger in Gewalt mündet?
In der Tat zeigt der Mord, dass es in den vergangenen Jahren eine Grenzverschiebung gegeben hat, dass Leute immer radikaler werden und dass auf Worte auch Taten folgen. Sogenannte Querdenker und Verschwörungsideologen sind eben nicht nur harmlose Leute, die dummes Zeug reden, sondern ihre Worte haben physische Gewalt zur Folge. Auch nach der Ermordung von Walter Lübcke hat man gesehen, dass die Entwicklungen im Nachhinein kleingeredet wurden. Es wird so getan, als sei die Hetze nur „Meinungsäußerung“ – als könnten diejenigen, die sie betrieben, nichts dafür, dass sie dann tatsächlich zur Gewalt führe. Das zeigt auf erschreckende Weise, dass wir viel mehr darauf achten müssen, wie wir reden.
In manchen Foren ist die Tat von Idar-Oberstein gefeiert worden. Was können, was müssen wir dagegen tun?
Das Wichtigste ist, dass man so etwas nicht hinnimmt, dass man nicht alles unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit konsequenzlos durchgehen lässt. Natürlich darf man zunächst einmal alles sagen. Aber man trägt für seine Worte Verantwortung. Und wenn Leute durch die Gegend rennen und von „Diktatur“ reden und die Demokratie und das Existenzrecht der gewählten Regierenden in Frage stellen, dann muss man dem begegnen und sagen: so nicht!
Das Beispiel Idar-Oberstein ist ein ganz typisches. Natürlich darf man die Maskenpflicht kritisieren. Man darf auch das Tragen der Maske doof finden. Es bleibt jedem überlassen, die Notwendigkeit einzusehen oder nicht. Wenn ich sie nicht einsehe, muss ich die Konsequenzen tragen, zum Beispiel eine Strafe zahlen oder einen Ort verlassen. Man darf Dinge kritisieren und in Frage stellen. Aber wenn die Legitimität demokratischer Entscheidungen in Frage gestellt, Gewalt herbeifantasiert und Journalisten an den Galgen gewünscht werden, dann darf das so nicht stehenbleiben. Jeder von uns muss dem etwas entgegensetzen – egal, wo man politisch steht.
Bestimmte Äußerungen sind deswegen für mich absolut inakzeptabel. Vor ein paar Tagen schrieb Friedrich Merz zu den pandemiebedingten Restriktionen auf Twitter: „Wir sehen, wieviel gesellschaftlichen Dissens die Maßnahmen verursachen.“ Da hat er recht, das tun sie. Aber so kann man sich doch nicht inmitten der Debatte um einen Mord äußern – als wäre die Tat Ausdruck eines „gesellschaftlichen Dissenses“. Diese Sprache normalisiert Gewalt. Sie rückt die Tat in den Bereich des normalen, akzeptablen Miteinanders. Das geht nicht. Dem muss man etwas entgegnen.
Natürlich darf man zunächst einmal alles sagen. Aber man trägt für seine Worte Verantwortung.
Was heißt das konkret für jeden Einzelnen von uns?
Man muss den Mund aufmachen, wenn man so etwas sieht oder hört, und dagegenhalten. Vermeintliche Argumente entlarven. Gegendemonstrationen organisieren. Das gilt übrigens auch für den privaten Bereich. Es geht nicht nur um Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sondern um jeden Einzelnen. Es ist wichtig, klare Kante zu zeigen: „Das ist nicht in Ordnung, was du da sagst!“ Das ist schwierig, weil es zu Brüchen führen kann – teilweise quer durch Familien. Aber wir müssen diese Auseinandersetzung suchen, sonst normalisieren wir diesen extremistischen Diskurs.
Reicht es aus, verbal dagegenzuhalten? Oder müssen auch verstärkt strafrechtliche Maßnahmen und Verbote zum Einsatz kommen? Denken wir beispielsweise an die Abschaltung von Donald Trumps Twitter-Konto.
Ich bin nicht der Ansicht, dass wir neue Gesetze brauchen. Das ist allerdings ein Impuls, den Politiker oft sehr schnell haben. Mord, Morddrohungen, Beleidigung ab einem bestimmten Grad – das war schon immer strafbar. Warum sollte es das im Internet nicht sein? Was wir brauchen, ist eine konsequente Umsetzung geltender Gesetze – auch im Internet. Onlineplattformen wie Twitter und Facebook sind keine rechtsfreien Räume. Es muss ein Bewusstsein für Strafbarkeit geben und eine schnellere und einfachere Verfolgung. Es gibt mittlerweile verschiedene Plattformen, bei denen man Hassrede melden kann. Aber es greift noch nicht wirklich. Vor ein paar Monaten bin ich auf Twitter bedroht worden. Ich entschied mich für den klassischen Weg und ging zur Polizei. Ich zeigte ihnen den Tweet und wollte Anzeige erstatten. Da sagte der Polizist: „Warum löschen Sie das nicht einfach?“ Ich musste ihm erst einmal erklären, wie Twitter funktioniert. Wenn es schon so anfängt, dann weiß ich: Diese Anzeige wird zu nichts führen, weil es gar kein Problembewusstsein gibt. Statt über neue Gesetze zu diskutieren sollte man sich der Verbesserung der Ausbildung von Beschäftigten in der Justiz und bei der Polizei widmen.
Neben Rassismus ist auch die Ablehnung von Corona-Maßnahmen zu einer dominanten Facette von Hassrede im Internet geworden. Wie greifen diese Facetten ineinander?
Es war erstaunlich zu sehen, wer bei den Corona-Demos alles aufeinandertraf. Am Anfang habe ich immer wieder von Leuten gehört, die sagten: „Ich bin doch nicht rechts!“ Und tatsächlich gab es viele Leute, die dort einfach ihrem Unmut Luft machen wollten. Es trafen unterschiedliche Arten von Unmut aufeinander – gegen die Restriktionen, gegen Einwanderung. Was die verschiedenen Gruppen eint, ist die Wut auf diejenigen, die die Macht haben. Dieses Gefühl der Ohnmacht: Andere entscheiden etwas, was uns nicht passt. Ich glaube, deswegen stoßen auch die Grünen mit vielen Dingen, die sie fordern, bei manchen auf so massiven Widerstand – alles wird sofort als Verbot aufgefasst: Jetzt wollen die uns das Fleisch wegnehmen oder das Fliegen untersagen! Jedes Andersdenken wird sofort als ein persönlicher Angriff auf die eigene Freiheit, auf die eigenen Entscheidungsbefugnisse wahrgenommen. Das kippt sehr schnell in ein „wir gegen die“, auch wenn dieses „wir“ sehr heterogen ist.
Laut einer aktuellen Studie der Bosch-Stiftung sorgen sich 65 Prozent der Befragten häufig um den Zustand der Demokratie in Deutschland. Sie auch?
Ich kann das nachempfinden. Grundsätzlich glaube und hoffe ich, dass wir eine stabile Demokratie haben, die im Wesentlichen funktioniert. Wenn ich mir im Vergleich andere Länder anschaue, in denen ich gelebt habe – etwa die Türkei oder Pakistan –, dann habe ich keine Sorge, dass die Demokratie bei uns von jetzt auf gleich kippen könnte. Aber wenn ich höre, wieviel Verachtung aus manchen Worten spricht – gegen den Staat, gegen unser System – und wieviel Zustimmung solche Ansichten erfahren, dann kommen mir schon Zweifel. Es führt einem vor Augen, dass Demokratie und Freiheitsrechte nie als gegeben betrachtet werden können, sondern dass man sie immer wieder neu erkämpfen muss. Das ist wie Lesen und Schreiben. Man lernt das, aber es kommen immer wieder neue Kinder, und jedes Kind muss es für sich neu lernen. So muss auch jede Generation Demokratie neu lernen.
Was die verschiedenen Gruppen eint, ist die Wut auf diejenigen, die die Macht haben.
20 Prozent der Befragten gaben in dieser Studie an, dass eine Diktatur unter Umständen die bessere Staatsform sei. Die Hälfte der Befragten sah Politiker als Marionetten der dahinterstehenden Mächte. Droht Deutschland eine Zunahme autoritärer Tendenzen?
Das befürchte ich. Diese Tendenz, dass in Krisensituationen nach der starken Hand gerufen wird – meistens nach dem „starken Mann“ –, die gibt es weltweit. In der Türkei fuhr Erdogan damit sehr gut. Zu manchen Zeiten hätte beispielsweise die Todesstrafe bei uns in Deutschland eine Mehrheit erhalten, obwohl das Grundgesetz klar dagegenspricht. Ganz unabhängig davon: Ein zivilisierter Staat kann Gefängnisstrafen verhängen, aber er bringt zur Strafe keine Menschen um! Diese Sehnsucht nach dem Autoritären gibt es immer wieder. Deswegen bin ich kein Befürworter von Volksabstimmungen. Viele Probleme in einer Gesellschaft sind so komplex und erklärungsbedürftig, dass man sie nicht in eine Ja-Nein-Frage pressen kann. Das Risiko, dass autoritäre Strömungen sich das zunutzemachen und an Einfluss gewinnen, ist dabei sehr hoch. Wie schief das gehen kann, sieht man zum Beispiel am Brexit – einer Katastrophe für das Land.
Das klingt nach einem Widerspruch: Einerseits befürchten die Menschen, dass ihnen zu viel verboten wird, andererseits wünschen sie sich eine starke Hand.
Das ist in der Tat widersprüchlich, aber das liegt im menschlichen Wesen. Diese Menschen haben nichts gegen Verbote und harte Forderungen, solange sie ihren Interessen entsprechen. Wenn jemand sagen würde, „Wir verbieten Zuwanderung!“, dann wären sie begeistert. In dem Moment, wo es heißt, „Wir verbieten Inlandsflüge!“, werden sie sich über die Einschränkung ihrer individuellen Freiheit beklagen. Eine zivilisierte Gesellschaft muss so geregelt sein, dass es einen Interessensausgleich gibt. Das Ziel muss sein, dass alle irgendwie sagen können: Ich kann mit dieser Situation leben. Das ist nicht einfach. Das ist die herausfordernde Aufgabe von Politik.
Wenn Sie sich von der neuen Bundesregierung – wie sie auch aussehen mag – etwas wünschen dürften, was wäre das?
Ich wünsche mir, dass die neue Bundesregierung so arbeitet, dass Gräben überwunden werden, dass man wieder miteinander redet, dass man an einem Strang zieht, dass man ein fröhliches Land ist, ein Land, in dem man gerne lebt. Ob das gelingt? Schauen wir mal.