Das Interview führte Anja Wehler-Schöck.

Die letzte Woche stand ganz im Zeichen der Verhandlungen des Westens mit Russland. Nach den OSZE-Gesprächen am Donnerstag verlangte Russland eine schnelle Entscheidung über die geforderten Sicherheitsgarantien und drohte, andernfalls Truppen auf Kuba oder in Venezuela zu stationieren. Der russische Außenminister sagte, er sehe derzeit keinen Grund für weitere Gespräche, Russland werde zu anderen Maßnahmen greifen. Was erwartet uns jetzt? Droht die Eskalation?

Ich bedauere die jüngsten Reaktionen der russischen Regierung und hoffe immer noch, dass es ein Umdenken bei den Verantwortlichen gibt. Es wäre gut, wenn sich der russische Premierminister, der Verteidigungsminister und der Präsident zu den Gesprächen äußern würden. Ich habe immer noch die Erwartung und die Hoffnung, dass die verschiedenen Gesprächsformate der vergangenen Woche fortgesetzt werden. Dazu gibt es auch keine vernünftigen Alternativen. Die USA haben zurecht versucht, die Temperatur durch bilaterale und direkte Gespräche runterzudrehen. Man kann das Temperaturlevel jedoch nur halten, wenn man neben der eigenen Darlegung auch die Sicherheitsbedrohungen der jeweils anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen versucht – ohne sie zu teilen. Erst dann sind Gespräche und daran anschließende belastbare Verhandlungen möglich.

Der NATO-Russland-Rat hat am 12. Januar zum ersten Mal seit 2019 wieder getagt. Allerdings sind sich die NATO und Russland dabei nicht wirklich nähergekommen. Wie wird es mit dem NATO -Russland-Rat weitergehen?

Der NATO-Russland-Rat ist ein wichtiges Instrument. Ich hätte mir von dem Treffen auch mehr versprochen. Es ist ja nicht die erste Krise zwischen dem Westen und Russland. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim wurde dieses Gremium leider nicht genutzt – das hätte möglicherweise zur Konfliktentschärfung beigetragen. Umso wichtiger ist es, dass dieses Instrument nun wiederbelebt wurde. Wir brauchen jetzt Verhandlungen über Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen.

Ich habe immer noch die Erwartung und die Hoffnung, dass die verschiedenen Gesprächsformate der vergangenen Woche fortgesetzt werden.

Die Enttäuschung über die ausgebliebenen Ergebnisse der Gespräche vergangene Woche reiht sich in die allgemeine Ernüchterung ein, die viele Menschen verspüren, die in den vergangenen Jahren an politischen Dialogformaten beteiligt waren. Wie könnte der Austausch neues Momentum zu gewinnen?

Ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, dass der Dialog in der Vergangenheit zu gar nichts geführt hätte. Ich glaube, es liegt nicht an den Formaten, sondern am mangelnden Willen, diese zu ernsthaften Gesprächen über vertrauensbildende Maßnahmen zu nutzen und Auswege aufzuzeigen. Leider gab es in der Vergangenheit dazu wenig Bereitschaft, sowohl in Moskau als auch bei einigen Regierungen, deren Länder der NATO angehören.

Ein Stichwort, das mit Blick auf die Zusammenarbeit mit Russland regelmäßig fällt, ist Rüstungskontrolle. Wie könnten neue Ansätze auf diesem Gebiet aussehen?

Man muss die eigenen Bedrohungswahrnehmungen offen darlegen und auch die der anderen Seite zu verstehen versuchen – auch und gerade dann, wenn man sie nicht teilt. Dass die russische Seite – damals noch als Vertragspartner im INF-Vertrag – gegen dessen Vereinbarungen verstoßen hat, scheint mir belegt zu sein. Aber wir müssen uns gleichzeitig auch bewusst machen, dass die Stationierung der Raketenabwehrsysteme der USA in Polen und Rumänien und deren Verknüpfung mit NATO-Fähigkeiten eine zusätzliche sicherheitspolitische Herausforderung für Russland bedeutet. Hinzu kommt die Überarbeitung der Nuclear Posture Review durch die Biden-Administration, beispielsweise der Verzicht auf den nuklearen Erstschlag. Das wäre ein beachtlicher Baustein zur Vertrauensbildung und Bedrohungsminderung aus russischer Sicht. Wenn wir dann das von russischer Seite angebotene Moratorium bei der Stationierung neuer Waffensysteme und den Abbau von nuklearen Fähigkeiten einbeziehen könnten, wäre schon eine Menge gewonnen. Gleichzeitig müssen wir die NATO-Russland-Grundakte und die Charta von Paris mit neuem Leben erfüllen und der Europäischen Union eine stärkere Rolle zuweisen.

Man muss die eigenen Bedrohungswahrnehmungen offen darlegen und auch die der anderen Seite zu verstehen versuchen – auch und gerade dann, wenn man sie nicht teilt.

Mit Blick auf die NATO-Osterweiterung warnen die einen, dass die NATO ihre Glaubwürdigkeit riskiert, wenn sie Putin quasi ein Vetorecht über die Aufnahme von Georgien und der Ukraine gibt. Die anderen sagen, dass Putin sich zurecht bedroht fühlt, wenn die NATO Russland „einkreist“. Wie sieht die Zukunft der NATO in Osteuropa aus?

Russland kann natürlich kein Vetorecht bei der freien Bündniswahl souveräner Staaten für sich beanspruchen. Gleichzeitig erfüllen Georgien und die Ukraine auf absehbare Zeit nicht die Kriterien für eine NATO-Mitgliedschaft. Die NATO wird es aber solange geben, bis der Konflikt mit Russland beendet ist und wir eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands verwirklichen können. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) könnte dafür ein Dach bilden. Ich habe dies – im Rückgriff auf schon länger zurückliegende Überlegungen aus der Zeit des Kalten Krieges – als „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ beschrieben. Auch wenn mir klar ist, dass ich von interessierter Seite als unrealistischer Russlandfreund abgestempelt werde, bleibe ich dabei: Wir brauchen neben der Herstellung einer militärischen Rückversicherung auch eine langfristige Perspektive für eine die Blöcke überwölbende Sicherheitsarchitektur.

Die USA und Russland haben vergangene Woche in Genf über die Sicherheit in Europa verhandelt, ohne dass die EU mit am Tisch saß. Müssen wir uns Sorgen machen, dass unsere Zukunft ohne unsere Beteiligung entschieden wird?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Entscheidungsträger in Washington europäische Interessen ebenso mitdenken. Allerdings müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass die USA nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges den Schwerpunkt auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa legen. Der Fokus liegt eindeutig auf Asien. Daraus müssen wir die entsprechenden Konsequenzen ziehen.

Jossep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, hat sich zurecht beklagt, dass es keine Konsultationen mit der EU gegeben habe. Das sollte man allerdings nicht nur festhalten, sondern daraus auch die erforderlichen Schlüsse ziehen. Deshalb wäre es gut, wenn bald – am besten noch im März – der „Strategische Kompass“ der EU mit den vier „Körben“ – Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeiten und Partnerschaften – verabschiedet werden würde. Derart einschneidende Ereignisse wie die der letzten Monate müssen wir als Wendepunkte begreifen und nutzen, ähnlich dem Irakkrieg 2003. Damals hatte sich die EU unter Javier Solana eine Sicherheitsstrategie gegeben. Diese müssen wir jetzt klug ergänzen.

Die NATO wird es solange geben, bis der Konflikt mit Russland beendet ist und wir eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands verwirklichen können.

In vielen Kommentaren hieß es, die Europäer hätten bei den Gesprächen zwischen den USA und Russland nicht mit am Tisch gesessen, weil sie schlicht nichts anzubieten hätten. Was muss sich ändern, damit die EU künftig auf Augenhöhe mitverhandelt?

Ich glaube, dass diese Wahrnehmung von einem zu einseitigen Fokus auf militärische Fähigkeiten geleitet ist. Da kann sich Europa verbessern, wenn es sich noch stärker darauf konzentriert und seine Fähigkeiten bündelt und Synergien schafft. So sollten wir uns im Sinne einer Sicherheitsgemeinschaft darauf verständigen, dass einzelne Länder bestimmte Fähigkeiten bereithalten und andere bewusst darauf verzichten. Das würde große Ersparnisse und eine größere Effizienz bedeuten. Was wir auf der anderen Seite anzubieten haben ist, dass wir Sicherheitspolitik eben als mehr verstehen als nur militärische Beiträge. Für uns zählen dazu Diplomatie, kluge außenpolitische Initiativen und insbesondere auch die Fähigkeit, über wirtschaftliche Zusammenarbeit Anreize zu schaffen, damit man in Europa friedlich zusammenleben kann.

Die Ostpolitik ist in Deutschland untrennbar mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr verbunden. Welche Lehren können wir für die heutige Situation aus ihrer Politik ziehen?

Zum einen hätte es ohne den visionären Anspruch Willy Brandts keine Ostpolitik gegeben. Man muss also, ohne die außenpolitischen Realitäten zu missachten, eine Vorstellung davon haben, wohin man will – auch wenn die Ziele in weiter Ferne liegen mögen. Von den Protagonisten der Entspannungspolitik können wir mit Sicherheit lernen, die Welt auch mit den Augen der anderen zu sehen. Das betrifft einerseits die osteuropäischen Partnerstaaten der NATO und der Europäischen Union. Andererseits gilt das eben auch für Russland und anderer Staaten, die früher zur Sowjetunion gehört haben. Das müssen wir mit bedenken und in mögliche Vorschläge einbetten. Eine solche Linie steht in der Tradition von Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, aber auch europäischer Partner wie Bruno Kreisky, Olof Palme und viele anderer. Das können wir auch heute anwenden, ohne zu behaupten, die damalige Politik wäre eins zu eins auf die heutige Situation übertragbar. Wir müssen schon eine Entspannungspolitik auf der Höhe der Zeit machen.