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Das Interview mit Thomas Piketty führte Nikolaos Gavalakis.
Eine zentrale Aussage Ihres neuen Buches lautet „Ungleichheit ist eine Ideologie.“ Sie sei nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Wie gelangen Sie zu dieser Feststellung?
Das Wort „Ideologie“ ist in meinem Buch nicht negativ besetzt. Alle Gesellschaften brauchen Ideologie, damit sie ihr Maß an Ungleichheit mit einer bestimmten Vorstellung davon rechtfertigen können, was gut ist für eine Gesellschaft. Es gab in der Geschichte noch keine einzige Gesellschaft, in der die Reichen gesagt hätten: „Wir sind reich, ihr seid arm – und basta“. Das funktioniert nicht. Die Gesellschaft würde sofort zusammenbrechen.
Die herrschenden Gruppen müssen immer ein raffiniertes Narrativ aufbieten. Sie müssen sagen: Mag sein, dass wir reicher sind als ihr, aber das ist gut für die Gesellschaft insgesamt, weil wir in eurem Interesse für Ordnung und Stabilität sorgen. Weil wir euch – wie der Klerus oder das Ancien Régime – geistige Führung bieten. Oder weil wir euch mehr Innovation, Produktivität und Wachstum bescheren. Diese Narrative sind natürlich nicht immer restlos überzeugend. Manchmal dienen sie auch ausschließlich den eigenen Interessen. Es ist Heuchelei im Spiel, aber eine gewisse Mindestplausibilität müssen diese verschiedenen Diskurse schon haben. Sie dürfen nicht vollkommen falsch sein. Wenn sie offensichtlich nicht stimmen, funktioniert das Ganze nicht.
In meinem Buch nehme ich das, was ich „Ungleichheitsregime“ nenne, historisch unter die Lupe. Ein Ungleichheitsregime ist ein System, mit dem ein bestimmtes Maß an Gleichheit und Ungleichheit gerechtfertigt werden soll. Diese Regime machen, wie ich in dem Buch zeige, durchaus Lernfortschritte in Sachen Gerechtigkeit. Über einen langen Zeitraum ist tatsächlich ein gewisser Abbau von Ungleichheit zu beobachten. Wir haben gelernt, wie man Gleichheit und den gleichberechtigten Zugang zu Bildung besser organisiert und Steuersysteme stärker einkommensabhängig gestaltet, und haben auf diese Weise Fortschritte erzielt.
Der Fortschritt und die ideologische Auseinandersetzung dauert jedoch weiterhin an. Konkrete historische Veränderungen sind das Ergebnis von Ideen- und Ideologiekonflikten und nicht nur von Klassenkonflikten. Nach der alten marxistischen Vorstellung hing es von der eigenen Klassenzugehörigkeit ab, wie man die Welt sah, welche Ideologie man hatte und welche Wirtschaftsordnung man sich wünschte. In Wirklichkeit ist die Sache viel komplizierter, denn es gibt für ein und dieselbe Klassenzugehörigkeit unterschiedliche Möglichkeiten, das System der Eigentumsverhältnisse, das Bildungswesen und das Steuersystem zu organisieren. Es gibt also immer gewisse Spielräume für ideologische Entwicklungen und Ideen.
Trotz alledem entscheiden sich in Demokratien die Menschen durch Wahlen gemeinschaftlich dafür, in solchen ungleichen Gesellschaften zu leben. Warum ist das so?
Zum einen lässt sich das richtige Maß an Gleichheit oder Ungleichheit nur schwer bestimmen, und zum anderen ist Ungleichheit nicht immer etwas Schlechtes. Die Menschen verfolgen oft unterschiedliche Lebensziele. Die einen legen großen Wert auf finanziellen Erfolg, anderen sind andere Ziele wichtiger. Das richtige Gleichheitsmaß zu ermitteln, ist also ein schwieriges Unterfangen.
Wenn ich sage, dass die entscheidenden Faktoren für Ungleichheit ideologisch und politisch sind, soll das nicht heißen, dass diese einfach verschwinden sollen und wir damit auf einen Schlag vollkommene Gleichheit erreichen. Die richtige Balance zwischen den Institutionen zu finden ist für jede Gesellschaft eine ausgesprochen komplexe Aufgabe. Und auf lange Sicht wird die Ungleichheit ja auch in gewissem Umfang abgebaut. Ich bin der Meinung, dass wir mehr Gleichberechtigung beim Zugang zu Eigentum und Bildung brauchen. Darauf können wir weiter hinarbeiten.
Der Zusammenbruch des Kommunismus führte zu einer Ernüchterung in der Frage, ob es eine andere Wirtschaftsordnung als den Kapitalismus geben kann.
Geschichte ist bekanntlich kein linearer Prozess. Im Laufe der Zeit wurden Gleichheitsfortschritte erzielt, die im 20. Jahrhundert auch mehr wirtschaftlichen Wohlstand mit sich brachten. Aber es gab auch Rückschläge. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte zu einer Ernüchterung in der Frage, ob es eine andere Wirtschaftsordnung als den Kapitalismus geben kann. Das erklärt zum größten Teil, warum die Ungleichheit seit Ende der 1980er-Jahre zugenommen hat.
Heute – 30 Jahre später – kommt uns allmählich zu Bewusstsein, dass wir womöglich zu weit in die andere Richtung gegangen sind. Deshalb fangen wir inzwischen wieder an, darüber nachzudenken, wie man das Wirtschaftssystem verändern könnte. Zudem rücken die neuen Herausforderungen durch den Klimawandel und die ökologische Krise die Frage, wie wir das Wirtschaftssystem umbauen müssen, verstärkt in den Blickpunkt. Da ist ein komplexer Prozess im Gange, in dem die Gesellschaften versuchen, aus ihren Erfahrungen zu lernen.
Bisweilen vergessen Gesellschaften, wie es in früheren Zeiten zuging. Das führt zu Überreaktionen. Die Gesellschaften gehen dann zu weit in die entgegengesetzte Richtung. Aber wenn wir – und das bezwecke ich mit meinem Buch – historische Erfahrungswerte hinzuziehen, fällt es leichter, aus den positiven Erfahrungen der Vergangenheit die richtigen Lehren zu ziehen.
Sie sagen, dass Ungleichheit dem Nationalismus und Populismus Auftrieb gibt. Warum profitiert die Rechte häufig mehr als die Linke?
Die Linke hat sich nicht genug bemüht, Alternativvorschläge zu machen. Nach dem Sturz des Kommunismus ging die Linke durch eine lange Phase der Ernüchterung und Entmutigung, wenn es darum ging, Perspektiven für eine andere Wirtschaftsordnung anzubieten. Die Sozialisten in Frankreich oder die SPD in Deutschland haben nicht ernsthaft genug versucht, die Spielregeln in Europa zu verändern.
Irgendwann schlossen sie sich der Idee an, es brauche nichts weiter als freien Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr und Marktkonkurrenz zwischen den Ländern, und schon gebe es Wohlstand für alle. Wir erleben aber, dass davon hauptsächlich die human- und finanzkapitalstarken Gruppen und hochmobilen Wirtschaftsakteure profitieren. Die Unter- und Mittelschicht fühlt sich abgehängt.
Die Sozialisten in Frankreich oder die SPD in Deutschland haben nicht ernsthaft genug versucht, die Spielregeln in Europa zu verändern.
Dann traten auch noch die nationalistischen und fremdenfeindlichen Parteien auf den Plan und verbreiteten eine ganz schlichte Botschaft, die da lautete: Wir werden euch mit Hilfe der Nationalstaatsgrenzen schützen, wir werden die Migranten hinauswerfen, wir werden eure Identität als weiße Europäer schützen usw. Das wird natürlich letzten Endes nicht funktionieren und weder die Ungleichheit abbauen noch das Problem der Erderwärmung lösen. Doch da es keinen Alternativdiskurs gibt, wandten viele Wählerinnen und Wähler sich diesen Parteien zu.
Noch mehr Wähler beschlossen natürlich einfach, zu Hause zu bleiben. Sie wählen einfach gar nicht, und das sollten wir nicht vergessen. Wenn die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen von Le Pen oder der AfD begeistert wären, würden sie allesamt an die Urnen gehen und für eine Wahlbeteiligung von 90 Prozent sorgen. Davon sind wir weit entfernt. Gerade bei den unteren sozioökonomischen Gruppen ist die Wahlbeteiligung ausgesprochen niedrig. Das lässt vermuten, dass sie auf ein konkretes politisches Angebot warten, das ihr Leben wirklich verändern könnte.
Sie regen an, der Staat solle allen Bürgerinnen und Bürger bei Erreichen des 25. Lebensjahrs einmalig 120 000 Euro als „Erbschaft für alle“ zahlen. Was würde das bringen?
Diese „Erbschaft für alle“ würde es zusätzlich zum universellen Zugang zu Grundgütern und Grundleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge wie Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und dem Grundeinkommen geben. All diese Instrumente sollen nicht ersetzt, sondern ergänzt werden.
Warum ist das so wichtig? Wenn jemand, der gut ausgebildet und gesund ist und einen guten und auch gut bezahlten Job hat, die Hälfte des eigenen Einkommens als Miete an die Kinder von Hauseigentümern zahlen muss, die ihr Leben lang Mieteinnahmen erzielen, halte ich das für ein Problem. Vermögensungleichheit bewirkt eine enorme Ungleichheit der Lebenschancen. Manche Menschen müssen lebenslänglich Miete zahlen. Andere bekommen ihr ganzes Leben lang Miete. Die einen können Firmen gründen oder erben einen Familienbetrieb. Die anderen können nie ein Unternehmen gründen, weil sie das nötige Startkapital gar nicht haben. Generell ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass in unserer Gesellschaft die Vermögen nach wie vor extrem konzentriert sind.
In Deutschland besitzt die untere Bevölkerungshälfte nicht einmal drei Prozent des Gesamtvermögens.
In Deutschland besitzt die untere Bevölkerungshälfte nicht einmal drei Prozent des Gesamtvermögens. Seit der Wiedervereinigung ist der Anteil sogar geschrumpft. Haben wir damit unser Bestmögliches erreicht, oder welche Vorschläge machen wir, um das zu ändern? Einfach nichts zu tun und auf Wirtschaftswachstum und Bildungszugang zu warten, ist keine Option. Das machen wir schließlich schon seit hundert Jahren, ohne dass die untere Bevölkerungshälfte dadurch zu Besitz gelangt wäre.
Wer an der Vermögensstruktur in der Gesellschaft etwas ändern will, muss strukturell die Verhandlungsmacht in der Gesellschaft verändern, denn jemand, der kein Vermögen hat, befindet sich in einer sehr schwachen Position. Er muss einen Arbeitsplatz finden, damit er jeden Monat seine Miete und seine Rechnungen bezahlen kann, und muss nehmen, was ihm angeboten wird.
Es macht einen großen Unterschied, wenn man 100 000 oder 200 000 Euro statt null oder 10 000 Euro besitzt. Millionäre machen sich das vielleicht nicht klar, aber für Menschen, die nichts besitzen und vielleicht nur Schulden haben, macht das einen Riesenunterschied aus.
In Ihrem Heimatland Frankreich rief die CO2-Steuer die Gelbwesten auf den Plan. War die Einführung dieser Steuer ein Fehler?
Wenn eine CO2-Besteuerung auf Akzeptanz stoßen soll, muss sie steuergerecht sein. In Frankreich genoss die CO2-Steuer ursprünglich eine hohe Akzeptanz, obwohl sie Jahr für Jahr stieg. Das Problem war, dass die Regierung Macron die Einnahmen aus der CO2-Steuer benutzt hat, um eine riesige Steuersenkung für das reichste Prozent der französischen Bevölkerung gegenzufinanzieren, nämlich die Abschaffung der Vermögenssteuer und der progressiven Besteuerung von Kapitaleinkünften, Zinsen und Dividenden.
Das war es, was die Menschen auf die Palme brachte: dass die CO2-Steuer, die ihnen als Beitrag zum Klimaschutz verkauft wurde, nur dazu diente, eine Steuersenkung für die Wahlkampffinanciers möglich zu machen. So zerstört man die Idee der CO2-Besteuerung. In Deutschland sollte man sehr behutsam vorgehen, denn gerade in den unteren Bevölkerungsgruppen könnte so eine Steuer auf große Ablehnung stoßen. Eine funktionierende CO2-Steuer setzt voraus, dass die sozialen Kosten eingepreist werden und dass sie bei allen Teilen der Gesellschaft auf Akzeptanz stößt.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld