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Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Nach der verheerenden Explosion in der letzten Woche, kam es am Wochenende zu gewalttätigen Protesten. Wie sieht die Situation im Land aktuell aus?

Die Situation im Land ist hochgefährlich. Hisbollah-nahe Medien präsentieren die aktuellen Forderungen nach Reformen als Kampagne – an der Israel maßgeblich beteiligt sei – zur Marginalisierung der Partei, mit dem ultimativen Ziel, dass Hilfen aus dem Ausland an die Abgabe der Waffen geknüpft werden. Es gibt genügend Rhetorik, sowohl von libanesischer Seite als auch amerikanische Stimmen, die diesen Eindruck unterstützen und in der Echokammer der Hisbollah-Anhänger zur festen Überzeugung verdichten, obwohl es in der Realität überhaupt keine Hinweise auf eine solche Konditionalisierung gibt. Das erhöht die Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Hisbollah-Anhängern und der Protestbewegung. Am letzten Wochenende gab es Berichte dass unidentifizierte Zivilisten auf Demonstanten geschossen hätten. Wir bewegen uns möglicherweise auf irakische Zustände zu.

Die libanesische Regierung um Regierungschef Hassan Diab ist geschlossen zurückgetreten. Wie geht es nun politisch weiter?

Die Diab-Administration wird zunächst als geschäftsführende Regierung mit sehr begrenzten Befugnissen im Amt bleiben und sicherlich keine ernsthaften Reformen durchführen. Im Grunde ist man wieder an dem Punkt, an dem man bereits letzten Oktober war als Saad Hariri zurücktrat. Zusätzlich sind jedoch jetzt ein katastrophaler wirtschaftlicher Zusammenbruch sowie eine völlig hausgemachte Katastrophe im Ausmaß des 11. September hinzugekommen. Damals hat man versucht, eine Regierung der „nationalen Einheit“ zu bilden. Die Ernennung von Hassan Diab, der nur von 69 von insgesamt 128 Abgeordneten unterstützt wurde, war das Ergebnis des Scheiterns dieses Versuchs.

Nun wird erneut darüber gesprochen, zur Formel „Nationale Einheit“ zurückzukehren. Wird eine solche Regierung – vermutlich unter der Führung von Hariri oder einer von ihm unterstützten Person – dort Erfolg haben, wo Diab versagt hat und mit Reformen voranschreiten, die die fest verankerten Interessen der politischen Elite berühren? Dafür müssten sich die Einstellungen der zentralen Akteure signifikant ändern, wofür es jedoch bislang keinerlei Anzeichen gibt.

Der Kalkül könnte sein, dass sich auf Grund von Hariris externen Netzwerken – weil er angeblich nicht der Hisbollah verpflichtet ist – und der Sympathie, die durch die Explosion entstanden ist, ausländische Spender auf Reformversprechen verlassen und Gesten und Mini-Reformen ausreichen, um die nötige Unterstützung zu bekommen. Höchstwahrscheinlich wird dies nicht funktionieren. Man würde so vermutlich nur das internationale Wohlwollen verspielen, das momentan vorhanden ist.

Solange die Status-Quo-Parteien, die das Parlament kontrollieren und die staatlichen Institutionen besetzen, nicht akzeptieren, dass das Spiel vorbei ist, und sich zu echten Reformen verpflichten, ist keine Besserung in Sicht. Die Chancen dafür sind jedoch selbst in den optimistischsten Aussichten eher gering.

Am Wochenende wurden bei einer internationalen Geberkonferenz 253 Millionen Euro Soforthilfe (darunter 20 Millionen Euro aus Deutschland) eingenommen. Wie kann sichergestellt werden, dass das Geld auch dort ankommt, wo es wirklich gebraucht wird?

Es gibt einen unmittelbaren Bedarf an humanitärer Hilfe. Beschädigte Krankenhäuser müssen wieder hergerichtet werden, Notreparaturen an Häusern und Wohnungen erfolgen, kurzfristige Unterbringungen bereitgestellt sowie Lebensmittel und Medizin importiert werden. Bei der Explosion wurde der zentrale Getreidespeicher und wohl auch ein Lagerhaus mit medizinischer Ausrüstung zerstört. Eine ganze Menge Dinge sind nötig, bei denen die Hilfsmaßnahmen direkt an die betroffenen Individuen oder Institutionen gehen können oder sogar müssen, weil die administrativen Strukturen im Libanon dafür überhaupt keine Kapazitäten haben. So müssen z.B. allen öffentlichen Krankenhäusern im Land sofort neue Generatoren sowie der nötige Treibstoff geliefert werden. Damit besteht dann auch keine Gefahr, dass Geld zweckentfremdet wird.

Die Geberkonferenz wurde von Frankreich mitorganisiert. Iran und sein Stellvertreter Hisbollah spielen traditionell eine wichtige Rolle im Land. Droht dem Libanon ein ähnliches Schicksal wie Syrien, wo zahlreiche Akteure ihre Interessen – teilweise um jeden Preis – durchsetzen?

Das ist ohnehin schon längst der Fall. Alle lokalen Akteure haben externe Sponsoren, die dabei natürlich eigene Interessen verfolgen. Daran ist kurzfristig nichts zu ändern. Wichtig ist jedoch, dass der zunehmende Staatsverfall dieses Phänomen nicht noch verstärkt und in Richtung auf gewaltsame Auseinandersetzungen verschiebt. Es braucht die klare Message – vor allem vonseiten des Westens –, dass Hilfe bereitsteht, sobald es eine Führung gibt, die das Richtige tut – unabhängig davon, wer das ist.