Interview von Claudia Detsch

Nach dem US-Raketenschlag in Bagdad, bei dem der hochrangige iranische General Qassem Soleimani getötet wurde, hat der Iran massive Vergeltung angekündigt. Welche Maßnahmen sind wahrscheinlich und was wären die Folgen für die Region?

Der Militärberater des iranischen Revolutionsführers, Hossein Deghan, hat in einem CNN-Interview ausgeführt, dass sich die iranischen Vergeltungsschläge nicht gegen zivile, sondern gegen militärische Einrichtungen der USA richten würden. Diese Aussage wurde seitdem von verschiedenen iranischen Entscheidungsträgern und auch vom libanesischen Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah wiederholt. Die wahrscheinlichste Antwort des Iran sind Anschläge auf US-Militäreinrichtungen im Irak, denn hier hat der Iran zahlreiche motivierte und kampferprobte Verbündete. Nicht auszuschließen sind außerdem Angriffe auf US-Kriegsschiffe in der Straße von Hormus oder auf US-Luftwaffenstützpunkte in Reichweite der iranischen Revolutionsgarden, z.B. in Kuwait, Qatar, Bahrain oder Saudi-Arabien. Weniger wahrscheinlich, aber denkbar sind auch Angriffe der libanesischen Hisbollah auf amerikanische Ziele.

Für den Fall eines iranischen Vergeltungsschlags hat Präsident Trump bereits angekündigt, mit Härte zu antworten und dabei auch mit Militärschlägen auf iranische Kulturstätten gedroht. Sollte das tatsächlich geschehen, wären als mögliche iranische Eskalationsstufen Angriffe auf US-Wirtschaftsinteressen oder US-Verbündete vorstellbar. Der Iran wäre in der Lage, die Straße von Hormus zu blockieren oder zumindest die Handelsschifffahrt längerfristig zu behindern. 30 Prozent des weltweiten Ölhandels werden derzeit auf diesem Weg abgewickelt. Auch Angriffe auf die saudische Ölförderung oder Trinkwasserversorgung sind möglich, das hat der Iran in der Vergangenheit bereits bewiesen.

Als Kollateralschaden einer militärischen Eskalation zwischen den USA und dem Iran kann es außerdem zu neuen Bürgerkriegen in Ländern mit anteilig schiitischer Bevölkerung kommen.

Je nach Verlauf der Konfrontation kann auch ein Angriff auf Ziele in Israel nicht ausgeschlossen werden, der wiederum israelische Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde. Als Kollateralschaden einer militärischen Eskalation zwischen den USA und dem Iran kann es außerdem zu neuen Bürgerkriegen in Ländern mit anteilig schiitischer Bevölkerung kommen – vor allem im Irak und im Libanon.

Es ist aber auch durchaus denkbar, dass sich der Iran entgegen aller Prognosen zunächst zurückhält oder auf Cyber-Angriffe beschränkt. Teherans Strategen wissen, dass jede militärische Eskalation vor allem Präsident Trump innenpolitisch nützt, sowohl im Hinblick auf das Zusammenstehen der Republikaner im aktuellen Impeachment-Verfahren, als auch im bevorstehenden US-Wahlkampf.

Die USA streben eine Schwächung des iranischen Einflusses in der Region an. War die Tötung von Soleimani diesem Ziel dienlich?

Nein, im Gegenteil. Beispiel Irak: Der Anschlag auf Soleimani und auf den ebenfalls getöteten irakischen Milizenführer Abdul Mahdi Al-Muhandis hat bewirkt, was der Iran schon seit langem vergeblich anstrebt: die politische Einigung der irakischen Schiiten gegen den amerikanischen Einfluss im Land. 

Während die Massenproteste der vergangenen Monate einen explizit irankritischen Ton hatten, traut sich zurzeit im schiitischen Lager kaum noch jemand, öffentlich den Iran zu kritisieren.

In den schiitisch dominierten Regionen wurden irankritische Stimmen mit dem Verweis auf die „mörderische Besatzungsmacht USA“ mundtot gemacht. Abweichung von dieser Linie wird als Verrat gebrandmarkt. Während die Massenproteste der vergangenen Monate einen explizit irankritischen Ton hatten, traut sich zurzeit im schiitischen Lager kaum noch jemand, öffentlich den Iran zu kritisieren. Gegenpol zum massiven iranischen Einfluss im Irak war seit 2003 die USA, deren Handlungsspielraum in Irak nun stark eingeschränkt ist. Niemand freut sich so darüber wie die iranische Führung. Soleimani wurde noch am Tag nach seiner Tötung von Khamenei durch seinen langjährigen Stellvertreter Ismail Qaani ersetzt, der das von seinem Vorgänger geschaffene Netzwerk verbündeter Milizen und Entscheidungsträger in der ganzen Region hervorragend kennt und im Sinne Khameneis weiterführen kann.

Im Iran selbst stabilisiert die völkerrechtswidrige Tötung des „Volkshelden“ Soleimani das Regime – die Teilnahme der Trauernden an den Beerdigungszeremonien ging in die Millionen, was selbst in Teheran für Überraschung sorgte. Gestärkt werden im Iran die Hardliner. Sie bekommen, was sie schon lange wollen: den zumindest vorläufigen Ausstieg des Iran aus dem Atomabkommen und die bereits verkündete Wiederaufnahme der Urananreicherung. Von einer Schwächung des iranischen Einflusses kann insofern keine Rede sein.

In welcher Form könnte Europa von der Zuspitzung des Konflikts unmittelbar betroffen sein? 

Zunächst einmal wirtschaftlich. Der Ölpreis legte am Tag des Anschlags um 4 Prozent zu, der Dollarkurs fiel, Börsenkurse gaben kurzzeitig nach. Eine stagnierende Wirtschaft schadet Europa, ein fallender Dollarkurs bedeutet für exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland nichts Gutes. Je nachdem, ob und wie stark Vergeltungsaktionen und Reaktionen ausfallen, wird es ein negatives Echo der Märkte geben. Einen Vorgeschmack darauf hat der Drohnenangriff auf saudische Ölförderanlagen im September 2019 hinterlassen. Der Iran wäre militärisch durchaus in der Lage, den Öltransport durch die Straße von Hormus zu unterbrechen. Experten prognostizieren für den Fall einer längeren Unterbrechung dieser Handelsroute Ölpreise von über 100 US-Dollar pro Fass, was für die nicht gerade im Aufschwung befindliche europäische Wirtschaft ein Problem wäre.

Jenseits von wirtschaftlichen Bedenken: Eine Eskalation der Gewalt in mehreren bevölkerungsreichen Ländern des Nahen Ostens würde erneut Fluchtbewegungen in Richtung Europa auslösen. Allein Irak und Iran haben zusammen etwa 120 Millionen Einwohner.

Im Irak kam es in den vergangenen Monaten zu massiven sozialen Protesten, gerichtet gegen die Regierung, den Einfluss des Iran, die Korruption im Land und das politische System insgesamt. Welche Auswirkungen hat der Militärschlag auf die Protestbewegung und das politische Klima im Irak?

Die Protestbewegung ist seit dem 3. Januar Vergangenheit. Auf den Straßen der Protesthochburgen herrscht ein Klima der Angst und des Misstrauens. In den bisherigen, durchweg schiitisch dominierten Zentren des Protests traut sich kaum noch jemand, die iranische Rolle im Irak zu kritisieren, um nicht als Verräter gebrandmarkt zu werden. Kritikerinnen und Kritiker des Iran werden offen bedroht. Nachdem das gesamte schiitische Establishment in unterschiedlicher Schärfe den Luftschlag als Verletzung irakischer Souveränität und teilweise als Terrorakt verurteilt hat, ist der Feind klar benannt: die USA. Als Garant gegen den Einfluss der Vereinigten Staaten im Irak gilt der Iran. Da das in den Protesten stets kritisierte politische System des Irak den Einfluss des Iran indirekt garantiert, ist auch Kritik am System nicht mehr opportun.

Bei dem Luftschlag wurden drei Iraker, zwei Iraner und ein Libanese getötet. Sie hatten eins gemeinsam: alle waren Schiiten. Die auch schon vorher starken pro-iranischen Gruppen nutzen diesen Umstand, um schiitische Einheit und Antiamerikanismus zur Bürgerpflicht zu erklären. Am Beispiel von Muqtada Sadr wird der Haltungswandel der größten irakischen Bevölkerungsgruppe am deutlichsten. Der schiitische Geistliche und Anführer der Bewegung mit den meisten Sitzen im Parlament gehörte vor dem Anschlag zu den profiliertesten Kritikern des iranischen Einflusses im Irak. Er ist bekannt für sein gutes Gespür für Stimmungen in der Bevölkerung. Unmittelbar nach dem Anschlag rief er seine Anhänger auf, sich für die Verteidigung der Heimat bereit zu machen, forderte Vergeltung, geißelte die Tötungen als terroristischen Akt, mit dem die effektivsten Kämpfer gegen den IS von den USA ermordet worden seien, verkündete die Auferstehung der Mahdi-Armee, mit der er schon 2004 die US-Präsenz im Irak bekämpft hatte und rief regional zur Gründung einer pan-schiitischen Widerstandsbewegung gegen amerikanische Aggression auf. Sadrs Sinneswandel illustriert: Im derzeitigen politischen Klima ist kein Platz mehr für friedlichen Protest und vor allem kein Platz für Iran-Kritik.

Eine Mehrheit der Abgeordneten im irakischen Parlament hat am Wochenende für eine Resolution gestimmt, die den Abzug der US-Truppen aus dem Irak fordert. Werden die US-amerikanischen Streitkräfte das Land tatsächlich verlassen müssen?

Nein, zumindest nicht sofort. Die Resolution ist nicht bindend. Grundlage für die Präsenz aller zur Anti-IS-Koalition gehörenden Koalitionstruppen ist ein 2014 geschlossenes Abkommen, das nur der irakische Premierminister kündigen kann. Premier Adel Abd Al-Mahdi war unter dem Druck der Proteste am 29.11. zurückgetreten und führt die Geschäfte bis zur Findung eines Nachfolgers weiter, allerdings mit eingeschränkten Vollmachten. Es ist rechtlich unklar, ob er als amtierender Premier in der Lage ist, das Abkommen zu kündigen und die Truppen des Landes zu verweisen. Da Präsident Trump für diesen Fall schwerste Sanktionen angekündigt hat, wird er vermutlich die unklare Rechtslage im Sinne der Amerikaner interpretieren. Eine Folge der Resolution ist allerdings schon jetzt ein erheblich verringerter Handlungsspielraum des US-Militärs im Land.

Wie steht es mit der Bundeswehr – würde auch sie das Land verlassen müssen? Wäre es aus Sicherheitsgründen nicht ohnehin angeraten, die dortigen Truppeneinheiten abzuziehen?

Die Resolution bezieht die Bundeswehr mit ein, da sie sich gegen die Präsenz aller ausländischen Truppen richtet. Obwohl sie nicht bindend ist, hat das deutsche Verteidigungsministerium bereits eine teilweise Truppenverlegung nach Jordanien und Kuwait angekündigt. Für den zügigen Abzug der Bundeswehr spricht einerseits die Sicherheitslage, andererseits der nun noch mehr eingeschränkte Handlungsspielraum der Bundeswehr und drittens die Abwesenheit eines Gewaltmonopols im Irak. Partnerin der Bundeswehr ist die irakische Armee. Sie ist jedoch nur eine vor vier unabhängig voneinander agierenden Armeen im Land – neben den nur theoretisch zur Armee gehörenden Hashd-Milizen, den Peschmerga- und den Anti-Terror-Einheiten. Die Ereignisse rund um die Erstürmung des US-Botschaftsgeländes letzte Woche haben einmal mehr bewiesen, wie dysfunktional die irakische Sicherheitsarchitektur ist.