Das Interview führte Nikolaos Gavalakis.
In Ihrer Studie Avoiding a Long War haben Sie und Ihre Koautorin Miranda Priebe sich kürzlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie der Krieg in der Ukraine sich langfristig weiterentwickeln könnte. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Wir haben intensiv darüber nachgedacht, wie der Konflikt sich in der Zukunft gestalten könnte und welches dabei die entscheidenden Punkte sind – insbesondere aus US-amerikanischer Perspektive. Wir kommen zu dem Schluss, dass es für die Vereinigten Staaten vorrangig ist, einen langen Krieg zu vermeiden, und dass man dies durch Verhandlungen erreichen kann. Da aber weder die USA noch die westlichen Verbündeten direkte Konfliktparteien sind, haben wir uns im Wesentlichen mit der Frage beschäftigt, was die Einstellung der beiden Konfliktbeteiligten zu Krieg und Frieden beeinflussen könnte. Für eine Weile werden beide Seiten bei der Maxime „Give war a chance“ bleiben. Doch wie geht es danach weiter? Diese Studie befasst sich mit der mittel- bis langfristigen Perspektive und nicht mit Dingen, die sich realistischerweise kurzfristig umsetzen lassen würden. Es wird eine ukrainische Gegenoffensive und im Herbst möglicherweise eine weitere russische Offensive geben. Die Frage ist, was danach passiert – und wie man schon jetzt auf die Haltung der Ukraine und Russlands einwirken kann, was das weitere Vorgehen nach Beendigung der Kriegshandlungen angeht.
Bei der Frage, ob der Krieg sich auf dem Verhandlungsweg beenden lässt, stellt sich das Problem des fehlenden Vertrauens. Was sagen Sie dazu?
Aus unserer Sicht ist für beide Seiten ein absoluter Sieg militärisch unmöglich. Das bedeutet, dass die Ukraine und Russland auch weiterhin eine Bedrohung für den jeweils anderen darstellen werden. Wie soll der Krieg beendet werden, wenn nicht durch einen absoluten Sieg? Am Ende wird es in irgendeiner Form Verhandlungen geben. Einen Krieg mit Verhandlungen zu beenden, bei denen politische Fragen ausgeklammert werden, ist durchaus möglich. Ein klassisches Beispiel ist Korea. Dort wurde in dem Waffenstillstand, mit dem der Krieg beendet wurde, lediglich geregelt, dass die Waffenruhe fortgeführt wird. Am anderen Ende des Spektrums stehen auch Friedensabkommen, durch die ehemalige Kriegsgegner sich stärker wieder dem Normalzustand nähern und die tendenziell länger Bestand haben – wobei auch der Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea schon über 70 Jahre hält. Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein Friedensabkommen jedoch komplett unwahrscheinlich, weil die Kriegsparteien meilenweit auseinanderliegen. Die Lösung liegt also vermutlich irgendwo in der Mitte. Mit anderen Worten: Falls irgendeine Waffenruhe ausgehandelt werden sollte, wird es vermutlich auch politische Gespräche über Themen geben, die über die technische Frage, wie diese Waffenruhe einzuhalten ist, hinausgehen. Wir sind der Meinung, dass die USA und ihre Verbündeten durchaus Möglichkeiten haben, indirekt Einfluss darauf zu nehmen, wie die Parteien über die Vorteile des Friedens denken.
Irgendwann muss auf beiden Seiten politisch entschieden werden, dass der Krieg beendet wird.
Wenn Kriege beendet werden, gibt es immer das „credible commitment problem“ – also ein Glaubwürdigkeits-Problem, was die Einhaltung der gemachten Zusagen angeht. Die Kriegsparteien trauen sich gegenseitig nicht über den Weg. Ein gewisses Maß an Vertrauen braucht es aber, wenn beide Seiten glauben sollen, dass die jeweilige Gegenseite sich an eine Vereinbarung über die Beendigung des Krieges auch tatsächlich halten wird. Im Fall der Ukraine und Russlands stellt sich die Frage der Sicherheitszusagen gegenüber der Ukraine. Mit solchen Zusagen könnte man dem Problem begegnen, dass die Ukraine Russland zu Recht für ein Raubtier hält, das wahrscheinlich erneut angreifen wird. Sicherheitszusagen könnten also dazu beitragen, dass die Ukraine sich leichter auf Verhandlungen über ein Ende des Krieges einlässt. Und wenn die Ukraine sich im Rahmen einer Einigung zur Blockfreiheit verpflichtet, kann der Westen eine Lösung für das suchen, was die Russen als „credible commitment problem“ der Ukrainer betrachten. Kiew hatte sich 2010 schon einmal dem Lager der Blockfreien angeschlossen, aber 2014 seine Haltung geändert.
In den Verhandlungen, die kurz nach Kriegsbeginn zwischen Russen und Ukrainern stattfanden und in das sogenannte Istanbuler Kommuniqué mündeten, wurden sowohl die Neutralitätszusage der Ukraine als auch die Sicherheitszusage an die Ukraine recht konkret thematisiert. Natürlich sind fast alle sich einig, dass Russland ein „credible commitment problem“ hat, aber es geht darum, Lösungen zu finden, die durch eine Kombination aus Abschreckung und positiven Anreizen Russland dazu bringen, die Kampfhandlungen einzustellen. Irgendwann muss auf beiden Seiten politisch entschieden werden, dass der Krieg beendet wird, und dabei haben natürlich beide Seiten mitzureden.
Sie sprechen davon, dass die Interessen Amerikas und der Ukraine nicht immer deckungsgleich sind. Wo liegen die Differenzen, und wo stehen nach Ihrer Einschätzung die Europäer in diesem Zusammenhang?
Die USA verfolgt globale Interessen, die über die Ukraine hinausgehen und durch den Krieg beeinflusst werden. Da die Ukraine und die Vereinigten Staaten unterschiedliche Länder auf unterschiedlichen Erdteilen sind, ist klar, dass sie nicht in allen Punkten die gleichen Interessen haben. Was die Zukunft des Krieges angeht, gibt es fünf Aspekte, die für die USA eine essenzielle Rolle spielen: Erstens gibt es das Risiko einer vertikalen Eskalation, also eines Atomwaffeneinsatzes von russischer Seite. Zweitens besteht die Gefahr einer horizontalen Eskalation – also eines Krieges zwischen Russland und der NATO. Die anderen drei Aspekte sind die Dauer des Konflikts, das Problem der territorialen Kontrolle und das Problem, wie der Krieg beendet werden kann. Diese fünf Punkte haben für die Ukraine auf der einen Seite und für die USA und ihre Verbündeten auf der anderen Seite nicht alle die gleiche Wichtigkeit. Die Gefahr der horizontalen Eskalation – also der Ausweitung des Konflikts – scheint die Ukraine nicht ganz so stark zu beunruhigen. Diese Position der Ukraine finde ich nachvollziehbar. Auch dass die Rückeroberung besetzter Gebiete für sie Priorität hat, ist verständlich und hat gute, im weiteren Sinne humanitäre Gründe. Deshalb ist diese Frage für die Ukraine wichtiger als die Kriegsdauer.
Aus Sicht der USA spricht sehr vieles gegen einen lang andauernden Krieg.
Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht in allen Punkten genau die gleichen Interessen haben wie andere Akteure, sollte unkontrovers sein. Es geht schließlich um ihr Land, und sie haben ein Recht auf ihre eigenen Interessen. Dasselbe gilt für die USA und die Europäer. Europa ist von dem Krieg unmittelbarer betroffen als Amerika, keine Frage. Dementsprechend könnte man argumentieren, dass es ein größeres Interesse an einem baldigen Kriegsende hat als die USA. Wir kommen in unserer Studie zu dem Schluss, dass aus Sicht der USA sehr vieles gegen einen lang andauernden Krieg spricht, aber die wirtschaftlichen Auswirkungen eines sich hinziehenden Krieges wird Europa sehr viel stärker zu spüren bekommen als die USA.
Was bedeutet das für die Haltung Europas und der USA gegenüber der Ukraine – zum Beispiel mit Blick auf den territorialen Aspekt?
Unter dem Strich kann man sagen: Je mehr Gebiete die Ukraine wieder unter ihre Kontrolle bekommt, desto besser. Doch das passiert natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern wenn die Ukraine mehr Gebiete kontrolliert, hat dies an anderer Stelle Konsequenzen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Rückeroberung von besetzten Gebieten und den Eskalationsrisiken. Wenn die Ukraine kurz davor steht, die Krim wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, steigt die Eskalationsgefahr. Man kann zwar argumentieren, diese Gefahr sei beherrschbar, aber sie ist auf jeden Fall real. Wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, welche territorialen Resultate akzeptabel sind und welche nicht. Diese Entscheidung muss die Ukraine treffen. Trotzdem stellt sich die Frage: Hat das Thema territoriale Kontrolle für die USA und ihre Verbündeten oberste Priorität? Politisch ist es aus Sicht des Westens eine prioritäre Frage, aber wiegt sie wirklich die Auswirkungen eines sich in die Länge ziehenden Konfliktes auf?
Schauen wir auf das Eskalationspotenzial: Das Bulletin of Nuclear Scientists hat die Weltuntergangsuhr, die anzeigt, wie groß das Risiko einer vom Menschen gemachten globalen Katastrophe ist, auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt. Sind die Atomwissenschaftler hysterisch, oder sind wir zu leichtfertig?
Der Fairness halber muss man darauf hinweisen, dass das Bulletin in diesem Zusammenhang auch von den Klimarisiken spricht und nicht nur von den Gefahren einer nuklearen Konfrontation. Ich glaube, dass sich in diesem Krieg das Risiko der einen oder der anderen Eskalationsvariante nicht quantifizieren lässt. Klar ist nur, dass die Eskalationsrisiken sinken würden, wenn der Krieg vorbei wäre. Man kann über Wahrscheinlichkeiten spekulieren, aber letztlich bleibt die Zukunft eine Unbekannte. Die Folgen sind allerdings so weitreichend, dass wir uns allein schon angesichts des erhöhten Risikos sehr gut überlegen müssen, ob dieser Krieg noch Jahre weitergehen soll, und das bei allen Entscheidungen mitbedenken sollten.
Viele im Westen sagen, wir müssten die sogenannte „regelbasierte multilaterale Ordnung“ verteidigen. Was heißt das eigentlich? Und hat China nicht eine andere Vorstellung von dieser Ordnung als der Westen? Für viele im Westen beinhaltet diese Ordnung auch Demokratie und Menschenrechte.
Wenn diese Frage im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg thematisiert wird, geht es meist um den in der UN-Charta verankerten Grundsatz der territorialen Unversehrtheit und die Folgen, die dadurch entstehen, dass Russland die Grundprinzipien des Völkerrechts verletzt. Dies und auch den entstandenen und entstehenden Schaden sollten wir meiner Meinung nach nicht kleinreden. Eines haben alle gemeinsam, sowohl der Westen auf der einen und China auf der anderen Seite als auch die übrigen Länder des Globalen Südens: Sie alle haben die UN-Charta unterzeichnet. Und einige der Prinzipien, gegen die Russland verstößt, sind in diesem Gründungsdokument des Völkerrechts niedergelegt. Hier gibt es also eine Basis für Gemeinsamkeit, auch wenn wir die Chinesen vermutlich nicht werden überzeugen können, dass es in diesem Krieg um Grundsätzlicheres wie Demokratie und Menschenrechte geht. Es kommt darauf an, in welchen Bedeutungsrahmen die Regierungen des Westens die Frage einbetten, worum es in diesem Krieg geht. Im Globalen Süden werden sie eher Gehör finden, wenn sie sich auf die UN-Charta berufen und nicht auf diese polarisierenden Konzepte, auch wenn diese sehr wichtig sind.
Wie glaubwürdig ist die Haltung des Westens und insbesondere der USA? Wenn wir die vergangenen 30 Jahre Revue passieren lassen, müssen wir feststellen: Auf internationaler Ebene hat zum Beispiel China sich weit weniger aggressiv verhalten als die USA.
Ich glaube nicht, dass in der internationalen Politik Heuchelei ein Novum ist. Ich glaube aber sehr wohl, dass hier der Grundsatz gilt: Ein Unrecht hebt das andere nicht auf. Unabhängig von dem, was in der Vergangenheit passiert ist, verletzt Russland nach wie vor entscheidende Grundprinzipien der UN-Charta. Wir sollten uns von den Sünden unserer Vergangenheit nicht ablenken lassen. Wenn es um das Völkerrecht und seine Prinzipien geht, gibt es keinen internationalen Akteur, der ohne Fehl und Tadel wäre.
Womit rechnen Sie in den kommenden Wochen und Monaten? Und wie sehr könnte die Interessenlage der USA sich durch die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen verändern?
Eines ist meiner Meinung nach ganz klar: Beide Seiten sind überzeugt, dass es für sie mehr zu gewinnen gibt, wenn sie weiterkämpfen. Deshalb werden die Kämpfe weitergehen – wahrscheinlich für den Rest des Jahres. Da es meiner Meinung nach unwahrscheinlich ist, dass militärisch entscheidende Ergebnisse erzielt werden, müssen wir darüber nachdenken, welche Verhandlungsmöglichkeiten es hinterher geben könnte. Wenn wir in unserer Studie eine Empfehlung aussprechen, dann diese: Man muss die Gespräche über die Zeit nach dem Krieg jetzt beginnen, wenn man gerüstet und erfolgreich sein will, wenn es so weit ist. Ich gehe nicht davon aus, dass der bevorstehende Wahlkampf eine andere Politik der USA erzwingen wird. Dieser Krieg ist ein Thema mit hoher Priorität, und es wäre politisch problematisch, wenn man ihn als schweren Misserfolg betrachten würde. Deshalb glaube ich, dass die US-Regierung die Ukraine weiterhin unterstützen wird. In welcher Form das geschieht, hängt nicht unbedingt vom Druck im Zusammenhang mit den Wahlen, sondern eher davon ab, wo die Ukraine steht, wo die Verbündeten stehen und welche Möglichkeiten sich in diesem Kontext auftun.
Was geschieht, wenn Donald Trump oder Ron DeSantis gewinnt? Sollten wir das in unser Kalkül einbeziehen?
Natürlich kann es sein, dass eine andere Regierung einen anderen Kurs einschlägt. Nach den Standpunkten zu urteilen, die Trump in der Vergangenheit geäußert hat, kann die US-Politik sich durchaus ändern, falls er 2025 Präsident wird. Doch in der Regel richten Kriege sich nicht nach dem politischen Kalender anderer Staaten. Wie der Konflikt ausgeht, dürfte weit stärker von der Haltung der beiden Konfliktparteien abhängen als von der Frage, ob Joe Biden voraussichtlich im Weißen Haus bleibt. Trotzdem ist natürlich nachvollziehbar, dass sowohl die Partner als auch die Gegner der Vereinigten Staaten sich dafür interessieren, wie die US-Politik sich aufgrund der Wahlen möglicherweise verändern wird.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld