Die Fragen stellte Alexander Isele.

Die Knesset hat zwei Gesetzentwürfe gebilligt, die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, in Israel trotz Warnungen der USA, der EU und weiterer internationaler Akteure verbieten sollen. Auch 123 UN-Mitgliedstaaten bekräftigten ihre Unterstützung für das Hilfswerk. Warum wurde dieses Gesetz verabschiedet trotz solch klarer Warnungen und der UNRWA-Bemühungen, alle Bedenken hinsichtlich seiner Neutralität auszuräumen?

Die Gesetzesvorhaben stützen sich einerseits auf den Vorwurf, dass UNRWA-Mitarbeitende an den Terroranschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen seien, und andererseits darauf, dass das Hilfswerk von der Hamas unterwandert sei. UNRWA nimmt solche Anschuldigungen sehr ernst und geht ihnen nach, sofern belastbare Beweise vorliegen. So hat das zuständige Büro der Vereinten Nationen insgesamt 19 Fälle untersucht. In einem Fall kam heraus, dass es keine Grundlage für die Anschuldigungen gab. Bei neun weiteren Fällen waren die von Israel vorgelegten Beweise nicht ausreichend, um eine weitere Untersuchung zu rechtfertigen. Hier wurden die Untersuchungen eingestellt. In den übrigen neun Fällen legen die Untersuchungen den Verdacht nahe, dass die Personen am 7. Oktober teilgenommen haben. Final konnte dies aber nicht bestätigt werden, da Israel zwar Beweise vorgelegt hat, diese durch das zuständige Büro der Vereinten Nationen aber nicht unabhängig verifiziert werden konnten. Den betroffenen Mitarbeitenden wurde fristlos gekündigt. Wobei UNRWA insgesamt mehr als 30 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, davon rund 13 000 im Gazastreifen. Es ist daher nicht gerechtfertigt, UNRWA als Terrorhilfswerk darzustellen.

Es ist nicht gerechtfertigt, UNRWA als Terrorhilfswerk darzustellen.

Das belegt auch der sogenannte Colonna-Bericht. Er zeigt, dass UNRWA bereits umfassende Mechanismen zur Wahrung des humanitären Grundsatzes der Neutralität anwendet, mehr als vergleichbare Organisationen, allerdings unter prekären finanziellen Bedingungen und in einem Kriegskontext. Die Untersuchung empfiehlt daher weitere Verbesserungen und das Hilfswerk hat sich verpflichtet, diese umzusetzen. Die gegen UNRWA gerichteten Gesetze könnten die Umsetzung dieser Empfehlungen jedoch erheblich erschweren, insbesondere im Bereich der humanitären Hilfe und Koordination vor Ort, was die humanitäre Arbeit von UNRWA unter den ohnehin schwierigen Bedingungen zusätzlich belasten würde.

Wie kann es sein, dass Mitarbeiter einer UN-Organisation trotz strenger Standards und Überwachungsmechanismen in terroristische Aktivitäten verwickelt werden?

UNRWA hat eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt, Rassismus, Diskriminierung und Terrorismus. Allerdings sind die Arbeitsbedingungen im Gazastreifen, einem Gebiet, das seit Langem von Konflikten geprägt ist, besonders herausfordernd. In diesem komplexen Umfeld trägt UNRWA das Risiko, nicht alles kontrollieren zu können, und bleibt auf die Kooperation mit Gastländern angewiesen, um seine Neutralität bestmöglich zu wahren. Als humanitäre Organisation verfügt UNRWA über keine polizeilichen Mittel zur Überwachung seiner Mitarbeitenden. Deshalb hat das UN-Hilfswerk stets die Liste aller Beschäftigten mit israelischen Behörden geteilt, mit der Bitte, Bedenken anzumelden, damit UNRWA diesen nachgehen kann. In Fällen, in denen belastbare Indizien für private Verstrickungen von Mitarbeitern in extremistische Organisationen gefunden wurden, hat UNRWA stets disziplinarische Schritte eingeleitet.

Welche Auswirkungen hat das Verbot von UNRWA auf die humanitäre Lage? 

Derzeit sind die Gesetze zwar verabschiedet, aber es ist noch nicht klar, wann, wie schnell und wie umfassend sie umgesetzt werden. Sollten die angekündigten Maßnahmen jedoch in Kraft treten, wären die Folgen gravierend. UNRWA bildet das Rückgrat der humanitären Versorgung im Gazastreifen. Ohne das Hilfswerk wären humanitäre Maßnahmen vor Ort kaum durchführbar, da alle anderen Organisationen auf die Infrastruktur der UNRWA angewiesen sind. Ein Ausfall würde die medizinische Notversorgung und Nahrungsmittelhilfe für den Großteil der Bevölkerung im Gazastreifen lahmlegen. 660 000 Kinder würden die einzige Einrichtung verlieren, die in der Lage ist, ein allgemeines Schulwesen wiederaufzunehmen.

Auch in der Westbank und in Ost-Jerusalem wären die Folgen massiv.

Auch in der Westbank und in Ost-Jerusalem wären die Folgen massiv: Hier würde der Wegfall von UNRWA zu einem Zusammenbruch von Gesundheits-, Bildungs- und Sozialdiensten für rund 50 000 Schüler und tausende Patienten in 43 Kliniken und einem Krankenhaus führen. Neben den operativen Folgen drohen darüber hinaus erhebliche rechtliche und politische Konsequenzen, die über den Gazastreifen, Ost-Jerusalem und die Westbank hinausreichen.

Norwegen hat die UN-Generalversammlung gebeten, den Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten in dieser Angelegenheit zu ersuchen. Das UNRWA unterstützt Norwegen in dieser Angelegenheit. Welche Erwartungen hegt das Hilfswerk gegenüber Deutschland und der EU?

Da die Gesetzentwürfe nicht nur operative, sondern eben auch rechtliche und politische Dimensionen betreffen, ersucht UNRWA alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, dass sie sich zur Einhaltung der UN-Charta verpflichten und Israels Verpflichtungen nach internationalem Recht einfordern. Dies umfasst die Wahrung der UN-Privilegien und Immunitäten sowie die Erfüllung internationaler humanitärer Vorgaben, die für eine Besatzungsmacht in den palästinensischen Gebieten gelten. Auch sollten die Urteile des Internationalen Gerichtshofs berücksichtigt werden, die unter anderem die Verpflichtung zu humanitärer Hilfe und die Notwendigkeit der Verhinderung eines Völkermords im Gazastreifen betonen. UNRWA, das im Auftrag der UN-Generalversammlung handelt, hofft auf eine klare Verteidigung des multilateralen Systems, das UNRWA in diesem Kontext zentral vertritt.

Welche langfristigen Folgen hätte die Umsetzung des Gesetzentwurfs für das gesamte UN-System?

Ein solches Gesetz hätte gravierende Konsequenzen, da UNRWA von der UN-Generalversammlung beauftragt ist und damit das gesamte UN-System betrifft. Ohne UNRWA würden Friedensbemühungen im Nahostkonflikt erheblich gefährdet, da die Organisation bei einem potenziellen Übergang von einem Waffenstillstand hin zur palästinensischen Selbstverwaltung eine Schlüsselrolle spielen würde. Im Westjordanland könnte die Instabilität zudem weiter steigen, da die palästinensische Autonomiebehörde dort bereits unter starkem Druck steht. Die neuen Gesetze könnten auch als Grundlage genutzt werden, um Ost-Jerusalem – völkerrechtlich ein besetztes palästinensisches Gebiet – als israelisches Territorium zu beanspruchen. 

Dieser einseitige Schritt würde die Grundlagen einer zukünftigen politischen Lösung des Israel-Palästina-Konflikts ohne Einbeziehung der palästinensischen Seite und entgegen den Resolutionen des Sicherheitsrats, der Vollversammlungen und des Völkerrechts verschieben, die palästinensische Selbstbestimmung untergraben und die Zweistaatenlösung infrage stellen. Insgesamt wäre das Risiko für das UN-System und die Stabilität in der Region enorm.