Was ist bloß mit Europa los? Das werde ich in letzter Zeit häufiger von Freunden und Kollegen gefragt. Der Front National auf dem Vormarsch in Frankreich, das Phänomen Podemos in Spanien und natürlich Syriza in Griechenland. Der Populismus von rechts und links, eigentlich ein Markenzeichen Lateinamerikas, scheint auf dem alten Kontinent im Kommen.

Lange wähnte sich Europa immun gegen neopopulistische Strömungen und mancher hielt die lateinamerikanische Vorliebe für Caudillos für eine Art Charakterschwäche unterentwickelter Gesellschaften. Dabei muss man nicht Max Weber gelesen haben, um zu verstehen, dass der Populismus zur Demokratie gehört wie die Repression zur Diktatur. Und man muss auch nicht Karl Marx gelesen haben, um zu verstehen, dass ökonomische Strukturkrisen sich zwangsläufig im politischen System widerspiegeln. Und selbst wenn man in Europa nicht gewohnt ist, politische Lektionen von anderswo zu beziehen – eine etwas eingehendere Analyse des lateinamerikanischen Populismus könnte interessante Rückschlüsse zulassen.

Der Populismus von rechts und links, eigentlich ein Markenzeichen Lateinamerikas, scheint auf dem alten Kontinent im Kommen.

Der Caudillo ist Lateinamerikas semantischer Beitrag zur Politikwissenschaft. Die Geschichte des Subkontinents ist reich an dieser Spezies von narzisstischen Machtmenschen mit einer gehörigen Portion Sendungsbewusstsein: vom venezolanischen Freiheitskämpfer Simón Bolívar über den dominikanischen Diktator Leonidas Trujillo, bis hin zum argentinischen General Juan Domingo Perón. Ihre Persönlichkeiten, ihre Marotten und ihre Intrigen faszinierten Historiker, Soziologen und Schriftsteller gleichermaßen. Gleich drei Literatur-Nobelpreisträger widmeten sich ihnen. Der Kolumbianer Gabriel García Márquez beschrieb in „Der Herbst des Patriarchen“ die letzten Tage Bolívars, der Peruaner Mario Vargas Llosa schildert in „Das Fest des Ziegenbocks“ die Gewaltherrschaft Trujillos und der vielleicht erste Roman dieses Genres „Der Herr Präsident“ (1946) des Guatemalteken Miguel Angel Asturías war von der Diktatur Manuel Estrada Cabreras inspiriert. Viele Caudillos waren Militärs wie Perón und der Peruaner Juan Velasco Alvarado. Einige, wie Bolívar, sind aus dem historischen Kontext der Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherren entstanden, andere rissen während interner Wirren und Kriege die Macht an sich. Dritte, wie Gétulio Vargas in Brasilien oder Lázaro Cárdenas in Mexiko, errichteten ihre Herrschaft in der wirtschaftlichen Übergangsphase vom Agrar-zum Industriestaat.

 

Die Hartnäckigkeit der populistischen Essenz

Über die Jahre hinweg haben sich die Caudillos verändert, wurden in der Geschichtsschreibung erst zu Populisten, dann zu Neopopulisten – aber ihre Essenz hat sich hartnäckig gehalten. Ein Blick auf das jüngste Popularitäts-Ranking - der Staatschefs aus dem Economist zeigt, dass sich an der Spitze der Beliebtheitsskala drei Linkspolitiker befinden: Evo Morales aus Bolivien, Pepe Mujica aus Uruguay und Rafael Correa aus Ecuador. Von ihnen gehen zumindest Morales und Correa als Populisten durch. Auch unter den beliebtesten Ex-Präsidenten finden sich mit Hugo Chávez (Venezuela), Néstor Kirchner (Argentinien) und Alvaro Uribe (Kolumbien) gleich drei Populisten.

Selbstverständlich: Der Begriff Populismus ist in der Politikwissenschaft umstritten. Etymologisch bezieht er sich auf eine Ideologie, die ans Volk appelliert, im Gegensatz zur Elite. Das kann einen positiven Unterton haben - im Sinne von Volksnähe - oder einen negativen, im Sinne von Volksverführern. Folgende Charakteristika wurden von Politologen herausgearbeitet: Ein charismatischer Anführer mit einem anti-oligarchischen Diskurs, der den Status-Quo herausfordert. Vermittelnde Institutionen werden überflüssig, die Beziehung zwischen Führer und Volk ist direkt. Geschichte wird reinterpretiert als Ablauf von Usurpation der Macht durch Eliten und darauf folgende, zwangsläufige Korruption und Dekadenz.

Sinnvoller wäre es, populistische Tendenzen als frühzeitiges Warnzeichen zu verstehen, um verknöcherte Strukturen zu reformieren, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und neue Formen der Partizipation zu finden.

In der Regel sehen sich Populisten als personifizierte historische Zäsur. Klientelismus und die Umverteilung der Ressourcen an Gefolgsleute ist verbreitetet. Kontrollinstanzen werden ausgehebelt; die Gewaltenteilung aufgeweicht. Programmatisch kann der Populismus sowohl mit konservativ-nationalistischem, als auch mit progressivem, oder gar revolutionärem Gedankengut aufgeladen werden – das ist jedoch weniger ausschlaggebend als der moralische Anspruch, der sich auf die dichotomische Gegenüberstellung von „Volk“ versus „System“ stützt.

Parteien werden überrollt von der neuen „Volksbewegung“. Die Beziehung der Populisten zum Staat ist widersprüchlich. Für die einen muss er stark sein, um das Gemeinwohl vor dem Angriff der Eliten zu schützen, für die anderen darf er möglichst wenig organisierte Strukturen haben. Populismus kann kapitalistisch oder antikapitalistisch ausfallen, wobei er in Lateinamerika aufgrund der kolonialen Geschichte häufiger mit einem emanzipatorisch-nationalistischen Wirtschaftsmodell mit anti-imperialistischen Zügen einhergeht. Es gibt aber durchaus auch neoliberale Populisten, wie den kolumbianischen Ex-Präsidenten Alvaro Uribe oder Perus ehemaligen Staatschef Alberto Fujimori.

 

Die Zutaten des populistischen Nährbodens

Populisten fallen nicht vom Himmel. Sie erwachsen aus einer Reihe von Umständen, von denen einige auch in europäischen Staaten gegeben sind. Werden sie von der Elite weiter vernachlässigt, bieten sie den Nährboden für populistische Erfolge. Folgende Elemente begünstigen den Aufstieg der Populisten:

  • Politische und wirtschaftliche Zentralisierung in einem oder wenigen urbanen Zentren und Vernachlässigung staatlicher Präsenz im Rest des Landes. Das Vakuum wird durch parastaatliche Akteure gefüllt, die ihre Macht gewaltsam durchsetzen (Peru in den 80er Jahren des Guerillakriegs; Kolumbien Ende der 90er Jahren bei der Offensive der FARC-Rebellen nach den gescheiterten Friedensgesprächen; Honduras aktuell). Dies lässt in der leidenden Bevölkerung den Ruf nach einem starken Mann und/oder dem Militär laut werden. Mexiko erlebt momentan einen ähnlichen Zerfall staatlicher Souveränität; auch in Peru wurde der Staat in den vergangenen zehn Jahren erneut in vielen Regionen durch korrupte Mafiastrukturen unterlaufen, sabotiert oder kooptiert.
  • Eine selbstbezogene Elite, die den Bezug zur Realität verliert, Selbstkritik und Kontrolle vermissen lässt und das Gemeinwohl aus dem Auge verliert. Das Versagen der Elite diskreditiert das demokratische System als Ganzes. Ein Beispiel hierfür ist die ausufernde Korruption und Vetternwirtschaft der beiden dominierenden Parteien der Vierten Republik in Venezuela, der sozialdemokratischen AD und der christdemokratischen Copei. Einher ging dies mit dem Verfall der Erdölpreise und dem Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung vom Fortschritt. Entsprechend fielen die Brandreden des Linkspopulisten Hugo Chávez auf fruchtbaren Boden. In Peru gab es in der Bevölkerung kaum Widerstand, als Fujimori 1992 den Kongress schließen ließ – derart diskreditiert waren die Parlamentarier. In Bolivien stürzte das politische System in den 90er Jahren über seinen Rassismus, also die Diskrepanz zwischen indigener Bevölkerungsmehrheit und fast rein europäischer Elite. Evo Morales gelang es, diesen Widerspruch mit seinem indigen-sozialistischen Populismus erstmals politisch auszuschlachten. Das traditionelle Parteiensystem fegte er ebenso hinweg wie ein als stabil geltendes, institutionelles Gerüst.
  • Ein Parteiensystem, das interne Kritik, sowie persönliche und programmatische Erneuerung blockiert und hauptsächlich am Verteilen von Pfründen orientiert ist. Die Legitimität der Parteien wird dadurch langsam aber dauerhaft geschädigt. Das zeigen die Beispiele von Ecuador, Bolivien, Peru, Venezuela oder Kolumbien. Der Niedergang der Altparteien in diesen Ländern war fulminant. Sie wurden von den populistischen Massenbewegungen wie der MAS in Bolivien, der PSUV in Venezuela oder der Alianza País in Ecuador überrollt. In einer ersten Phase sind diese Massenbewegungen in der Regel dominant bis hegemonisch; im weiteren Verlauf leisten sie aber der Zersplitterung der Parteienlandschaft Vorschub. Gut zu beobachten ist dies in Peru, wo bei jeder Wahl Dutzende neuer Plattformen entstehen, als Machtvehikel diverser nationaler oder regionaler Caudillos. Weder die erste noch die zweite Ausprägung der populistischen Parteien stärken die Demokratie. In der Regel befeuern sie autoritäre und klientelistische Praktiken.
  • Ein wirtschaftliches System, das bei der Umverteilung scheitert, die Ungleichheit zementiert und kaum Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs bietet. Damit wird die Legitimität der Machteliten untergraben. In Lateinamerika schlossen die Wirtschaftssysteme historisch den Großteil der Bevölkerung aus. Das ist der Nährboden für eine ganze Reihe lateinamerikanischer Populisten - angefangen bei Perón und Vargas, mit ihren Visionen vom nationalistischen Industriestaat, über den Kubaner Fidel Castro und die marxistischen Revolutionen der 60er und 70er Jahre in Mittelamerika, bis hin zu Daniel Ortega in Nicaragua heute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren es häufiger Wirtschaftskrisen (wie der Ölpreisverfall in Venezuela Ende der 80er Jahre oder die Zahlungsunfähigkeit Argentiniens im Jahr 2001), die den Ausschlag für populistische Lösungen gaben.
  • Wirtschaftliche Krisen und Umbrüche, wie zum Beispiel der Wandel zum Industriestaat oder die Globalisierung, gehen mit sozialen Umwälzungen einher und lösen in der Bevölkerung Unsicherheit aus. Die Angst vor sozialem Abstieg ist, ebenso wie die Unmöglichkeit sozialen Aufstiegs, eine Klaviatur, auf der Populisten mit Geschick spielen. Sektoren, die aus der bisherigen Struktur herausfallen – neue Reiche, ebenso wie neue Arme oder ethnische und andere Minderheiten - akkumulieren Ressentiments und Rachegefühle gegenüber dem „Establishment“. Dieser psychologische Aspekt des Populismus ist nicht zu vernachlässigen. In der Regel suggerieren starke „Vaterfiguren“ einfache Lösungen für komplexe Probleme. Sie reduzieren die Widersprüche und den Pluralismus einer Gesellschaft auf den vagen Begriff des „Volkes“ und stärken das Selbstwertgefühl, in dem Schuld auf andere abgewälzt wird - seien es „Oligarchen“, „Imperialisten“ oder „Ausländer“.

Ist Europa davor gefeit? Und wie kann man sich davor schützen? Die Augen zu verschließen oder die Populisten einfach zu verteufeln, ist vor den lateinamerikanischen Erfahrungen kaum sinnvoll. Sinnvoller wäre es, populistische Tendenzen als frühzeitiges Warnzeichen zu verstehen, um verknöcherte Strukturen zu reformieren, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und neue Formen der Partizipation zu finden. Denn: Es gibt in Lateinamerika durchaus Regierungen, die es geschafft haben, populär am Puls des Volkes zu sein, ohne in autoritäre Repression oder unverantwortlichen Wirtschaftspopulismus zu verfallen. Die also im positiven Sinne der „Volksnähe“ populistisch waren. Brasilien ist ein Beispiel, aber auch die historischen Reformen, die Michelle Bachelet derzeit in Chile vornimmt. Sie verdienen viel mehr Aufmerksamkeit als ihnen in Europa zukommt.