Lord Stratford Canning, 1st Viscount de Redcliffe, hielt von den Russen wenig. Eine gute, gar eine konstruktive Rolle in der Orientpolitik werde das Zarenreich nie spielen. »Das alte Rom dehnte seine Herrschaft durch Eroberung aus, aber wo immer seine Adler flogen, folgte die Zivilisation. Der russische Greif kennt einen solchen Auftrag nicht – wohl wendet er sich zur Sonne, aber der Schatten seiner Flügel bringt nichts als Finsternis«, so schrieb Großbritanniens Botschafter bei der Hohen Pforte am Vorabend des Krimkrieges von 1853.

Die Wahl der Worte mag sich ändern, aber die russische Außenpolitik genießt bei uns heute wieder den Ruf, sie sei eiskalt, schonungslos und moralischen Erwägungen abhold. Viele Kommentatoren der aktuellen Krimkrise finden, dass Putins Russland nur einmal mehr sein wahres Gesicht zeige. Oder eher: seine Fratze. Man bedauert schlechterdings, dass der Westen dem nichts entgegen setzen kann – oder will. Anders als zu Zeiten Stratford Cannings, als Frankreich und Großbritannien den Bären noch in die Schranken wiesen: an der Seite ihrer osmanischen Verbündeten und mit spektakulären Reiterschlachten wie der in Malerei und Dichtung eingegangenen »Charge of the Light Brigade«.

Die Welt ist abgelenkt, das Schlachten geht weiter...

Damals war die Krimkrise ein Aspekt der Orientpolitik und mittelbare Folge eines Machtkampfes um Einflusszonen im Nahen Osten. Heute steht sie für uns Europäer hinter anderen Vorzeichen. Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen am Schwarzen Meer und jenen in Syrien. Und der besteht nicht nur in der bitteren Erkenntnis, dass das Regime Baschar al-Assads sich die Hände reiben dürfte: Die Welt ist wieder abgelenkt, während das Schlachten täglich weitergeht. Man kann jetzt weiter militärisch Fakten schaffen. Und angesichts der – verhältnismäßig direkten – Konfrontation mit Russland auf der Krim rückt Syrien auch in den internationalen Beziehungen in den Hintergrund.

Wer am Erfolg der Genfer Verhandlungen zuvor schon zweifelte, wer keine Chance sah, dass Russland auf Assad auch nur ein Quäntchen Druck ausüben würde, sieht sich erneut bestätigt: Die großen Weltmächte sind durch die Krimkrise dermaßen entzweit, dass Vertrauensbildung und Annäherung in der Syrienfrage so wenig greifbar scheinen wie im Kalten Krieg. Und mancher liest darin nur eine weitere üble Botschaft: Russland ist bereit, zum Äußersten zu gehen, wenn das betroffen ist, was es als seine »vitalen Interessen« definiert.

Nicht Putin lässt täglich Fassbomben auf Zivilisten werfen. Viele Menschen in der Ukraine mögen das skandalös finden, aber anstandshalber muss man fragen: Was kümmert es uns wirklich, ob auf der Krim die Fahne Russlands oder der Ukraine weht, wenn jeden Tag in Syrien Menschen massakriert werden?

Man sollte gewiss nicht eine internationale Krise und das damit verbundene Leid von Menschen gegen eine andere aufwiegen. Geschweige denn ausspielen. Aber eine Feststellung sei bei aller Kritik an Russland doch erlaubt: Nicht Putin lässt täglich Fassbomben auf Zivilisten werfen. Viele Menschen in der Ukraine mögen diese Gleichung skandalös finden, aber anstandshalber muss man fragen: Was kümmert es uns wirklich, ob auf der Krim die Fahne Russlands oder der Ukraine weht, wenn jeden Tag in Syrien Menschen massakriert werden? Können wir, wie jüngst der britische Außenminister William Hague, wirklich von der Krim als »Europas schwerster Krise des 21. Jahrhunderts« sprechen?

Die Krimkrise als politische Chance für Syrien

Irgendwann in der Schule haben wir gelernt, dass Staaten nicht aus Freundschaft, sondern aus Interessen Beziehungen eingehen. Und das steht ganz gewiss auch in russischen Lehrbüchern. Wenn man diesen Satz verinnerlicht, kann man die Krimkrise vielleicht sogar als eine Chance begreifen: Natürlich denken wir zunächst, dass Russland und der Westen zu weit von einer Verständigung entfernt liegen. Dass es wenig Sinn macht, über »marginalen« Problemen der Weltpolitik wie Syrien nach Gemeinsamkeiten zu suchen , wenn man sich in den akuten, den »vitalen« Fragen feindselig gegenüber steht. Dabei sollten wir aber nicht außer Acht lassen, dass Staaten auch miteinander handeln – nicht aus Moral, sondern aus Interesse.

Moskau hält seine Hand über das Assad-Regime – und behauptet, es schütze damit auch Minderheiten, vor allem Christen im Nahen Osten, vor der Ausrottung durch islamistische Rebellen. Aber letztendlich sind die strategischen Interessen der Russen in Syrien nicht so vital, als dass sie unverhandelbar wären. Zwar fühlt sich Putin stark und betrachtet die Krimkrise womöglich als Auftrag des Schicksals, Russlands wunde Seele durch Macht und Stärke wieder aufzurichten. Dabei ist nicht auszuschließen, dass er seine Interessen im Nahen Osten ebenso rücksichtslos durchsetzen würde wie am Kaukasus oder auf der Krim.

Aber die Russen wissen gut, dass permanente Konfrontation mit dem Westen ihrem Land auch schadet. Und sei es nur, weil die Gazprom-Aktie in den Keller rauscht. Was Ärger mit dem Westen anbelangt, so stellt der Kreml eine schlichte Kosten-Nutzen-Rechnung auf: so viel davon wie notwendig, so wenig davon wie möglich.

In Verhandlungen mit Moskau sollte Syrien jetzt in die Waagschale geworfen werden. Mit folgendem Angebot: Wir halten uns zurück und respektieren »vitale« russische Interessen auf der Krim. Aber dafür erhalten wir eine Gegenleistung: Russland muss helfen, das Schlachten in Syrien zu beenden.

Westliche Politiker und Diplomaten, denen es in den kommenden Wochen obliegt, mit Moskau zu verhandeln, sollten das Syrien-Dossier dabei nicht links liegen lassen, sondern es in die Waagschale werfen. Mit folgendem Angebot: Wir halten uns zurück und respektieren »vitale« russische Interessen auf der Krim. Aber dafür erhalten wir eine Gegenleistung: Russland muss helfen, das Schlachten in Syrien zu beenden. Und wenn die russische Leistung darin besteht, der syrischen Luftwaffe Bomben auf Aleppo zu verbieten und dem Regime in Damaskus seine Blanko-Schecks zu streichen, ist damit viel gewonnen. Auch und gerade im europäischen Interesse.

Ein unmoralisches Geschäft? Durchaus. Soll Putin doch dafür auf der Krim sein russisches Protektorat errichten. Und wenn er behauptet, er könne Assad nicht fallen lassen, weil ihm, Putin, das Schicksal auch eine Schutzverantwortung für die Christen, die Minderheiten und die Wahrung russischer Interessen in Syrien aufgetragen hat, so soll er diese Schutzverantwortung auch wirklich übernehmen: Etwa, indem er russische Truppen an die syrische Mittelmeerküste sendet und dort ein russisches Protektorat – oder präziser: ein Mandatsgebiet – errichtet. Und zwar mit einem Auftrag der UN und als Nachbar türkischer, europäischer und amerikanischer Mandatstruppen. Es soll uns recht sein. Hauptsache, das Gemetzel in Syrien nimmt irgendwann ein Ende. Hauptsache, die Menschen finden etwas Zeit zum Atmen. Und vielleicht auch wieder zur Besinnung.