Wir erleben gerade den Übergang von einer alten zu einer neuen Handelswelt, in der die Öffnung der Märkte von großer Bedeutung für die Zukunft geworden ist. Die alte Handelswelt war eine Sphäre nationaler Produktionssysteme, in der Handelsschranken heimische Produzenten vor der ausländischen Konkurrenz schützen sollten. Im Gegensatz dazu ist die neue Handelswelt geprägt von einer transnationalen Produktion entlang globaler Zulieferketten von Waren und Dienstleistungen; Handelsschranken sollen den Schutz der Verbraucher vor Risiken gewährleisten.
Mit einem Bein stehen wir noch in der alten Welt, mit dem anderen schon in der neuen. Wir bewegen uns von den protektionistischen Maßnahmen – Quoten, Zöllen und Subventionen – zu Vorsorgemaßnahmen – Garantien, Sicherheit, Gesundheit und ökologische Nachhaltigkeit. Dies ist die neue Spielart der alten Trennlinie zwischen nichttarifären und tarifären Maßnahmen.
Aber auch in der neuen Welt werden bestimmte Merkmale der alten Welt unverändert bleiben. Zum einen führt die Öffnung des Handels durch den Abbau von Handelsbeschränkungen zu mehr Wachstum und Wohlstand. Das funktioniert allerdings nur unter bestimmten Umständen. Die Generierung wirtschaftlicher Gewinne ist eine Sache, die Schaffung sozialer Gewinne steht auf einem anderen Blatt.
Die Marktöffnung führt zu Effizienzsteigerungen. Das funktioniert, weil es schmerzhaft ist. Es ist schmerzhaft, weil es funktioniert. Für die Schwachen ist dieser Schmerz jedoch akuter. Daher bedarf es geeigneter Maßnahmen für eine soziale Gerechtigkeit.
Zum anderen geht es bei der Öffnung des Handels durch den Abbau von Handelsbeschränkungen um das Erreichen ausgewogener Wettbewerbsbedingungen, und zwar in einer vorhersehbaren Art und Weise, die für stabile Wirtschaftserwartungen sorgt. Das System ist ganz einfach: Man wird die protektionistischen Maßnahmen los, indem man sie reduziert oder vollständig beseitigt.
Andere Spielregeln des Handels
In der heutigen Welt der Sicherheits- und Vorsorgemaßnahmen herrschen ganz andere Spielregeln. Man stelle sich einen EU-Handelskommissar vor, der vor dem Europäischen Parlament spricht: „Meine Damen und Herren, ich bin für die Liberalisierung des Handels mit Blumen – eine großartige Möglichkeit, Wettbewerbsvorteile auszunutzen, insbesondere für unsere afrikanischen Freunde. Deshalb beantrage ich heute, dass wir für einzelne Länder – beispielsweise für Ruanda als armem Land, für Costa Rica als Land mit mittlerem Einkommen und für Israel als einkommensstarkem Land – jeweils andere Höchstgrenzen für Pestizidrückstände bei Blumen festlegen.“ So wird das nicht funktionieren.
Was bei Zöllen gang und gäbe war, ist nicht auf Standards, Zertifizierungen und Konformitätsbewertungsverfahren übertragbar. Nichttarifäre Maßnahmen sind nicht auf dieselbe Weise verhandelbar wie tarifäre. Die meisten nichttarifären Maßnahmen sind vorsorgende und gegen Risiken schützende Maßnahmen und kein Ersatz für die vorherigen protektionistischen Maßnahmen. Bei der Vorsorge geht es nicht darum, diese Maßnahmen loszuwerden, sie abzubauen oder vollkommen zu beseitigen, sondern es geht darum, die Unterschiede zwischen den Sicherheitsstandards und den unterschiedlichen Vorsorgesystemen zu reduzieren.
In Europa war die Abschaffung dieser unterschiedlichen Regulierungen der entscheidende Aspekt für den Übergang vom „gemeinsamen“ zum „EU-Binnenmarkt“. Als ich in der alten Welt über Zölle verhandelte, konnte ich mir der stillschweigenden Zustimmung der Konsumenten genauso sicher sein wie des lautstarken Protests der Produzenten gegen verschärften Wettbewerb auf dem jeweiligen Binnenmarkt.
In der neuen Handelswelt ist die politische Ökonomie auf den Kopf gestellt. Wenn ich mich um die Angleichung von Sicherheitsvorschriften kümmere, unterstützen mich die Produzenten, weil sie die Aussicht auf einheitliche Standards verlockend finden, denn dann lassen sich Geschäfte in einer ganz anderen Größenordnung betreiben. Dafür fallen mir allerdings die Verbraucher oder besser gesagt die Verbraucherverbände in den Rücken. Warum? Weil das schlicht und ergreifend ihre Aufgabe ist. Sie müssen ihre Mitglieder davon überzeugen, dass die Menschen großen Gefahren ausgesetzt wären, wenn die Verbände hier nicht eingreifen würden. Ihr Ziel ist der Verbraucherschutz und das heißt, sie wollen bessere Sicherheits- und Vorsorgemaßnahmen. „Gefahr im Verzug! Die Standards werden herabgesetzt!“, lautet ihr Protestgeschrei. „Meine Sicherheit ist mir wichtig und die steht jetzt auf dem Spiel.“ Und weil es beim Vorsorgeprinzip um Risikomanagement geht, wird es immer heißen: „Halt! Ich will nichts, was meine Risikolevel erhöht“, was ein weiterer Aspekt des Sicherheitsdiskurses ist.
Dies ist ein ganz anderes politisches Spiel als in der vorherigen Welt, in der von den Verbrauchern wenig zu hören war. In der neuen Welt werden sie verständlicherweise sehr viel lauter. Und das führt zwangsläufig zu politischen Spannungen.
Die Zölle der Vergangenheit waren mehr oder weniger ideologisch neutral. Wenn man in einem Land die Zölle auf Fahrräder abschafft und als Gegenleistung im anderen Land die Zölle auf Altmetall, wissen alle, wovon die Rede ist, da Altmetalle und Fahrräder auf der ganzen Welt dasselbe sind.
In der Welt der Sicherheit und Vorsorge verlässt man neutralen Boden. Sicherheit hat abhängig von Kultur, Geschichte oder Religion sehr unterschiedliche ideologische Nuancen.
Aber in der Welt der Sicherheit und Vorsorge verlässt man neutralen Boden. Sicherheit hat abhängig von Kultur, Geschichte oder Religion sehr unterschiedliche ideologische Nuancen. Man denke nur an Tierschutz, GVOs oder Datenschutz. Hier herrschen extrem unterschiedliche Empfindlichkeiten, und die Herausforderung, ausgewogene Wettbewerbsbedingungen unter Einbeziehung der Sicherheitsstandards zu schaffen, läuft auf eine Wertefrage hinaus. Letzten Endes hat das nämlich etwas mit der Frage zu tun, was gut und was schlecht ist. Und „gut“ und „schlecht“ haben mit Wertvorstellungen zu tun.
Früher ging es bei Handelsgesprächen um den Abbau von Schutzzöllen. Das Spiel hieß „Weniger“. In Zukunft werden es die Regulierungsbehörden damit zu tun haben, die Schutz- und Vorsorgemaßnahmen zu harmonisieren und zu erhöhen. Dieses Spiel heißt „Mehr“.
Warum? Weil „Mehr“ der einzige machbare politische Weg ist, da die Öffnung der Märkte durch den Abbau von Sicherheitsvorschriften in der öffentlichen Meinung ein absolutes Tabu ist. „Mehr“ ist vermutlich auch wirtschaftlich sinnvoll, da die Kosten für die Erhöhung der Sicherheitsstandards normalerweise aufgrund der Skaleneffekte mehr als kompensiert werden. Die Produzenten würden also von der Harmonisierung der Bestimmungen profitieren.
Das bedeutet, dass die Länder mit den höchsten Sicherheitsstandards, also die am meisten entwickelten Länder, den Maßstab für die Angleichung der Bestimmungen setzen werden. Und genau deshalb ist das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP so sinnvoll, nicht nur für die EU und die USA, sondern auch für den Rest der Welt.
Käme dieses Abkommen zustande, was meiner Meinung nach aufgrund seiner Komplexität in absehbarer Zeit nicht passieren wird, würde es vermutlich in Sachen Verbraucherschutz in vielen Waren- und Dienstleistungsbereichen einen Weltstandard setzen.
Während TTIP die erste Show der neuen Handelswelt ist, weil damit eine Ausweitung des Vorsorgeprinzips angestrebt wird, ist die Transpazifische Partnerschaft (TPP) zwischen den USA, Japan und anderen asiatischen Ländern (ohne China) die letzte Show des alten Welthandels.
Bei der TPP geht es vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, um die klassischen protektionistischen Streitfragen des Marktzugangs, weshalb dieses Abkommen vermutlich schon bald mit moderaten Ergebnissen abgeschlossen wird. Dagegen stehen beim TTIP Vorkehrungen zu einer regulatorischen Konvergenz im Vordergrund. Dass die TTIP-Verhandlungen nur so langsam vorankommen, ist darauf zurückzuführen, dass die Initiatoren – sowohl die USA als auch die EU – den Fehler begingen, sich bei den Verhandlungen für die Variante „weniger Schutz“ statt „mehr Schutz“ zu entscheiden.
Die Spannungen, die wir heute im Welthandel erleben, resultieren aus dem Wettrennen zwischen der Globalisierung und der Fähigkeit unserer politischen und rechtlichen Systeme, in Bezug auf „kollektive Präferenzen“ eine Balance zu finden. Die Vorteile der Globalisierung gehen mit Stärke und Größe einher. Aufgrund der wirtschaftlichen Effizienz durch Größenvorteile heißt die Devise: je größer, desto besser. Identität, Legitimität und Politik hingegen brauchen Nähe und einen geringen Umfang. Hier gilt: je kleiner, desto besser.
In der alten Welt konnten verschiedene Wertesysteme nebeneinander existieren. In der neuen Welt führt die Notwendigkeit, Schutzbestimmungen aller Art anzugleichen, die Produktionssysteme von der Koexistenz unter verschiedenen Dächern zu einem Zusammenleben unter einem Dach. In der Welt des Protektionismus kam der globale Marktkapitalismus ohne die „Wert“-Frage aus. In der Welt der Schutzbestimmungen steht diese Frage im Mittelpunkt.
Dieser Artikel basiert auf der Jan Tumlir Lecture, die Pascal Lamy kürzlich am European Centre for International Political Economy in Brüssel gehalten hat.
10 Leserbriefe
wenn Sie Ihre Überlegungen auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte richten könnten, käme dies der Notwendigkeit, Globalisierung und Welthandel gerecht zu gestalten sehr entgegen. Nur, wie kann man sicherstellen, dass mit Vertragspartnern, die internationale Abkommen für die Rechte von Arbeiterinnen nicht anerkennen, dieser Schutz zum Wohl schwächerer Marktteilnehmer aufrecht erhalten bleibt.
Arbeitnehmerrechte sind wichtiger als die Größe von Obstkisten die Anzahl von Bolzen in einem Ventil zur Sicherung.
Hochachtungsvoll
Hildegard Hagemann
Vor diesem Hintergrund bleiben allerdings Zweifel an einigen Punkten, die bisher an die Öffentlichkeit gelangten: Der Investorenschutz und die Schiedsgerichte und auch die Zukunftsfähgkeit der jetzigen Standards.
Es spricht gerade vor dem Hintergrund der Allgemeingültigkeit der Standards vieles für einen Investorenschutz bei Ländern mit labilen Rechtssystemen. Der sollte also erhalten bleiben, aber vor international anerkannten Gerichten mit demokratischer Legitimation verhandelt werden. Ferner ist dafür zu sorgen, dass künftige Schutzstandards, die sich an rasant fortschreitenden Erkenntnissen über Klima, Gesundheit, Arbeitsschutz orientieren, laufend Eingang in die Kriterien finden, nach denen verhandelt wird. Insofern sind Gabriels Versicherungen, der "Goldstandard" künftiger globaler Wirtschaft werde festgelegt, eben nicht ausreichend. Investoren müssen - und das ist in der globalen Haifisch-Wirtschaft eben neu - nicht nur kurzfristig, sondern langfristig investieren. Ein Schutz vor Willkür ist geboten. Ein Schutz vor neuen Erkennnissen und Standards menschlicher Wohlfahrt hingegen nicht !
ausgebeutet wird der einwohner der oben gennanten laender ohnehin, durch sein korruptes regierungssystem, durch seine (bewusst gefoerderte) unkenntnis der zusammenhaenge, durch die vormachtstellung der globalen konzerne in seinem land, die den politikern und anderen helfen aber nicht den 'kleinen mann auf der strasse' und, last but not least, durch die menschenverachtenden einstellungen der westler wie der verfasser des artikels, der nun wirklich keine ahnung von den zustaenden in der 'dritten welt' hat ... und natuerlich an loesungen auch garnicht wirklich interessiert ist... denn woher bekommt der bewohner der 'letzten meilen' sein wasser, seine elektrizitaet und sein essen, sein einkommen?
ganz gewiss nicht durch diese 'vertraege' die oben im artikel so nichtssagend beschrieben werden...
gerne lade ich diesen sauberen herrn ein, ein paar wochen in den 'letzten meilen' in indonesien zu verbringen, natuerlich ohne die 'annehmlichkeiten' der westlichen zivilisation...
@ Petzer schrieb
„Ferner ist dafür zu sorgen, dass künftige Schutzstandards, die sich an rasant fortschreitenden Erkenntnissen über Klima, Gesundheit, Arbeitsschutz orientieren, laufend Eingang in die Kriterien finden ...“
Neue Standards lassen sich zunächst nur in kleinen Räumen durchsetzen – und das muss der demokratischen Willensbildung auch zugänglich sein. Auch deswegen gibt es Regionalisierungstendenzen siehe Schottland, Versprechen der neuen Britischen Regierung für Wales, Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten etc. pp. Wenn die einen Sinn haben und wirksam werden sollen, dann müssen an deren Grenzen Ausgleichssysteme für unterschiedliche Steuersätze und Belastungskosten möglich sein – wie bei unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen schon jetzt Realität: Wie Ent- bzw. Belastung von / mit der heimischen Mehrwertsteuer so auch Ent- bzw. Belastung von / mit Kosten für Lohn-, Sozial-, Gesundheits- und Umweltregelungen.
TTIP – selbst wenn es am Anfang hier und da hohe Standards bei einigen Schutzgütern festschriebe – wäre allenfalls schwerfällig eher gar nicht zu ändern. Die Bürger könnten demokratisch noch weniger Einfluss ausüben als jetzt schon, wo sie die Entscheidungen der Investoren fast hilflos hinnehmen oder teuer für eine Investition zahlen müssen. Sie würden immer häufiger resignierte Nichtwähler oder gar radikalere Verweigerer. TTIP höhlt die Demokratie weiter aus.
Nein, nicht TTIP, CETA, feste Wechselkurse usw. sind die Mittel der Globalisierung, mit denen der Wohlstand verbreitet wird, sondern ein flexibles System des Ausgleichs von politischen regionalen Regelungen, die den Wettbewerb und die Effizienzsteigerung auf Leistung konzentrieren. Mit solchen Regelungen müssen Lohn-, Sozial-, Steuer-, Gesundheits- und Umweltdumping als Wettbewerbsvorteile ausgeschlossen werden. Regionale Regelungen müssen so wieder ermöglicht und damit die Entmachtung der Demokratie wieder rückgängig gemacht werden.
Eine weitere sehr beunruhigende Hintergrundfrage erhebt sich in der Personalie des Autors und seiner Denkweise: Demaskiert sich hier der Apparat der EU nicht wieder einmal als demokratisch fragwürdig und operativ bedenklich, ja gefährlich für die Menschen hier und weltweit?
Im Übrigen glaubte er damals, dass ein solches Handelsabkommen „auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, also die höchste Stufe an Regulierung“ abgeschlossen würde – und dass daher die „Erwartungen einiger Firmen“ (an die Erleichterungen im Handel und daher Wachstumschancen) „naiv“ seien. In dem neuen Beitrag hier propagiert er geradezu diese höchsten Stufen der Regulierung, behauptet aber dennoch, dass davon eine Wachstumsdynamik ausginge, die er damals für eher naiv gehalten hat.
Dass das mit der Realität dieser Verhandlungen nun aber auch gar nichts zu tun hat, erleben wir aber leider gerade täglich (wie nicht anders zu erwarten, sind heute die Sozialdemokraten im EU-Handelsausschuss umgefallen und haben bei einer Abstimmung den rechtsstaatswidrigen und zutiefst demokratiefeindlichen Investitionsschutz passieren lassen - wer hat uns mal wieder verraten…).
Wobei Lamy offenbar selbst nicht nicht an die von ihm konstatierten segensreichen Wirkungen der angestrebten Harmonisierung und regulatorischen Konvergenz bei TTIP glaubt. Nämlich wenn er wenige Sätze weiter unten feststellt, „dass die TTIP-Verhandlungen nur so langsam vorankommen, ist darauf zurückzuführen, dass die Initiatoren … den Fehler begingen, sich bei den Verhandlungen für die Variante „weniger Schutz“ statt „mehr Schutz“ zu entscheiden“. Also exakt das Gegenteil von dem konstatiert, was er weiter oben und in der Überschrift suggeriert.
Das macht ratlos. Was denn nun: TTIP für mehr oder weniger Schutz, für Anpassung nach oben oder Anpassung nach unten? Gut für die EU und die USA und den Rest der Welt oder vielleicht doch nicht gut?
Wer glaubt, beim im Wesentlichen unkontrollierten Zusammenspiel der lobbyverseuchten und von Deregulierungsideologen bevölkerten Handelsbürokratien beiderseits des Atlantiks könne etwas Anderes herauskommen als WENIGER, nämlich weniger Schutz, weniger Rechtstaat und weniger Demokratie, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.