Die progressive Demokratische Fortschrittspartei (DPP) und ihre Vorsitzende Tsai Ing-wen haben am 16. Januar 2016 bei den Wahlen in Taiwan einen Erdrutschsieg errungen. Tsai Ing-wens Sieg bei der Präsidentschaftswahl war zwar keine Überraschung – schon im vergangenen Sommer sprach sie selbstbewusst von sich selbst als zukünftige Präsidentin Taiwans. Es ist die Deutlichkeit der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse, die den Wahltag zu einem historischen machen. Mit 56 Prozent der Stimmen ließ die neue Präsidentin ihre Mitbewerber abgeschlagen hinter sich. Ihre Partei hat zum ersten Mal in der Geschichte Taiwans eine wirkliche Mehrheit und kann mit 68 von 113 Sitzen im Parlament ihre Politik durchsetzen. Sie ist die erste Präsidentin in der chinesischen Welt. Allein das ist ein Aufbruch. Zumal ihr Erfolg auf der eigenen politischen Ausdauer und Führungsqualität beruht, und sie nicht wie in anderen asiatischen Staaten einem Ehemann oder Vater ins Amt folgt.
Der Tag war also auch ein Fest der Demokratie in Asien und wird mittelfristig seine Wirkung auf die Region nicht verfehlen. Die fairen und freien Wahlen mit einem klaren Machtwechsel zeigen wie tief verwurzelt die Demokratie in Taiwan ist. Während in anderen Staaten Asiens Gesetze die Tätigkeit und Möglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen einzuschränken drohen und sich die Spielräume der Zivilgesellschaft verengen, spielten in Taiwan zivilgesellschaftliche Proteste und Nichtregierungsorganisationen eine tragende Rolle beim gesellschaftspolitischen Fortschritt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich etwas Neues entwickelt, eine neue demokratische Kultur, die nach mehr Partizipation und Transparenz verlangt. Dieser Prozess geht soweit, dass mit der neuen Partei „Die neue Kraft“ die junge ungeduldige Zivilgesellschaft mit fünf Sitzen direkt ins Parlament einzieht.
Es hat sich in der Mehrheitsgesellschaft der Inselrepublik so etwas wie eine taiwanische Identität entwickelt. Und dazu gehört zum einen ein gewisser Stolz auf die Demokratie und Freiheit in Taiwan, aber eben auch eine Distanz zu China, und zwar nicht nur zur Regierung in Peking, sondern zu China als entscheidenden politischen wie kulturellen Bezugspunkt. So nimmt es nicht wunder, dass die Volksrepublik China im Wahlkampf eher im Hintergrund eine Rolle gespielt hat. Es geht den Bürgerinnen und Bürgern um eine neue Politik, die dafür sorgt, dass Taiwan nicht den Anschluss an die Welt verliert und dass die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt. Die Mehrheit will eine Regierung, die sich um die Belange der großen Mittelschichten kümmert. Es geht um gute Arbeit, bezahlbaren Wohnraum und die Überwindung sozialer Ungerechtigkeit.
Die neue Präsidentin Tsai Ing-wen wird nicht mit viel Nachsicht und Geduld rechnen können.
Um diese Herausforderungen wird sich Präsidentin Tsai Ing-wen bei ihrem Amtsantritt am 20. Mai kümmern müssen. Sie wird dabei nicht mit viel Nachsicht und Geduld rechnen können. Ihre Wählerinnen und Wähler haben hohe Erwartungen und die Führung in Peking beobachtet sie mit Argusaugen. Wie Tsai Ing-wen ihre Mehrheiten genau nutzen wird, ist derweil unklar. Die Juraprofessorin und Expertin für internationales Handelsrecht gilt als klug und pragmatisch, ist eine harte Verhandlungsführerin und wirkt wie eine politische Sphinx. Sie will die Gesellschaft in Taiwan zusammenhalten, dafür wird sie sich um den Arbeits- und Wohnungsmarkt kümmern müssen. Sie will Taiwan wirtschaftlich aus der Abhängigkeit von Festlandchina lösen, indem sie die taiwanesische Wirtschaft stärker mit der Region vernetzt. Sie setzt dabei auch auf die amerikanische Transpazifische Partnerschaft, an der die Volksrepublik China nach Willen der USA nicht partizipieren soll. Nur den Weg gibt Tsai Ing-wen vorab nicht preis.
Unklar bleibt auch wie die neue Präsidentin das Verhältnis Taiwans zur Volkrepublik gestalten will. Sie hat viel Erfahrung im Umgang mit der Volksrepublik, zumal sie unter Präsident Chen Shui-bian die für die Beziehungen zum Festland zuständige Behörde geleitet hat. Sie will den Status quo erhalten, aber wie? In ihrer Siegesrede versprach sie stabile und zuverlässige Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße und hob gleichzeitig die Souveränität Taiwans hervor. Sie appellierte an die Verantwortung der kommunistischen Führung in Peking einen Weg zu einem gleichberechtigten Dialog in Würde zu finden. Sie kommt aus der Unabhängigkeitsbewegung, gehört aber nicht zu deren harten Kern. Ihr ist bewusst, dass Taiwan ohne China wirtschaftlich nicht vorankommen wird, aber sie fürchtet die Umklammerung des chinesischen Drachens. Die Wahrung der taiwanischen Demokratie und Unabhängigkeit ist für sie sicher nicht verhandelbar. Gleichzeitig will sie ein konstruktives Verhältnis zur Führung in Peking. Diese hat bisher mit Zurückhaltung auf den Wahlsieg reagiert. Sie mahnt aber weiterhin zur Einhaltung der Ein-China-Doktrin. Das Fahrwasser in der Taiwan-Straße ist unsicher.
Die Kuomintang hat eindeutig die Macht im Staate verloren und befindet sich im freien Fall.
Die seit 1949 in Taiwan politisch bestimmende Kuomintang („Chinesische Volkspartei“, KMT) hat eindeutig die Macht im Staate verloren und befindet sich im freien Fall. Ob sie sich wieder fangen wird, ist ungewiss, sie ist letztlich aus der Zeit gefallen. Der Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Eric Chu erreichte nur 31 Prozent der Stimmen und trat als Vorsitzender zurück. Der einst strahlende Präsident Ma Ying-jeou ist nach acht Jahren Amtszeit überaus unbeliebt, er hat den Draht zu den Wählerinnen und Wählern und ihren Sorgen und Wünschen verloren. Die Partei wirkt wie ein politischer Dinosaurier. Die internationalen Verdienste der KMT, die Beziehungen zu China zu stabilisieren und damit auch die Krisenanfälligkeit der Taiwan-Straße zu reduzieren, wurde in Taiwan mit Skepsis aufgenommen, da die Vorteile für die eigene Wirtschaft weniger umfassend ausfielen als versprochen. Präsident Mas Kurs der Annäherung an die Volksrepublik und auch das Treffen mit Xi Jinping in Singapur im Novmeber 2015 hat zu Verunsicherung geführt. Das schlimme Wort vom Ausverkauf an das Festland machte die Runde. Die KMT wirkte wie die Vertreterin mächtiger Wirtschaftsinteressen, für die das Allgemeinwohl eher zweitrangig ist.
Bei dieser Wahl hat der Präsidentschaftskandidat der KMT nur in vier von achtzehn Städten/Kreisen die Mehrheit gewonnen. Bei der Wahl zum Parlament rutschte die mächtige und reiche Partei von 64 auf 35 Abgeordnete ab. Damit setzte sich der Trend der Regionalwahlen vom Herbst 2014 fort. Die KMT hat den Anschluss an die taiwanesische Gesellschaft verloren. Dies gilt insbesondere für die junge Generation, die in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen ist, die Gesellschaft politisch gestalten und sich nicht bevormunden lassen will. Aber auch die Stammwähler – das Militär, die Lehrinnen und Lehrer, die Beamten und die Wirtschaft – wollten offensichtlich nicht mehr geschlossen für die KMT stimmen und sehen die Zukunft Taiwans offensichtlich auch besser in den Händen aufgehoben, die das Eigene, nämlich Taiwan, betonen.
1 Leserbriefe
Das wäre auch ein Hoffnungszeichen für viele Gegenden der Welt, wo die Demokratie zurückgedrängt wird.
Die neue Regierung wird sich langfristig mit China arrangieren müssen, wenn sie Taiwan als eigenständigen Staat bewahren will. Dafür benötigt sie Kraft, Ideen, Geduld und Erfolg.