Die Zukunft der Ukraine entscheidet sich nicht auf der Krim. Deshalb wäre eine Strategie des Westens verfehlt, die Russland aufgrund der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion nicht an der Neugestaltung des post-revolutionären ukrainischen Staates beteiligt. Sie würde die Ukraine zum Opfer einer neuen Ost-West-Konfrontation machen. Gegenwärtig sind die westlichen Staaten und Russland jedoch in einer Blockadekonstellation, die vor allem den russischen und ukrainischen Nationalisten in Russland und der Ukraine in die Hände spielt. Prorussische Extremisten könnten die vorhersehbare Empörung über Preiserhöhungen und Entlassungen im Zuge ökonomischer Reformen und Krisenmaßnahmen ausnutzen, um die russischsprachige Bevölkerung im Osten der Ukraine für einen „Anschluss“ an Russland zu mobilisieren.
Westliche Sanktionen nötigen die russische Regierung allein schon deshalb zu Gegenaktionen, weil sie die ungemein popularitätssteigernden Effekte ihrer Machtdemonstration nicht durch Anzeichen von Schwäche aufs Spiel setzen will. Zudem liefern sie den Hardlinern im Kreml ein willkommenes Konfrontationsszenario. In diesem wird die Unterdrückung kritischer Stimmen als „Nationsverräter“ (Putin) und die Disziplinierung des aufstrebenden russischen Bürgertums gerechtfertigt.
In der aufgeheizten Atmosphäre von Sanktionen und Gegendrohungen erscheint ein Kompromiss über den Status der Krim derzeit unmöglich: Während Russland Fakten schafft und die Krim im Eiltempo eingliedert, beharren die westlichen Staaten und die ukrainische Regierung auf der territorialen Unantastbarkeit der Ukraine unter Einschluss der Krim. Dieser Gegensatz erscheint unüberbrückbar, weil er eine Entweder-Oder-Entscheidung verlangt. Letztlich beschwört er die Nullsummenlogik der Territorialkonflikte vergangener Jahrhunderte.
Ohne oder gegen Russland kann die Ukraine nicht in eine stabile rechtsstaatliche Demokratie und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verwandelt werden.
Diese unvereinbaren Positionen zum Status der Krim haben die Bildung einer Unterstützungsgruppe für die Ukraine scheitern lassen, mit der Russland auf die deutsche und europäische Initiative für eine internationale Kontaktgruppe reagierte. Der Status-Konflikt erschwert auch die laufenden internationalen Anstrengungen, Russland in eine international koordinierte politische und ökonomische Stabilisierung der Ukraine einzubeziehen. Und innerhalb der Ukraine riskieren Vertreter der Regierungskoalition, ins Visier der eigenen Nationalisten zu geraten, wenn sie sich auf einen Dialog mit Russland einlassen.
Ohne Russland geht es nicht
Dabei ist jedoch auch klar: Ohne oder gegen Russland kann die Ukraine nicht in eine stabile rechtsstaatliche Demokratie und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verwandelt werden. Russland ist nicht nur eine dominante militärische Kraft und der wichtigste Energielieferant der Ukraine, sondern nach der EU auch ihr zweitwichtigster Handelspartner. Vor allem für den beschäftigungsstarken Maschinen- und Fahrzeugbau im Osten der Ukraine hat der Handel mit Russland vitale Bedeutung. Ihrem Selbstverständnis als Großmacht entsprechend reklamiert Russlands politische Elite besondere nationale Interessen in der Ukraine und hat sich zur Anwältin der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine erklärt. Der EU fehlen die Mittel und der politische Wille, Russlands Rolle für die ukrainische Wirtschaft und Gesellschaft zu ersetzen. Zugleich fehlt ihr die Kraft, eine Destabilisierung der Ukraine durch eine ausgegrenzte russische Regierung zu verhindern.
Wenn man die europäischen Möglichkeiten realistisch einschätzt, wird man deshalb nicht umhin kommen, den russischen Vorschlag zu einer Beilegung der Krise aufzugreifen. Die darin enthaltenen Arbeitsprinzipien einer Unterstützungsgruppe lassen sich zu einem für beide Seiten und für die Ukraine akzeptablen Mandat weiterentwickeln. Der Vorschlag enthält jedoch die Forderung, das auf der Krim am 16. März abgehaltene Referendum anzuerkennen. Dies ist für die EU und Washington inakzeptabel. Die westliche Kritik richtet sich dabei allerdings nicht primär gegen die prinzipielle Möglichkeit eines Referendums, sondern gegen das offensichtlich illegale und illegitime Verfahren der Abstimmung. Das Referendum verletzte eindeutig das Völkerrecht und entbehrt jeder Legitimität. Die übereilte Terminfestlegung, die massive Militärpräsenz sowie die Beschränkung öffentlicher Debatten und der Meinungsfreiheit stellen offensichtliche Verfahrensmängel dar, zu denen der russische Präsident und die lokalen Machthaber bisher nur Ausflüchte präsentiert haben.
Wenn man der russischen Regierung ein grundsätzliches Interesse an einem legitimen und rechtmäßigen Verfahren unterstellt, dann bietet sich hier jedoch ein Anknüpfungspunkt für eine Überbrückung des Konflikts: Die Konfliktparteien sollten sich darauf einigen, die Entscheidung über den endgültigen Status der Krim auf ein zweites Referendum zu verschieben. Dies sollte nach einer Übergangsphase unter internationaler Aufsicht und nach internationalen Verfahrensstandards abgehalten werden. Für die Übergangsphase erhielte die Krim den Status eines Subjektes der Russischen Föderation – wie im Beitrittsvertrag zwischen Russland und der Republik Krim vorgesehen.
Das Saarstatut als Vorbild
Obwohl derzeit unklar erscheinen mag, inwiefern ein solcher Kompromiss realistisch ist, gäbe es hierfür ein historisches Beispiel. Im Saarstatut von 1954 vereinbarten Deutschland und Frankreich auf dem Hintergrund der Volksabstimmung von 1935 eine erneute Volksabstimmung über die Zukunft des Saarlandes. Im Unterschied zur bereits 1955 abgehaltenen zweiten Volksabstimmung im Saarland sollte das zweite Krim-Referendum so terminiert werden, dass es keinen unmittelbaren Handlungsdruck erzeugt. Zugleich jedoch sollte es in nicht allzu ferner Zukunft liegen. Denkbar wäre etwa ein Zeitraum von sechs Jahren. Dabei ist auch darauf zu verweisen, dass sich international beaufsichtigte und zeitlich gestreckte Unabhängigkeitsprozesse in den Fällen Kosovo und Montenegro durchaus bewährt haben.
Eine Wiederholung des Referendums würde allen Seiten ermöglichen, die Probleme der Ukraine anzugehen, ohne ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Rechtmäßigkeit des ersten Referendums aufgeben zu müssen.
Eine einvernehmliche Wiederholung des Referendums würde allen Seiten ermöglichen, die Probleme der Ukraine gemeinsam anzugehen, ohne ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Rechtmäßigkeit des ersten Referendums aufgeben zu müssen. Während Russland die Annexion der Krim damit unter den Vorbehalt einer erneuten Zustimmung in einem international anerkannten Verfahren stellen müsste, würden die Ukraine und der Westen die russische Annexion für diese Übergangsphase akzeptieren und den Krim-Bewohnern ein Selbstbestimmungsrecht einräumen.
Zusätzlich sollten Russland, die westlichen Staaten und die Ukraine vereinbaren, dass sich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch die Krim-Bewohner aus dem historischen Sonderstatus der Krim begründet. Somit würde ein Präzedenzfall mit Auswirkungen auf Gebietskörperschaften anderer ukrainischer Regionen verhindert. Die russische Regierung hat diese Besonderheit der Krim bereits mehrfach festgestellt und dürfte im Hinblick auf Russlands eigene separatistische Regionen an einer solchen Vereinbarung interessiert sein. Moskaus Vorschlag enthält bereits das Angebot, die territoriale Integrität der Ukraine in einer UN-Sicherheitsratsresolution zu garantieren. Mit einer derartigen Bestandsgarantie würde Moskau pan-russischen Kräften im Osten der Ukraine eine klare Absage erteilen. Im Austausch würde der Westen russische Interessen in der Ukraine und Moskaus Bedürfnis, als Großmacht ernst genommen zu werden, anerkennen.
Zugleich würde ein solcher Kompromiss die Anreize ukrainischer politischer Akteure zu ethnopolitisch motivierter Obstruktion verringern. Außerdem würde er den Weg zu Verfassungsreformen ebnen, die über eine Dezentralisierung, rechtsstaatliche Kontrollen und einen effektiveren Minderheitenschutz einer Ethnisierung von Konflikten vorbeugen könnten. Diese Perspektive könnte die russischsprachigen Krim-Bewohner umstimmen. Sie könnte aber auch dazu beitragen, dass territoriale Zugehörigkeit in der multiplen Identität einer perspektivischen Euroregion nach und nach an Relevanz verliert.
4 Leserbriefe
Danke und Gruss
Th.Krassmann
Sollen denn alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates so handeln oder ist das nur Russland vorbehalten?
Das ist wirklich seltsam und gleichzeitig erschreckend, dass ein Politikwissenschaftler mit solchen Ideen auftritt. Als ob man nicht eine Lehre aus dem ersten und zweiten Weltkrieg gezogen hat. Jedes Land hat irgendwelche „besonderen nationalen Interessen“. Die Frage ist, ob ein Land diese auf „russische“ Art und Weise durchsetzen darf.
„Ohne oder gegen Russland kann die Ukraine nicht in eine stabile rechtsstaatliche Demokratie und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verwandelt werden.“ Gegen Russland nicht, das stimmt. Aber bei allem Respekt zu dieser Meinung eines Russlandsverstehers, wie soll ein Land, dass nicht mal ansatzweise diese stabile rechtsstaatliche Demokratie und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft kennt, dabei behilflich sein? Eine „lupenreine Demokratie“ mehr im Fall der Ukraine braucht die Welt wahrlich nicht. Eine Wiederholung des Referendums hin oder her….