Wir sind Zeugen einer historischen Machtverschiebung vom Westen nach Asien. Die Folgen davon sind in der globalen Politik immer stärker zu spüren. Der Tag, an dem China die Vereinigten Staaten als die größte Volkswirtschaft der Welt ablöst, naht, und der Westen verliert langsam die Fähigkeit, die globale Agenda zu bestimmen. An diese westliche Dominanz haben wir uns so sehr gewöhnt, dass sie vielen ganz selbstverständlich erscheint. Das macht es schwer, sich vorzustellen, wie wir ohne sie auskommen können.

Doch historisch gesehen leben wir in einem höchst ungewöhnlichen Zeitfenster. Für rund zwei Jahrhunderte ermöglichte eine extreme Konzentration der Wirtschaftsmacht dem Westen, mit nur einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung globale Angelegenheiten zu beeinflussen und zu kontrollieren. Für die meisten Beobachter im Westen spielten nicht-westliche Akteure nur selten eine konstruktive Rolle bei der Bewältigung globaler Herausforderungen.

Daher wird die Zukunft der Weltordnung – nicht mehr unter westlicher Kontrolle – allgemein als chaotisch und gefährlich angesehen. Die führenden Theoretiker im Bereich Internationale Beziehungen von Harvard bis Oxford gehen davon aus, dass sich der relative Rückgang des westlichen Einflusses auf das internationale System negativ auswirken wird.

Doch unser Verständnis der Entstehung der Weltordnung, ihrer gegenwärtigen Form und Voraussagen über die Zukunft ist begrenzt, weil wir versuchen, uns eine „postwestliche Welt“ aus einer rein westlichen Perspektive vorzustellen. Wie Graham Allison, Professor der Harvard University und hochrangiger Berater mehrerer US-Präsidenten kürzlich schrieb, sei der Westen über die letzten tausend Jahre das „politische Zentrum der Welt“ gewesen. Solche Ansichten sind nicht nur historisch falsch, sondern unterschätzen grob die Beiträge nicht-westlicher Denker und Kulturen, die entscheidend zur wirtschaftlichen und intellektuellen Entwicklung des Westens beigetragen haben.

Wir unterschätzen nicht nur die Rolle, die nicht-westliche Akteure in der Vergangenheit gespielt haben, sondern auch ihr Potenzial, in Zukunft eine konstruktive Rolle zu spielen.

Unsere westliche Weltanschauung führt dazu, dass wir nicht nur die Rolle, die nicht-westliche Akteure in der Vergangenheit gespielt haben, unterschätzen (China etwa war bis ins 19. Jahrhundert hinein die größte Wirtschaftsmacht), sondern auch ihr Potenzial, in Zukunft eine konstruktive Rolle zu spielen. China übernimmt bereits mehr internationale Verantwortung als wir glauben: China hat allein derzeit mehr Blauhelme in aller Welt stationiert als die vier anderen ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder zusammen. Nur wenige Tage nach dem Wahlsieg von Donald Trump im November rief die chinesische Regierung den zukünftigen amerikanischen Präsidenten dazu auf, das Pariser Klimaabkommen zu achten. Es ist zu erwarten, dass Peking in den nächsten Jahren eine führende Rolle im Kampf gegen den Klimawandel übernehmen wird. Am selben Tag reiste Chinas Präsident Xi Jinping zum Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) in Lima, wo er verunsicherten Diplomaten aus Lateinamerika zusagte, sich auch weiterhin für Freihandel und Globalisierung einzusetzen. All dies zeigt, wie schnell andere Staaten auf ein globales Machtvakuum reagieren können. Es gibt keinen zwingenden Grund, dass die postwestliche Ordnung chaotischer oder instabiler sein wird als der Status quo. 

Anstatt die bestehenden internationalen Institutionen direkt zu konfrontieren, legen aufsteigende Mächte bereits das Fundament einer „parallelen Ordnung“, die die heutigen westlich geprägten Strukturen ergänzen wird. Wesentliche Elemente sind die von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (BRICS) geschaffene Neue Entwicklungsbank (NDB) und die Asiatische Bank für Infrastrukturinvestitionen (AIIB) (zur Ergänzung der Weltbank), die Universal Credit Rating Group (zur Ergänzung der Rating-Agenturen Moody‘s, Fitch und Standard & Poor‘s), die China Union Pay (zur Ergänzung von Mastercard und Visa), CIPS (ergänzend zu SWIFT) und natürlich die BRICS-Gruppe selbst (zur Ergänzung der G7). Sie sind heute noch vielen unbekannt, jedoch werden mehrere dieser Institutionen bei der Gestaltung der postwestlichen Ordnung eine wichtige Rolle spielen.

Die neuen globalen Strukturen dienen dazu, die Macht der BRICS-Staaten besser zu projizieren, genau wie der Westen es vor ihnen getan hat.

Diese Strukturen entstehen nicht, weil China und andere aufsteigende Mächte grundlegend neue Ideen haben, wie wir globale Herausforderungen bewältigen können oder weil sie versuchen, globale Regeln und Normen zu verändern. Vielmehr dienen sie dazu, ihre Macht besser zu projizieren, genau wie der Westen es vor ihnen getan hat. Sie entstanden auch aufgrund der begrenzten sozialen Mobilität der heutigen Ordnung und aufgrund der Unfähigkeit der bestehenden Institutionen, die aufsteigenden Mächte angemessen zu integrieren. Noch heute liegt die Leitung des Internationalen Währungsfonds in europäischen Händen (aktuell die Französin Christine Lagarde) und der Präsident der Weltbank, Jim Yong Kim, ist ein US-Bürger. Dies mag aus Sicht französischer oder amerikanischer Entscheidungsträger ein unwichtiges Detail sein, aber aus indischer oder brasilianischer Sicht steht die Stellenbesetzung für das Desinteresse des Westens, die heutigen Strukturen zu demokratisieren.

Die westliche Hegemonie ist so tief verwurzelt und allgegenwärtig, dass wir sie als selbstverständlich ansehen und unsere Fähigkeit mindert, die Konsequenzen ihres Niedergangs objektiv zu bewerten. Doch während der Übergang zur Multipolarität – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch – für viele verwirrend sein wird, kann er zu einem weitaus ausgeglicheneren System führen als bisher, und dabei helfen, einen Dialog darüber aufzubauen, wie die globalen Herausforderungen in den kommenden Jahrzehnten angegangen werden können. So war es ein wichtiger und richtiger Schritt, dass Deutschland und mehrere andere europäische Staaten dem Gründerkreis der AIIB beitraten. Die amerikanische Regierung hatte bis zuletzt noch versucht, Regierungen in Berlin, Paris und London davon abzuhalten. Verhandlungen in diesem System, bestehend aus alten und neuen Institutionen, werden ohne Zweifel komplexer sein als jemals zuvor. Aber der Westen darf nicht in einen Pessimismus verfallen, sondern sollte sich der Herausforderung der Gestaltung der postwestlichen Ordnung stellen, statt sich allein auf Rückzugsgefechte zu konzentrieren.