In diesem Jahr gedenken wir zum hundertsten Mal der Verfolgung und Vernichtung der Armenier, Aramäer, Assyrer und Pontosgriechen durch die jungtürkische Regierung im Osmanischen Reich. An jenem Tag, den 24. April 1915, begann im Zuge des Ersten Weltkriegs die tragische Auslöschung armenischer Politiker und Intellektueller in Istanbul. Anschließend ließ das jungtürkische Regime hunderttausende osmanische Christen – Frauen, Kinder, Männer und Greise – in systematisch geplanter Weise ermorden. In die Wüste Anatoliens getrieben, starben die wehrlosen Menschen auf Todesmärschen an Unterernährung, körperlicher Erschöpfung, brutalen Misshandlungen und bei Hinrichtungen. Schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier und bis zu 250.000 assyrisch-aramäische Christen fielen dieser geplanten physischen Vernichtung zum Opfer.

Um einer Deportation und schließlich Tötung zu entkommen, mussten hunderttausende Christen zwangsweise zum Islam konvertieren. Bereits im Juni 1915 erklärte der osmanische Innenminister Mehmet Talaat, seine Regierung wolle den Ersten Weltkrieg dazu nutzen, mit dem „inneren Feind“ abzurechnen, also mit den osmanischen Christen, denen die Jungtürken eine Kooperation mit dem Kriegsgegner Russland vorwarfen. Der Vollzug solle, so Talaat, durch keine internationalen Interventionen gestört werden. Und so geschah es: Das im Osmanischen Reich stationierte Militär des Deutschen Reichs wurde Augenzeuge dieser tragischen Vernichtung, ohne dagegen in irgendeiner Weise zu intervenieren. Historische Dokumente belegen zweifelsfrei, dass die grauenvollen Ereignisse auch der Führung des Deutschen Reichs von Anfang an bekannt waren. Doch um den wichtigsten militärischen Kriegspartner im Ersten Weltkrieg nicht zu verstimmen, nahm die deutsche Regierung den Völkermord durch die Jungtürken widerstandslos hin. Diese Mitschuld des Deutschen Reiches begründet unsere heutige Verantwortung.

 

In der Wissenschaft unbestritten: Der Völkermord

Es ist in der Geschichtswissenschaft unbestritten, dass im Osmanischen Reich von 1915 bis 1917 ein Völkermord verübt wurde, mit dem Ziel, ganze ethnische Gruppen auszulöschen. Aus diesem Grund wird die Vernichtung der Armenier im Sinne der UN-Konvention von 1948 als Genozid, als Völkermord, bezeichnet. Dennoch wird dieses Thema in der aktuellen Politik immer noch kontrovers diskutiert. Während Regierungen und Parlamente in Frankreich, Belgien Italien und Kanada oder auch das Europäische Parlament das Verbrechen als Genozid bezeichnet haben, wird dieser Völkermord weder von der türkischen noch von der Bundesregierung anerkannt. Die Türkei betreibt seit Jahrzehnten eine Politik des Schweigens und Negierens, mit der Begründung, im Ersten Weltkrieg habe es auf allen Seiten Opfer gegeben. Nachfahren der getöteten Armenier stehen diesem Umgang mit ihrer tragischen Geschichte mit Fassungslosigkeit, Schmerz und Empörung gegenüber.

Die türkische Bevölkerung trägt ebenso wenig wie die aktuelle türkische Regierung Schuld an den Taten ihrer Vorfahren. Sie stehen jedoch in der Verantwortung, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Wie gefährlich das Verdrängen und Bagatellisieren eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit sein kann, wissen wir Deutschen nur zu gut. Wo Verbrechen verschwiegen oder gar geleugnet werden, bleiben sie ungesühnt und unverarbeitet. So kann auch ein Nährboden für weitere schreckliche Gräueltaten entstehen. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, fragte Hitler im August 1939 in einer Geheimrede an die anwesenden Oberkommandierenden und hohen Offiziere, als er sie auf den Angriff auf Polen und die geplante Auslöschung der polnischen Bevölkerung, in erster Linie der Intelligenz, der politischen Elite und der Juden, einstimmen wollte. Kurz danach löste das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg aus.

                                              

Gegen das Vergessen

Vergessen und Verdrängen ist der Intention der damaligen Täter, eine bestimmte Gruppe ganz auszulöschen, bis in die Gegenwart hinein zuträglich. Damit Verbrechen wie der Völkermord an den Armeniern aber tatsächlich ins kollektive Bewusstsein gelangen, müssen wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen geleistet und fortgeführt wird. Papst Franziskus hat, wie viele wichtige Zeitgenossen vor ihm, jüngst einen Schritt in diese Richtung getan. Zu begrüßen sind auch die zahlreichen objektiven historischen Aufarbeitungen des Völkermords an den Armeniern sowie die weltweiten Initiativen, wissenschaftliche Konferenzen, Gedenkkonzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen, die sich diesem tragischen Thema widmen und den Opfern ein Denkmal setzen. Besonders wichtig ist, dass es auch in der Türkei immer mehr Wissenschaftler, Intellektuelle, Kulturschaffende und Vertreter der Zivilgesellschaft gibt, die sich verantwortungsvoll und kritisch mit der Geschichte beschäftigen und den Völkermord an den Armeniern beim Namen nennen – teilweise immer noch unter dem Risiko, bestraft zu werden. Diesen mutigen Menschen müssen wir den Rücken stärken.

 

Die historische Verantwortung Deutschlands

Der 100. Jahrestag des Völkermordes muss für die politisch Verantwortlichen in Deutschland einmal mehr Anlass sein, auf die historische Verantwortung Deutschlands hinzuweisen und die Erinnerung an die Opfer aufrecht zu erhalten. In Gegenwart und Zukunft müssen wir die Aussöhnung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien unterstützen. Wenn wir den Völkermord als solchen benennen, können wir im gleichen Atemzug klarstellen: Die türkische Bevölkerung trägt ebenso wenig wie die aktuelle türkische Regierung Schuld an den Taten ihrer Vorfahren. Sie stehen jedoch in der Verantwortung, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in Gegenwart und Zukunft die Chance zur Versöhnung entstehen zu lassen. Zu einer ehrlichen Aufarbeitung gehört es aber auch, den Völkermord anzuerkennen. In der Bundesregierung sind die Bedenken, den wichtigen Verbündeten Türkei zu brüskieren, offenbar groß. Doch ist die historische Wahrheit nicht einen Disput mit einem Verbündeten wert? Wenn alle NATO-Partner der Türkei erklären würden, dass von einem Mitglied in einem westlichen Bündnis, das sich westlichen demokratischen und zivilgesellschaftlichen Werten verpflichtet fühlt, erwartet wird, zur eigenen Geschichte zu stehen, würde der Diskurs in der Türkei vermutlich anders verlaufen.

In der Türkei wie auch in Armenien haben unvoreingenommene Forscher den Willen, die gemeinsame Geschichte objektiv und wertneutral aufzuarbeiten. Der offene historische, politische und zivilgesellschaftliche Dialog kann dazu führen, dass sich beide Länder nicht nur dem Tabu-Thema annähern, sondern auch die gemeinsame Geschichte vor 1915, das friedliche Zusammenleben beider Völker im Osmanischen Reich in ihre Geschichts- und Schulbücher aufnehmen. Denn künftige Generationen sollten nicht mit Vorurteilen, Feinbildern und Ängsten gegenüber dem jeweils anderen aufwachsen. Nur so kann es schließlich auch gelingen, sich konstruktiv mit den aktuellen Problemen in den bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien zu befassen.

Die Erinnerungskultur und geschichtliche Aufarbeitung jedes Landes braucht Zeit, um zu wachsen. Doch in Deutschland sollten wir so weit sein: Nach 100 Jahren ist es angemessen, die Vernichtung der Armenier als Genozid zu bezeichnen und sich für die unterlassene Hilfeleistung gegenüber den Armeniern im Ersten Weltkrieg bei deren Nachkommen zu entschuldigen. Dies ist Deutschland den armenischen Opfern und der eigenen Aufrichtigkeit schuldig.