In diesem Jahr gedenken wir zum hundertsten Mal der Verfolgung und Vernichtung der Armenier, Aramäer, Assyrer und Pontosgriechen durch die jungtürkische Regierung im Osmanischen Reich. An jenem Tag, den 24. April 1915, begann im Zuge des Ersten Weltkriegs die tragische Auslöschung armenischer Politiker und Intellektueller in Istanbul. Anschließend ließ das jungtürkische Regime hunderttausende osmanische Christen – Frauen, Kinder, Männer und Greise – in systematisch geplanter Weise ermorden. In die Wüste Anatoliens getrieben, starben die wehrlosen Menschen auf Todesmärschen an Unterernährung, körperlicher Erschöpfung, brutalen Misshandlungen und bei Hinrichtungen. Schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier und bis zu 250.000 assyrisch-aramäische Christen fielen dieser geplanten physischen Vernichtung zum Opfer.
Um einer Deportation und schließlich Tötung zu entkommen, mussten hunderttausende Christen zwangsweise zum Islam konvertieren. Bereits im Juni 1915 erklärte der osmanische Innenminister Mehmet Talaat, seine Regierung wolle den Ersten Weltkrieg dazu nutzen, mit dem „inneren Feind“ abzurechnen, also mit den osmanischen Christen, denen die Jungtürken eine Kooperation mit dem Kriegsgegner Russland vorwarfen. Der Vollzug solle, so Talaat, durch keine internationalen Interventionen gestört werden. Und so geschah es: Das im Osmanischen Reich stationierte Militär des Deutschen Reichs wurde Augenzeuge dieser tragischen Vernichtung, ohne dagegen in irgendeiner Weise zu intervenieren. Historische Dokumente belegen zweifelsfrei, dass die grauenvollen Ereignisse auch der Führung des Deutschen Reichs von Anfang an bekannt waren. Doch um den wichtigsten militärischen Kriegspartner im Ersten Weltkrieg nicht zu verstimmen, nahm die deutsche Regierung den Völkermord durch die Jungtürken widerstandslos hin. Diese Mitschuld des Deutschen Reiches begründet unsere heutige Verantwortung.
In der Wissenschaft unbestritten: Der Völkermord
Es ist in der Geschichtswissenschaft unbestritten, dass im Osmanischen Reich von 1915 bis 1917 ein Völkermord verübt wurde, mit dem Ziel, ganze ethnische Gruppen auszulöschen. Aus diesem Grund wird die Vernichtung der Armenier im Sinne der UN-Konvention von 1948 als Genozid, als Völkermord, bezeichnet. Dennoch wird dieses Thema in der aktuellen Politik immer noch kontrovers diskutiert. Während Regierungen und Parlamente in Frankreich, Belgien Italien und Kanada oder auch das Europäische Parlament das Verbrechen als Genozid bezeichnet haben, wird dieser Völkermord weder von der türkischen noch von der Bundesregierung anerkannt. Die Türkei betreibt seit Jahrzehnten eine Politik des Schweigens und Negierens, mit der Begründung, im Ersten Weltkrieg habe es auf allen Seiten Opfer gegeben. Nachfahren der getöteten Armenier stehen diesem Umgang mit ihrer tragischen Geschichte mit Fassungslosigkeit, Schmerz und Empörung gegenüber.
Die türkische Bevölkerung trägt ebenso wenig wie die aktuelle türkische Regierung Schuld an den Taten ihrer Vorfahren. Sie stehen jedoch in der Verantwortung, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Wie gefährlich das Verdrängen und Bagatellisieren eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit sein kann, wissen wir Deutschen nur zu gut. Wo Verbrechen verschwiegen oder gar geleugnet werden, bleiben sie ungesühnt und unverarbeitet. So kann auch ein Nährboden für weitere schreckliche Gräueltaten entstehen. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, fragte Hitler im August 1939 in einer Geheimrede an die anwesenden Oberkommandierenden und hohen Offiziere, als er sie auf den Angriff auf Polen und die geplante Auslöschung der polnischen Bevölkerung, in erster Linie der Intelligenz, der politischen Elite und der Juden, einstimmen wollte. Kurz danach löste das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg aus.
Gegen das Vergessen
Vergessen und Verdrängen ist der Intention der damaligen Täter, eine bestimmte Gruppe ganz auszulöschen, bis in die Gegenwart hinein zuträglich. Damit Verbrechen wie der Völkermord an den Armeniern aber tatsächlich ins kollektive Bewusstsein gelangen, müssen wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen geleistet und fortgeführt wird. Papst Franziskus hat, wie viele wichtige Zeitgenossen vor ihm, jüngst einen Schritt in diese Richtung getan. Zu begrüßen sind auch die zahlreichen objektiven historischen Aufarbeitungen des Völkermords an den Armeniern sowie die weltweiten Initiativen, wissenschaftliche Konferenzen, Gedenkkonzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen, die sich diesem tragischen Thema widmen und den Opfern ein Denkmal setzen. Besonders wichtig ist, dass es auch in der Türkei immer mehr Wissenschaftler, Intellektuelle, Kulturschaffende und Vertreter der Zivilgesellschaft gibt, die sich verantwortungsvoll und kritisch mit der Geschichte beschäftigen und den Völkermord an den Armeniern beim Namen nennen – teilweise immer noch unter dem Risiko, bestraft zu werden. Diesen mutigen Menschen müssen wir den Rücken stärken.
Die historische Verantwortung Deutschlands
Der 100. Jahrestag des Völkermordes muss für die politisch Verantwortlichen in Deutschland einmal mehr Anlass sein, auf die historische Verantwortung Deutschlands hinzuweisen und die Erinnerung an die Opfer aufrecht zu erhalten. In Gegenwart und Zukunft müssen wir die Aussöhnung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien unterstützen. Wenn wir den Völkermord als solchen benennen, können wir im gleichen Atemzug klarstellen: Die türkische Bevölkerung trägt ebenso wenig wie die aktuelle türkische Regierung Schuld an den Taten ihrer Vorfahren. Sie stehen jedoch in der Verantwortung, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in Gegenwart und Zukunft die Chance zur Versöhnung entstehen zu lassen. Zu einer ehrlichen Aufarbeitung gehört es aber auch, den Völkermord anzuerkennen. In der Bundesregierung sind die Bedenken, den wichtigen Verbündeten Türkei zu brüskieren, offenbar groß. Doch ist die historische Wahrheit nicht einen Disput mit einem Verbündeten wert? Wenn alle NATO-Partner der Türkei erklären würden, dass von einem Mitglied in einem westlichen Bündnis, das sich westlichen demokratischen und zivilgesellschaftlichen Werten verpflichtet fühlt, erwartet wird, zur eigenen Geschichte zu stehen, würde der Diskurs in der Türkei vermutlich anders verlaufen.
In der Türkei wie auch in Armenien haben unvoreingenommene Forscher den Willen, die gemeinsame Geschichte objektiv und wertneutral aufzuarbeiten. Der offene historische, politische und zivilgesellschaftliche Dialog kann dazu führen, dass sich beide Länder nicht nur dem Tabu-Thema annähern, sondern auch die gemeinsame Geschichte vor 1915, das friedliche Zusammenleben beider Völker im Osmanischen Reich in ihre Geschichts- und Schulbücher aufnehmen. Denn künftige Generationen sollten nicht mit Vorurteilen, Feinbildern und Ängsten gegenüber dem jeweils anderen aufwachsen. Nur so kann es schließlich auch gelingen, sich konstruktiv mit den aktuellen Problemen in den bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien zu befassen.
Die Erinnerungskultur und geschichtliche Aufarbeitung jedes Landes braucht Zeit, um zu wachsen. Doch in Deutschland sollten wir so weit sein: Nach 100 Jahren ist es angemessen, die Vernichtung der Armenier als Genozid zu bezeichnen und sich für die unterlassene Hilfeleistung gegenüber den Armeniern im Ersten Weltkrieg bei deren Nachkommen zu entschuldigen. Dies ist Deutschland den armenischen Opfern und der eigenen Aufrichtigkeit schuldig.
17 Leserbriefe
Auch die Serben müssen den Genozid gegen die Kosovo-Albaner anerkennen. So aknn es auch zur Normalisierung ihrer Beziehungen kommen! Ich meine erst nach den Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrendenkmal in Warschau kam es zur Normaliesierung der Beziehungen zwischen DE und PL.
Willy Brandt's Demutsgeste sollte ein Beispiel sein für die türkischen Staatsoberhäupte und insbesondere für die serbischen, die immer noch den Genozid und Gräueltaten auf die Albaner verleugnen. Ich glaube aber, dass Erdogan oder in Serbien Nikolic und Vucic, nicht "edel" sind um das Beispiel von Willy Brandt nachzugehen. Die heutigen serbischen Politiker, die auf den höchsten Staatspositionen Serbiens sitzten waren die engsten Verbündeten und Mitarbeiter Milosevic's! Aber hoffen wir mal, dass es irgendwann solche Nachfolger geben wird, wie Willy Brandt!
Dies ist der SPD nicht würdig.
Wenn ich hier an die Haltung der Abgeordneten im Reichstag erinnere die sich mutig 1933 gegen das Entmachtungsgesetz gestellt haben und in Teilen mit Ihrem Leben bezahlt haben.
Wenn alles denn so "unbestritten" feststeht und sich die "meisten" Historiker denn einig sind, wieso weigert sich Armenien an einer internationalen Historikerkommission teilzunehmen? Die Türkei hat gesagt das sie das Arbeitsergebnis dieser Kommission akzeptieren wird. Ist das nicht DIE Chance?
Papst Franziskus bezeichnete den Genozid der Türkei an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs als "ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts" und erhielt dafür viel Zustimmung, auch von deutschen Politikern, die nun die Türkei dazu auffordern, ihre historische Verantwortung wahrzunehmen (wie auch die Autoren dieses Beitrags).
Historisch gesehen ist die Aussage des Papstes schlicht falsch: Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts wurde 1904-1905 verübt von Truppen des Deutschen Reichs an den Völkern der Herero und Nama (in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia). Um den Herero-Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft niederzuschlagen, erließ Generalleutnant von Trotha seinen berüchtigten "Vernichtungsbefehl". Schätzungsweise 65.000 bis 85.000 Herero und 10.000 Nama ließen in der Folge dieser grausamen und menschenverachtenden Politik ihr Leben. Auch wenn die absoluten Opferzahlen viel kleiner sind als im Fall des Genozids an den Armeniern, so kommt dies doch einer weitgehenden Auslöschung dieser Völker gleich: nur 15.000 Herero überlebten.
Die Position der Bundesrepublik besteht darin, diese Vorgänge nicht offiziell zu kommentieren und den Begriff des Völkermords dafür abzulehnen! Übrigens unabhängig davon, welche Partei den Außenminister stellt: die SPD, die FDP oder die Grünen. Es wäre wünschenswert und allerhöchste Zeit, diese heuchlerische Doppelmoral zu beenden. Die Türkei muss ihre historische Verantwortung gegenüber den Armeniern anerkennen, aber genauso muss es die BRD gegenüber den Hereros tun. Und der Begriff des Völkermordes muss auch für den Genozid an Völkern gelten, die nicht mosaischen Glaubens sind.
wer sich mit den Fragen von Genozid unvoreingenommen beschäftigt, kommt an den Ereignissen von 1992 in Aserbaidschan nicht vorbei. Dort vor Augen der Weltgemeinschaft auch vor Augen von Dietmar Nietan und Josip Juratovic wurde ein Völkermord durch Armenier an Aserbeidschanern begangen. Warum sind wir auf einmal blind und taub?
Schaut mal rein und schreibt Eure Meinung bzw. Kommentare!
http://www.uni-potsdam.de/u/makrooekonomie/docs/aserbaidschan/31_maerz_11_06.pdf
es ist sehr lobenswert, dass die SPD nach 100 Jahren Schweigens sich endlich offensiv und ehrlich mit dem Thema des Völkermordes an den anatolischen Armeniern beschäftigen will. Nur gehört dazu auch die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Partei. Im Zweiten Weltkrieg sassen Sozialdemokraten im Exil oder im KZ, viele kämpften wie Willy Brandt sogar in allierter Uniform gegen die Nazis. Im Ersten Weltkrieg wurde die offizielle deutsche Politik im Rahmen der "Burgfriedenspolitik" ausdrücklich unterstützt. Die SPD hatte bei den Reichstagswahlen 1912 über 30 % der Stimmen errungen und stellte mit Abstand die grösste Reichstagsfraktion. Über die schrecklichen Gräueltaten der türkischen Verbündeten waren die SPD-Abgeordneten genau wie die Kollegen anderer Fraktionen informiert. Trotzdem wurde nur der "Spinner" und Linksaussen Karl Liebknecht aktiv, ebenso wie der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger.
Bevor SPD-Politiker andere an den Pranger stellen, egal ob türkische Politiker oder deutsche Militärs, sollten sie sich erst einmal mit der Rolle der eigenen Genossen beschäftigen. War es wirklich nur die "Burgfriedenspolitik"? Oder hat die SPD schlicht und einfach übersehen, dass sich die Jungtürken, deren Revolution 1908 noch begeistert von deutschen und europäischen Sozialdemokraten gefeiert worden war, durch den Militärputsch 1913 von einer zum Teil linken sozialrevolutionären Bewegung gegen Islamismus, für einen säkularen Staat und für Frauenrechte , und für die Rechte ethnischer und nationaler Minderheiten im multi-ethnischen osmanischen Reich, zu einer rechtsextremen, völkisch nationalistischen Bewegung analog zum zur selben Zeit in anderen Mittelmeerländern entstehenden Faschismus entwickelt hatte?
Ein Genozid ist ein Genozid ist ein Genozid: Was haben die Autoren gemeint?
Politische Beschlüsse und polit-historische Debate zum Thema Massenmord führen zwangsläufig zum Negationismus.
Diese Begriffe: Ludobojstwo (polnisch), tseghasbanutium (armenisch), prolai puch sah (khemerisch), holomodor (ukrainisch), shoah (hebräisch) benötigen keine Dekrete, keine UNO-Resolution, keine Resolution eines Parlaments. Sie drücken eine psychohistorisches Momentum der Geschichte polnischer, armenischer, khemerischer, ukrainischer und judischer Völker aus. Keine Nation der Welt, kein Staat der Welt kann diesen Völkern ihre Sparchen verbieten, die Themen ihren Schulbücher bestimmen.
"Die Erinnerungskultur und geschichtliche Aufarbeitung jedes Landes braucht Zeit, um zu wachsen. Doch in Deutschland sollten wir so weit sein...", schreiben die Autoren, ist Deutschland bzw. das deutsche Volk nach 25 Jahren Wiedervereinigung so weit mit Shoah, mit Massenmord in Kamerun (die Dualas), in Namibia (Hereros und Namas: http://diaspora.northwestern.edu/mbin/WebObjects/DiasporaX.woa/wa/displayArticle?atomid=619) und Tanganyika (Maji-Maji)?
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https://en.wikisource.org/wiki/Page:Ambassador_Morgenthau's_Story.djvu/438
Such was the German state philosophy as applied to the Armenians, and I had the opportunity of observing German practice as well. As soon as the early reports reached Constantinople, it occurred to me that the most feasible way of stopping the outrages would be for the diplomatic representatives of all countries to make a joint appeal to the Ottoman Government. I approached Wangenheim on this subject in the latter part of March. His antipathy to the Armenians became immediately apparent. He began denouncing them in unmeasured terms; like Talaat and Enver, he affected to regard the Van episode as an unprovoked rebellion, and, in his eyes, as in theirs, the Armenians were simply traitorous vermin.
"I will help the Zionists," he said, thinking that this remark would be personally pleasing to me, "but I shall do nothing whatever for the Armenians."
Auffällig ist, dass diese Stellungnahmen sämtlich sich an der offiziellen Armenischen Lesart der historischen Ereignisse von 1915 orientieren und die Türkischen Argumente bzgl. der Ursachen zur Deportation der Armenier in Konjunktiv und gleichermaßen ins Lächerliche ziehend widergeben. Einen besonderen Höhepunkt dieser Kampagne konnte man in der F.A.Z. Nr. 86, S. 3 vom 14. April 2015 von Michael Martens lesen: „Eines Tages legte Wilhelm Tell seinem Sohn einen Apfel auf den Kopf, und schon gab es die Schweiz“ – steht aber tatsächlich so in einem türkischen Schulbuch. Das „Armenier-Problem“ war da, und dann ist es an einem Dezembertag im Jahr 1920 „verschwunden“.
Aufgrund dieser einseitigen Darstellung in den Medien entwickelte sich in den vergangenen Wochen zwischen einem interessierten emeritierten Professors und Kollegen an meiner Hochschule und mir als türkisch-stämmiger deutscher Professor ein interessanter E-Mail Austausch, der für diese Thematik symptomatisch zu sein scheint. Je mehr diese Menschen auch „die andere Sichtweise“ erfahren, desto nachdenklicher werden sie.
Ist ein Genozid wirklich ein Genozid oder vielleicht doch kein Genozid? Man sollte sich die Fakten von beiden Seiten genau anschauen. Dies möchte ich mit dem Kommentar in Form meines Dialogs mit einem Deutschen Emeritus (anonymisiert) der letzten paar Tage im Folgenden darstellen.
Dialog mit einem Deutschen Emeritus
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: „Emeritus“
Gesendet: Sonntag, 19. April 2015 11:54
An: Bahadir Ali Müfit Prof. Dr.
Betreff: Seite aus F.A.Z. / F.A.S. Noch mal: Armenien
Lieber Müfit,
Anbei ein Interview mit einem Stanford Geschichts Prof. über die Armenien Frage. Ganz interessant.
Ich verstehe auch nicht, warum die türkische Regierung nicht mit diesem Kapitel abschließt und es dadurch von der weltweiten Agenda nimmt.
Liebe Grüße in den wunderbaren Sonntag
Emeritus
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Am 19.04.2015 um 13:27 schrieb Bahadir Ali Müfit Prof. Dr. <m.bahadir@tu-braunschweig.de>:
Lieber Emeritus,
wahrscheinlich deshalb, weil die Ursachen und die Tatbestände nach wie vor strittig sind und die Türkische Regierung nicht resigniert aufgibt und sagt, weil die "gesamte christliche westliche Welt gegen uns ist, geben wir etwas zu, was so nicht stimmt, nur um "endlich" Ruhe zu haben." Denn wie auch aus deinem vorherigen FAZ Beitrag (siehe Zitat) hervorgeht, wäre das ja nicht das Ende der bestehenden Konflikte „Türkei gegen den Rest der Welt“, sondern der Beginn der nächsten Eskalationsstufe in dieser Sache: "Freilich machen es armenische Hardliner auch der Türkei nicht leicht: Seit einigen Jahren sind in Eriwan Stimmen zu vernehmen, dass eine Anerkennung des Genozids nicht reiche, es müsse vielmehr auch eine Wiedergutmachung geben." (FAZ Artikel vom 17. April, Seite 2, 4. Spalte oben).
Was ich mir wünschte, wäre eine wissenschaftlich fundierte Debatte, meinetwegen auch vor internationalen Gerichten, wie sie in den beiden hier mitgeschickten Links in der Schweizer Weltwoche zu lesen ist. Da ist zunächst der bekannte Vorwurf des Genozids durch Hans-Lukas Kieser (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2006-42/artikel-2006-42-die-armenische-t.html), darauf die wissenschaftlich fundierte Entgegnung von Norman Stone (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2006-43/artikel-2006-43-es-war-kein-voel.html). Ein Geschichtsereignis, zwei völlig konträre Darstellungen. Auch wenn diese Debatte in der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche vor 10 Jahren geführt wurde, wirft sie doch ein erhellendes Licht auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen. Wer hat nun Recht?
Ich weiß es nicht, weil ich die Gnade der späten Geburt erfahren habe (Jahrgang 1947). Aber meine Mutter (Jahrgang 1922, also ziemlich dicht an den Ereignissen) lebte teilweise in Erzurum (von den Armeniern beanspruchte Stadt in der Osttürkei, Anm. Bahadir) und ihr Vater diente als Oberstleutnant in Aleppo, bevor Syrien an die Franzosen fiel. Von beiden wurde mir in meiner Kindheit erzählt, dass im Ersten Weltkrieg im Osten des Osmanischen Reichs die Armenier Türkische Kinder „geschlachtet“ und Frauen vergewaltigt hätten, woher die Feindschaft zwischen Armeniern und den Türken resultierte. Das sind meine persönlichen Erfahrungen mit dieser Problematik, der mit 12 Jahren nach Deutschland gekommen, in der Türkei nur die Grundschule besucht und daher keinerlei staatlichen Geschichtsunterricht in dieser Sache erhalten hatte, später als „Tourist“ bei Familienbesuchen in der Türkei die Feindschaft zwischen den Türken und den Armeniern hinterfragt hatte.
Schönen Sonntag und Liebe Grüße
Müfit
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Von: Emeritus
Gesendet: Sonntag, 19. April 2015 14:39
An: Bahadir Ali Müfit Prof. Dr.
Betreff: Re: AW: Seite aus F.A.Z. / F.A.S. Noch mal: Armenien
Ja, interessant, Müfit.
Aber das Problem bleibt: Wer hat Recht? Wir können das alles nicht beurteilen. Insofern wäre eine öffentliche Untersuchung und Bewertung der Fakten sicher zielführend.
Was Deine Vermutung mit "Reparationsforderungen" angeht, stimme ich Dir zu. Das wird kommen, so oder so. Schließlich leben wir in einer Welt, in der die persönliche Leistung durch die Forderung abgelöst ist. Forderung vorzugsweise dann, wenn andere bezahlen sollen.
Liebe Grüße
Emeritus
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Am 20.04.2015 um 17:36 schrieb Bahadir Ali Müfit Prof. Dr. <m.bahadir@tu-braunschweig.de>:
Lieber Emeritus,
je mehr ich über dieses Thema lese, desto mehr kommen mir Zweifel an der einseitigen Schuldzuweisung des Völkermords an die Türkei. Ich schicke Dir eine Darstellung der nt-v vom vergangenen Jahr, als Erdogan noch Ministerpräsident war und sein Bedauern an die Armenische Adresse ausgedrückt hatte: http://www.n-tv.de/politik/Erdogan-Tod-von-Armeniern-unmenschlich-article12708501.html. Bekanntlich wurde dies von der Armenischen Seite empört zurückgewiesen und die Anerkennung des Genozids verlangt, um darauf weitere Forderungen aufzusatteln (s. unsere vorangegangene Korrespondenz.) Das kann ich ja aus Armenischer Sicht noch verstehen.
Aber ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass das Angebot von Erdogan zur Einsetzung einer (internationalen) Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschehnisse von der Armenischen Regierung abgelehnt wird (auch aus verständlichen Gründen), aber andere Staaten sich einseitig die Armenische Argumentation zu eigen machen, dass die Fakten bereits erwiesen seien:
„Strittig ist unter anderem die Einsetzung einer Historikerkommission. Erdogan würde sie gerne einsetzen, um die Umstände der Massaker zu untersuchen. Die Regierung in Eriwan hat das bereits zurückgewiesen, weil sie befürchtet, dass die Türkei ihre Sichtweise in die Ergebnisse zu stark einfließen lassen könnte. Die armenische Regierung sieht es als erwiesen an, dass die Behörden des Osmanischen Reiches für die systematische Tötung von Armeniern verantwortlich waren.“ (vorletzter Absatz)
Wenn die Fakten so unstrittig sind, was hat dann Armenien zu befürchten? Warum drängt die „Internationale Gemeinschaft“ die Armenier nicht dazu, diese historische Aufklärungsarbeit ein für alle Mal durchzuführen und damit die Sache zu erledigen? Warum übernehmen der Deutsche Bundespräsident, der Bundestag, die Bundesregierung wie auch zuvor viele andere Regierungen wie die der Schweiz, USA, von Frankreich und dem Vatikan (der Papst) einfach die Armenische Darstellung? Warum darf nur die Armenische Seite ihre Sichtweise der Weltgemeinschaft aufoktroyieren?
Ich denke, das hat etwas zu tun mit dem „Kampf der Kulturen“, die (Kulturen) natürlich auch immer religiös bedingt sind, wie z.B. „die jüdisch-christliche Wertegemeinschaft“, die so oft in den letzten Jahren als Keule gegen die Türkei geschwungen wurde (der Islam gehört nicht zu Deutschland/Europa/etc.).
Liebe Grüße
Müfit
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Lieber Müfit,
Ich muss Dir voll zustimmen, so kann das nicht laufen!
Viele Grüße
Emeritus
Von meinem iPhone gesendet
Dienstag, 21.04.2015 um 10:18
Zum Thema Folgendes: Wohin führt der Definitionsstreit um die historisch unbestrittene Deportation der anatolischen Armenier? Was haben wir vom Streit über die Zahl der Opfer? Warum wird ein bestimmtes Datum in den Vordergrund gestellt - gab es keine Zeit davor und sind die Ereignisse danach eindeutig festgestellt?
Die Massakrierung ganzer Dorfbevölkerungen begann schon auf dem Balkan, als Serben, Bulgaren, und Rumänen für ihre Unabhängigkeit kämpften. In den befreiten Gebieten wurden türkische Dörfer eliminiert beim Zurückweichen vor osmanischen Truppen traf es die christlichen Dörfer.
In Anatolien war es nicht anders. Armenische Politiker und Intellektuelle träumten von dem eigenen Staat auf dem Gebiet, das seit Jahrtausenden von ihrem Volk besiedelt wurde. Partisanengruppen überfielen türkische Dörfer, osmanische Milizen und Militär gingen gnadenlos gegen Aufständische vor. Und dann fiel der osmanische Erzfeind Russland 1914 in Anatolien ein und die Armee von Enver Pascha erlitt eine vernichtende Niederlage. Diese Niederlage wurde nicht als Versagen der Militärs, sondern als Verrat und Kollaboration des armenischen Volkes deklariert und führte zu der heute so umstrittenen Definition der Ereignisse.
Das deutsche Reich hat nicht nur von den Gräueltaten gewusst - einige Offiziere und Beamte haben wohl auch aktiv mitgewirkt. Oder wer hat die Logistik bei der Einbeziehung der Bagdat-Bahn für den Transport gestellt? Und wo sind die armenischen Bauarbeiter und Angestellten geblieben? Was ist des Weiteren mit den in der osmanischen Armee dienenden und loyal gegen Russen, Engländer und Araber kämpfenden Armeniern geschehen?
Und für die türkischen, kurdischen und arabischen "Gebiets"-Fürsten war es die Gelegenheit, sich - ungehindert und von der osmanischen Staatsmacht gedeckt - am Hab und Gut der bedauernswerten Menschen zu bereichern. Man erinnere sich nur an die Pralerei kurdischer Scheichs über die Zahl armenischer Dörfer, die sie islamisiert in ihr Herrschaftsgebiet eingegliedert hätten. 1961 konnte man bei Fahrten von Erzurum über Kars und Van nach Diyarbakir in einigen Dörfern noch alte Leute finden, die die armenische Sprache beherrschten.
Wer also hat Schuld an den Massakern? Wer hat mit seine Interpretation der Geschehnisse recht? Es gibt Fotografien von ermordeten Frauen und Kindern, gehängten Männern usw., die beide Seiten der jeweils anderen anlastet - ist auch einfach, denn die Kleidung der bäuerlichen Landbevölkerung war indentisch. Wohlgemerkt, ich rede hier nicht von den grausamen Flüchtlingstrecks, sondern von der Zeit vor dem Deportationsbefehl.
Die heutigen Türken, denen man von klein auf eine bestimmte Sichtweise dargeboten hat, würden eine Verurteilung ihres Landes wegen "Völkermord" gar nicht verstehen. Und die Diaspora-Armenier sind mit den Bildern aufgewachsen, die Überlebende der Massaker und des Todesmarsches verbreitet haben und blenden Vorgeschichte und Umfeld für die letztendlich kriegsbedingte Radikal-Maßnahme einfach aus.
Leider kann man keine Seite zu etwas zwingen und (ich springe wieder zum ersten Absatz) solange Staatsinteressen die Aufklärung hemmen, bringt eine politisch motivierte Definition der Ereignisse 1915 in Ostanatolien nur weitere Probleme.
Auch wenn ich nicht alles übernehmen kann, danke an Prof. Dr. Müfit Bahadir für die unspektakuläre Darstellung der türkischen Sichtweise.