Die westliche Politik, sich offensiv in die Angelegenheiten des Orients einzumischen und umgekehrt in Europa auf schützende Grenzen zu verzichten, hat zu einer doppelten Überdehnung nach außen und innen geführt. Von den Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen bis zu Lockangeboten an die Ukraine hatte der Westen zu Destabilisierungen beigetragen, sich heillos in unlösbare Konflikte verstrickt, die vormalige Sicherheitspartnerschaft mit Russland ruiniert und den Kampf der Islamisten gegen den Westen angefeuert. Mit den Flüchtlingsströmen, aber auch mit dem Terrorismus fallen die Interventionen direkt auf uns zurück.

Mit der gescheiterten Unipolarität des Westens werden auch Denkfiguren von der Universalität der Demokratie, vom interkulturellen Regenbogen und von der allseitigen Integrierbarkeit als Illusionen erkennbar. Gerade angesichts der wirtschaftlichen und technischen Globalisierungsprozesse würden politische Grenzen umso mehr gebraucht. Die permanente Entgrenzung verliert an Akzeptanz. Ein europäisches Land nach dem anderen setzt auf neue Grenzkontrollen, mit denen zumindest eine Differenzierung zwischen Schutzsuchenden und potenziellen Gefährdern erreicht wird.

Die Befürworter eines „offenen Europas“ flüchten sich vor der Kritik an der Entgrenzung in die Moralisierung. In analytischer Monotonie werden alle Kritiker als „populistisch“ entlarvt, ob die angeblich „geschürten“ Ängste berechtigt sind oder nicht. Zu allen Problemen ist Deutschland auch noch ideologisch gespalten, die politischen Lager von Links und Rechts erleben eine Wiederauferstehung. Aber es handelt sich bei ihren Begriffen um Wiedergänger, die in den Köpfen herumgeistern, ohne dass sie noch zu begreifen helfen. 

 

Flexible Grenzen für die Europäische Union

Aus den erkannten Grenzen der Grenzenlosigkeit ergäbe sich im Umkehrschluss die Therapie: Der Westen und zumal das offene Europa müssen zunächst den seinerseits universalistischen Islamismus eindämmen, dann ihr eigenes Streben nach politischer Universalität gegen eine Koexistenz der Kulturen eintauschen und sich schließlich selbst funktionsfähige Grenzen geben, an denen entschieden wird, wer und wie viele hineinkommen.  

Schwellen wären gewiss besser als Zäune und Mauern, die wie in der spanischen Enklave Ceuta nur eine Ultima Ratio sein sollten. Die erste Schwelle läge in der Abschaffung von Migrationsanreizen, die zweite in einer Differenzierung der Flüchtlinge in Aufnahmezentren, die dritte in einer konsequenteren Rückführung, die vierte in einer besseren Sicherung der EU-Außengrenzen und die fünfte in Flüchtlingshilfe für „Pufferstaaten“ wie Türkei, Libanon und Jordanien. Die letzte Schwelle wäre die militärische Sicherung. In Australien wurde die Grenzsicherung der Marine übertragen, woraufhin die Zahl der Schleuserboote von 2013 bis 2014 von 2 000 auf 1 zurückging.

Schengen erlaubt die zeitweilige Wiedereinführung von nationalen Grenzen. Wann, wenn nicht jetzt? Doch auch das wird nicht reichen. Angesichts des Andrangs von Flüchtlingen und der Bedrohung durch Dschihadisten kann keine politische Ebene die Grenzsicherung mehr alleine leisten. Nationalstaaten und EU müssten sich ergänzen. Die meisten europäischen Nationalstaaten sind für die globalen Migrationsprozesse zu klein, aber ohne starke Nationalstaaten kann es auch keine erfolgreiche inter- oder supranationale Kooperation geben.  

Die Befürworter eines „offenen Europas“ flüchten sich vor der Kritik an der Entgrenzung in die Moralisierung.

In Zukunft soll Frontex in die Rolle einer operativ arbeitenden Grenzschutzbehörde hineinwachsen. Neben einer Aufstockung des eigenen Personalbestands auf 1 000 sollen zusätzlich mindestens 1 500 Grenzbeamte aus den Mitgliedstaaten als schnelle Eingreiftruppe auch gegen den Widerstand des Nationalstaats eingesetzt werden können. Wenn ein Mitgliedstaat überfordert ist, soll Frontex federführend für den Grenzschutz zuständig sein. Damit würde die Souveränität von Staaten in einem wesentlichen Punkt eingeschränkt. Anderenfalls drohen die Konflikte des zerfallenden Nahen Ostens nach Europa zu kommen. 

Grenzen sind nicht nur im physischen, sondern auch im organisatorischen und sogar im ideellen Sinne gefordert. Die Grenzen zwischen Funktionssystemen sind zur Verhinderung einer wirtschaftlichen Kolonialisierung der Lebenswelt oft noch wichtiger als zwischen den Staaten. Der Binnenmarkt kann für alle, Währungsunion und politische Union nur für wenige gelten, eine Sozialunion darf es nicht geben, solange die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu unterschiedlich sind.

Wichtigste gesamteuropäische Aufgabe wäre eine gemeinsame Grenz- und Asylpolitik. Im Mehrebenensystem der EU wird die gegenseitige Ergänzung nur gelingen, sofern sie einer konsensfähigen Strategie folgt. Aus der Strategie „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“ könnten die jeweiligen Aufgaben einsichtiger werden. Da sich die ideellen Gemeinsamkeiten der Europäischen Union als wenig belastbar erwiesen haben, ist es umso dringender, nüchterne Gegenseitigkeiten einzufordern, etwa finanzielle Hilfe an Griechenland an dessen Beiträge zur Grenzsicherung zu koppeln.

 

Das Prinzip Gegenseitigkeit

Der Weg zu einer in den Grenzen des Möglichen denkenden Realpolitik wird von der etwas schwärmerischen Suche nach Gemeinsamkeiten zum nüchternen Aufbau von Gegenseitigkeiten führen. In einem Einwanderungsgesetz müssten die wichtigsten Gegenseitigkeiten, die Chancen und Bedingungen, Rechte und Pflichten transparent geregelt werden. Mit den klar definierten Bedingungen für die Einwanderung würde der Ehrgeiz junger Menschen auf die Erfüllung dieser Voraussetzungen gelenkt.

Die goldenen Regeln des Prinzips Gegenseitigkeit werden von Menschen aller Kulturen verstanden, sofern ihre Verletzungen sanktioniert werden. Nach den Anschlägen von Paris will die französische Regierung die Ausweisung von Gewalthetzern und sogar Verfassungsänderungen für eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft auf den Weg bringen. Solche Pläne wären vor dem terroristischen Massenmord in Paris als „rechts“ aus der Debatte verbannt worden.

Wichtigste gesamteuropäische Aufgabe wäre eine gemeinsame Grenz- und Asylpolitik.

Die Kritik an der wirtschaftlichen Globalisierung gilt als „links“, die an der mangelnden Behauptung des Staatsgebiets als „rechts“. Auch die Verteidigung unserer Leitkultur firmiert als „rechts“, obwohl es sich um eine liberale Kultur der Freiheit und um eine soziale Kultur der Gleichberechtigung handelt. Den notwendigen Gegenseitigkeiten stehen diese alten Einseitigkeiten der politischen Ideologien im Wege. Linke wie Rechte, Neokonservative, Neoliberale und idealistische Universalisten sind je auf ihre Weise an den Überdehnungs-, Entgrenzungs- und Verstrickungsproblemen beteiligt. Solange sie ihrer jeweiligen materiellen oder ideellen Globalisierungs- bzw. Universalisierungsideologie verhaftet sind, bleiben sie alle Teil des Problems.

In ihren globalen ökonomischen und kulturellen Kontexten zeigt sich die Begrenztheit der alten Ideologien. Da sie in der heutigen Globalität und Komplexität allenfalls ausschnitthaft Recht haben, müssen sie sich gegenseitig ergänzen. Wer die soziale Ordnung des Westens bewahren will, ist sowohl „links“ als auch „rechts“, wer die freiheitliche Ordnung bewahren will, ist sowohl „liberal“ als auch „konservativ“. Ohne eine neue Offenheit für die Dialektik der Realität lassen sich weder die sozialen noch die liberalen Errungenschaften unserer Kultur verteidigen.