„Willkommen in unserem Kurdistan“, begrüßt der Rezeptionist des Hotels Jarmuk im nordirakischen Erbil den ankommenden Gast. Er komme aus Syrien, antwortet Yassr auf Anfrage. „Ich bin ein Kurde.“ Der Frühstückskellner ist ein Kurde aus dem Iran, der Betriebsingenieur einer aus der Türkei. Der Besitzer des Hotels ist irakischer Kurde. Im Erbiler Hotel ist die gesamte ethnische Volksgruppe der Kurden vereint.

Erbil ist die Hauptstadt der Kurdenregion im Irak, die weitgehende Autonomie genießt. Irak-Kurdistan hat eine eigene Regionalregierung, eine eigene Gerichtsbarkeit und eigene Sicherheitskräfte. Auf 37 Millionen werden die Kurden insgesamt geschätzt. Die meisten leben in der Türkei (etwa 20 Millionen), sieben Millionen im Irak. Bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurde ihnen im Vertrag von Sèvres 1920 ein eigener Staat in Aussicht gestellt. Drei Jahre später wurde dies von den Siegermächten wieder verworfen. Stattdessen teilte man die Kurden auf vier Länder auf, mit schmerzlichen Konflikten und vielen Kriegen.

Doch heute sind sie einem eigenen Staat so nahe wie nie zuvor. Ob der Eroberungszug der Terrororganisation ISIS – Islamischer Staat im Irak und Syrien – einen ähnlich historischen Wendepunkt in der Geschichte des Mittleren Ostens markieren wird wie die Schlacht in Jarmuk, werden die kommenden Monate zeigen. Am Fluss Jarmuk, der heute an der Grenze zwischen Syrien, Jordanien und Israel fließt, wurden 636 n. Chr. die römischen Truppen vernichtend geschlagen und die islamische Expansion nahm unaufhaltsam ihren Lauf. Neue Reiche entstanden, neue Grenzen wurden gezogen.

Es ist nicht nur eine auf 10 000 Kämpfer geschätzte Terrortruppe, die im Irak ihr Unwesen treibt. Es ist der Aufstand der Sunniten gegen die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad.

Die Menschen in Erbil jedenfalls sind schon jetzt in Feierlaune. Auf dem neu gestalteten Arkadenplatz im Zentrum der 4 300 Jahre alten Stadt wehen mehr kurdische Fahnen als früher. „Der kurdische Sonnenaufgang“, titelt das Wochenmagazin Catalyst euphorisch: „Eine neue Ära dämmert.“ Nichts werde wieder so sein wie vor Mosul, kommentiert der Ministerpräsident von Irak-Kurdistan, Nechirvan Barzani, die derzeitigen Ereignisse.

Damit meint er die blitzschnelle Einnahme der zweitgrößten Stadt Iraks durch sunnitische Rebellen am 10. Juni 2014. Diese hatten innerhalb weniger Tage nicht nur Mosul und weite Teile der Provinz Ninewa erobert, sondern setzten ihren Siegeszug auch weiter südlich fort. Tikrit, die Hauptstadt der Provinz Salahuddin ist unter ihre Kontrolle geraten, Teile von Bakuba, Provinzhauptstadt von Dijala, ebenfalls. Und Anbar, die nordwestlich von Bagdad gelegene Provinz, hatte ISIS bereits im Januar eingenommen. Was in Mosul begann, hat sich mittlerweile zu einer Bewegung ausgewachsen. Es ist nicht nur eine auf 10 000 Kämpfer geschätzte Terrortruppe, die im Irak ihr Unwesen treibt. Es ist der Aufstand der Sunniten gegen die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad.

 

Die kurdische Gunst der Stunde

Die Kurden nutzten die Gunst der Stunde. Ihre Peschmerga-Kämpfer rückten in Kirkuk ein, bevor ISIS die Stadt übernehmen konnte. Damit haben sie vollzogen, was lange ihre Forderung war: Kirkuk wird kurdisch. Der jahrelange erbitterte Streit zwischen Bagdad und Erbil um die reiche Ölstadt im Nordirak ist vorerst entschieden. Die Terroristen von ISIS haben Tatsachen geschaffen. Denn nicht nur die Sunniten fühlen sich von dem schiitischen Regierungschef an den Rand gedrängt, auch die Kurden werden von ihm missachtet. Seitdem Premierminister Nuri al-Maliki im April 2006 seine erste Amtszeit antrat, mahnen seine kurdischen Koalitionspartner den Paragrafen 140 in der irakischen Verfassung an, der ein Referendum der Einwohner Kirkuks vorsieht. Sie sollen entscheiden, wer die Verwaltungshoheit über Kirkuk erhalten soll. Bagdad wie Erbil erheben Anspruch darauf. Aber Maliki weigerte sich beharrlich, den Verfassungsauftrag zu erfüllen. Er führte stets Sicherheitsbedenken als Grund seiner Weigerung an. Tatsächlich aber fürchtete er, dass das Öl Kirkuks eine Abspaltung Kurdistans vom Rest des Iraks besiegeln würde.

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil eskalierte vor fast zwei Jahren. Kurdenpräsident Masoud Barzani schickte seine Peschmerga-Truppen in Richtung Kirkuk, nachdem Maliki eigens für den Konflikt mit den Kurden die sogenannte Division „Dijla“, eine Sondereinheit, in den Norden entsandte. Tagelang waren die Einwohner Kirkuks praktisch umzingelt. Im Süden lag die irakische Armee, im Norden die Peschmerga. Zehn Kilometer vor der Stadtgrenze gingen die Kurden in Stellung. Das verhalf ihnen jetzt zum schnellen Einzug in die Stadt, die bis dahin von einer sogenannten Joint Force, die die Amerikaner vor ihrem Abzug zusammengestellt hatten, gesichert wurde. Darin waren Sicherheitskräfte aus allen Volksgruppen Kirkuks vertreten: Kurden, Araber und Turkmenen. Die irakische Armee hatte in der Stadt selbst keine Stellungen. Jetzt sind die Peschmerga in die Kasernen eingerückt, die US-Truppen bis Ende 2011 nutzten.

Die drei ursprünglich kurdischen Provinzen haben ihr Territorium seit den Ereignissen von Mosul um fast 40 Prozent erweitert.

Doch die kurdischen Freiheitskämpfer gingen weiter und „schützen“, wie es offiziell heißt, nun auch andere umstrittene Gebiete, in denen zumeist Kurden leben. Sie haben Tuz Kurmatu in der Provinz Salahuddin unter ihrer Kontrolle, Kanaquin und Jalula in Dijala und Grenzorte zu Syrien wie Rabia in Ninewa, nördlich von Mosul. Die drei ursprünglich kurdischen Provinzen haben ihr Territorium seit den Ereignissen von Mosul um fast 40 Prozent erweitert. Doch der Landgewinn bringt auch Herausforderungen mit sich, die vor Kurzem noch undenkbar waren. Die Peschmerga müssen jetzt die Aufgabe übernehmen, zu der die irakische Armee offensichtlich nicht fähig war: Sie müssen die über 1 000 Kilometer lange Grenze zu Syrien verteidigen und den Strom der ISIS-Kämpfer, die von dort kommen, eindämmen. Außerdem gilt es mit einem anderen Strom fertig zu werden, dem der Flüchtlinge. Nach Angaben der UN haben 300 000 Menschen ihr Zuhause verlassen und bewegen sich auf die sicheren Kurdengebiete zu. Nachdem die kurdische Regionalregierung in Erbil schon 250 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, sind die innerirakischen Flüchtlinge jetzt ein schier unlösbares Problem geworden.

 

Hürden der kurdischen Unabhängigkeit bleiben

Bei aller Vorfreude auf einen eigenen Staat sind die Hürden bis zur Unabhängigkeit noch enorm hoch. In Kirkuk haben sunnitische Araber und Turkmenen schon Anspruch auf ihren Teil an der politischen Macht und den Ressourcen angemahnt, sollte die Stadt kurdisch bleiben. Amerikaner und Türken haben stets auf die Einheit Iraks bestanden und damit gedroht, einen unabhängigen kurdischen Staat nicht anzuerkennen. Und wie immer sich die Situation für die Zentralregierung in Bagdad entwickelt, ist stets damit zu rechnen, dass es Auseinandersetzungen geben wird. ISIS hat zwar die Tür für einen eigenen kurdischen Staat geöffnet, aber durchgehen müssen die Kurden selbst.