Am kommenden Donnerstag fällt am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag das Urteil gegen Radovan Karadžić, Führer der bosnischen Serben während der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre. Die Anklage lautet auf Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – um nur die schlimmsten Punkte zu nennen.

Unabhängig vom Urteil bietet das Ende des Prozesses 20 Jahre nach dem Ende der Kriege Anlass, über Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung auf dem Westbalkan nachzudenken.

Meine These ist: Die Misere der Westbalkan-Staaten beruht auch auf fehlender Aufarbeitung – sowohl der kommunistischen Zeit als auch der Zerfallskriege.

Im Jahr 2015 haben 150 000 Menschen vom Westbalkan in Deutschland Asyl beantragt. Obwohl sie hier keine Bleibeperspektive haben, war dies eine Abstimmung mit den Füßen. Die Menschen sagen klar und deutlich: In unseren Ländern geht es nicht vorwärts. Im Gegenteil: Es geht bergab. Die Gesellschaften wachsen nicht zusammen, sondern driften auseinander. Beispiele liefern der Parlamentswahlkampf im EU-Mitgliedstaat Kroatien oder die politischen Auseinandersetzungen in Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Albanien oder auch Serbien.

Die Misere der Westbalkan-Staaten beruht auch auf fehlender Aufarbeitung – sowohl der kommunistischen Zeit als auch der Zerfallskriege.

Ein Grund für das gesellschaftliche Auseinanderdriften ist der mangelhafte Wille, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Wenn Aufarbeitung angesprochen wird, dann um sie gegen einen politischen Widersacher zu instrumentalisieren. Doch bei Aufarbeitung darf es eben nicht um Vergeltung oder Revanchismus gehen, sondern nur um die Wahrheit im Sinne der Gerechtigkeit.

Um auf den Trümmern der Vergangenheit einen funktionierenden Staat mit einer funktionierenden Gesellschaft aufzubauen, bedarf es der ehrlichen und manchmal schmerzhaften Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Dazu gehört auch „Lustration“, das heißt die persönliche Überprüfung von Personen öffentlichen Interesses beziehungsweise in staatlichen Positionen.

Als Berichterstatter für Südosteuropa der SPD-Bundestagsfraktion war ich im September 2015 eingeladen, in Kroatien auf einer hochrangig besetzten Veranstaltung zu sprechen. Dort berichtete Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, von der deutschen Aufarbeitungspraxis. Eine ähnliche Veranstaltung plane ich nun für Ende Mai 2016 in Serbien.

Es ist eine wichtige Rolle der deutschen Außenpolitik, auf die gesellschaftliche Aufgabe der Aufarbeitung hinzuweisen und andere Gesellschaften mit unserer Erfahrung zu unterstützen.

Es ist eine wichtige Rolle der deutschen Außenpolitik, auf die gesellschaftliche Aufgabe der Aufarbeitung hinzuweisen und andere Gesellschaften mit unserer Erfahrung zu unterstützen. Deutschland beschäftigt sich eingehend mit der Geschichte der Nazi-Diktatur und der kommunistischen Vergangenheit in der ehemaligen DDR. Dabei ist es mir wichtig, beide Diktaturen nicht in einen Topf zu werfen. Das gleiche gilt für das ehemalige Jugoslawien, wo man die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, der kommunistischen Ära und der Zerfallskriege natürlich auch nicht über einen Kamm scheren darf. Die Aufklärung des Kommunismus darf den Faschismus nicht verharmlosen. Anliegen von Demokratinnen und Demokraten muss immer sein, jegliche Form der Diktatur aufzuarbeiten. Umso mehr sind deutsche Institutionen mit ihrer Expertise für die unterschiedlichen Arten der Aufarbeitung gefragt. Wir können anderen Gesellschaften dieses Wissen anbieten. Dafür setze ich mich ein und möchte dafür werben, dass wir dies – parteiübergreifend – noch stärker tun.

Warum sollten wir das tun? Deutschland hat ein Interesse an einer stabilen, demokratischen, prosperierenden Nachbarschaft. Wenn wir Asylsuchende vom Westbalkan guten Gewissens zurückschicken wollen, sollten wir uns darum bemühen, dass es in ihren Staaten aufwärts geht. Aufarbeitung ist eine wichtige Grundlage für die demokratische und damit für die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit dieser Staaten.

Als europäischer Bürger ist Aufarbeitung für mich aber auch ein Wert an sich. Der europäische Gedanke ist viel mehr als die Idee vom freien Handel. Der europäische Gedanke steht für Frieden. Aussöhnung, die in Europa zwischen Gesellschaften gelungen ist, konnte nur deshalb gelingen, weil sich die Gesellschaften auch intern mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben. Auf dem Weg Richtung EU ist es also für die Staaten des Westbalkans unabdingbar, sich der Aufarbeitung ihrer Geschichte(n) zu stellen.

Am Donnerstag werden wir ein weiteres Mal die national(istisch) gefärbten Reaktionen auf das Karadžić-Urteil erleben. Ich hoffe in diesem Chor auf die ausgewogenen Stimmen, die sich kritisch mit der jeweils eigenen Geschichte auseinandersetzen. Sie sind die Grundlage für eine neue fruchtbare Zusammenarbeit auf dem Westbalkan.