Die USA wollen bis 2035 vollständig unabhängig von Energie-Importen sein. Möglich wird dies durch die heimische „Schiefergas-Revolution“. Mit Hilfe neuer Technologien können neuerdings größere Vorkommen von unkonventionellem Erdöl und Erdgas in Nordamerika gefördert werden. Für einige Beobachter gilt daher als ausgemacht: Der Mittlere Osten wird für die USA zunehmend an Bedeutung verlieren. Ein Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Region steht bevor.
Diese Annahme beruht auf der Prämisse, dass die Präsenz der USA im Mittleren Osten in erster Linie der Sicherstellung von Erdöl-Lieferungen dient. Tatsächlich jedoch beziehen die Vereinigten Staaten seit geraumer Zeit lediglich rund 20 Prozent aller US-Erdöl-Importe aus der Region. Zum heimischen Gesamtverbrauch tragen diese gerade einmal 13 Prozent bei.
Tatsächlich jedoch beziehen die Vereinigten Staaten seit geraumer Zeit lediglich rund 20 Prozent aller US-Erdöl-Importe aus der Region.
Die gewaltigen militärischen Anstrengungen der Interventionen in Afghanistan, im Irak, im Jemen, in Libyen, Pakistan und Somalia sowie die US-Militärpräsenz vom Kaspischen Meer bis zum Golf von Aden, vom Mittelmeer bis zum Hindukusch rechtfertigt dieser vergleichsweise geringe Anteil in keiner Weise. Als viel entscheidender erscheinen geopolitische und geoökonomische Interessen, die unabhängig von der Schiefergas-Revolution auch weiterhin die USA an die Region binden werden.
Korrekt: Kein Blut für Öl (jedenfalls nicht direkt)
Im 19. Jahrhundert stritten Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft im Mittleren Osten, inklusive Zentralasien. Ihr Ringen fand als „Great Game“ Eingang in die Geschichtsbücher. Mit Beginn des Kalten Kriegs traten die USA dieses britische Erbe an. Sie verfolgten eine Einkreisungspolitik mit dem Ziel, ein Vordringen der Sowjetunion zu den Weltmeeren zu verhindern. Dahinter stand die Sorge, dass es dem Kreml eines Tages gelingen könnte, den Ressourcenreichtum des eurasischen Kontinents mit einem Zugang zu den offenen Weltmeeren zu verknüpfen.
An diesem „Worst Case“-Szenario hat sich trotz aller geopolitischen Veränderungen nach dem Ende des Kalten Kriegs wenig geändert. Wenngleich Russland derzeit weit davon entfernt ist, die Vereinigten Staaten entscheidend herausfordern zu können, sähe die Situation in einer Allianz mit China und/oder mittel-östlichen Staaten anders aus. Vor diesem Hintergrund sprach Zbigniew Brzezinski schon Ende der 90er Jahre davon, den „Pluralismus auf der Landkarte Eurasiens“ festigen zu wollen. In der Umsetzung bedeutete dies nichts anderes als den Versuch, Moskaus Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu beenden und weiter ins eurasische Kernland zurückzudrängen. Tatsächlich nahm die Einkreisung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion zu. In Europa geschah dies durch die EU- und NATO-Osterweiterung. Im Mittleren Osten unter anderem durch die langfristige Stationierung von US-Militär, etwa auf der arabischen Halbinsel, in Afghanistan, Kirgistan oder der Türkei.
In dieser Region, oft als „strategische Ellipse“ bezeichnet, bemühen sich derzeit die drei Mittelmächte Iran, Saudi Arabien und Türkei vor dem Hintergrund einer Vielzahl instabiler Staaten sowie einem Geflecht ethnischer und religiöser Konflikte darum, ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Daneben sind die benachbarten Großmächte Russland und China darum bemüht, ihren Einfluss auszuweiten: Russland mit Plänen einer „Eurasischen Union“, deren Gründung für das Jahr 2015 geplant ist, China im Streben nach der Wiederbelebung historischer Handelsrouten. Diese ordnungspolitische Gemengelage birgt ein enormes Konfliktpotenzial, das Kraftproben und Expansionsbestrebungen geradezu provoziert. Speziell Zentralasien stellt die USA dabei vor ein Dilemma: Einem Vordringen russischer und insbesondere chinesischer Wirtschafts- und Handelsmacht soll Einhalt geboten werden. Dies jedoch wird nur mit einer direkten Präsenz gelingen.
Speziell Zentralasien stellt die USA vor ein Dilemma: Dem Vordringen russischer und chinesischer Wirtschafts- und Handelsmacht soll Einhalt geboten werden. Dies jedoch wird nur mit einer direkten Präsenz gelingen.
Neben diesen geopolitischen Motiven existieren auch handfeste geoökonomische Gründe für die USA, im Mittleren Osten langfristig präsent zu bleiben. Einer dieser Gründe ist mit dem Handel von Erdöl in US-Dollar verknüpft und betrifft das chronische Handelsdefizit der Vereinigten Staaten. Seit Jahrzehnten ist die US-Handelsbilanz bekanntlich extrem unausgeglichen. 2011 betrug das Defizit im Warenhandel 738 Milliarden US-Dollar. Das verursachte ein Leistungsbilanzdefizit in Höhe von 466 Milliarden US-Dollar.
Anderen Staaten würde ab einem gewissen Zeitpunkt die Kreditwürdigkeit abhandenkommen. Durch den US-Dollar als Weltleitwährung genießen die USA jedoch eine Sonderposition. Dabei wird die weltweite Nachfrage nach der US-Währung insbesondere durch den Erdöl-Handel in US-Dollar gesichert. So können die Vereinigten Staaten ihr Handelsdefizit über die Geldpresse und den Verkauf von Staatsanleihen finanzieren – auf Kosten all derer, die für den internationalen Erdöl-Handel US-Dollar ankaufen müssen. Trotz Bemühungen der Regierung Obamas, eine Re-Industrialisierung voranzutreiben, wird sich kurz- und mittelfristig nichts an dieser Schieflage ändern. Die militärische Präsenz der USA, insbesondere am Persischen Golf, bleibt daher auch weiterhin notwendig, um die dortigen Monarchien zu schützten, die dafür wiederum ihre Erdöl-Exporte in US-Dollar abrechnen.
Nicht zuletzt sind und bleiben die USA auch durch ihr Interesse an Stabilität auf den globalen Erdöl-Märkten mit dem Mittleren Osten verbunden. Ein weitgehender Rückzug würde die Sicherheit von Produktionsstätten und Transportrouten in Frage stellen. Schon eine erwartete oder eine tatsächliche Unterbrechung von Förderung oder Transport im Mittleren Osten würde zu einer erheblichen Volatilität im Erdöl-Preis beitragen, mit entsprechenden Konsequenzen.
Aus diesen Gründen wäre ein Rückzug aus dem Mittleren Osten für die USA mit zu vielen Ungewissheiten und Risiken verbunden. Dabei gilt nach wie vor Henry Kissingers Diktum, demzufolge die internationale Politik kein Machtvakuum kennt. Entscheidend ist nicht ob, sondern wie der Rückzug einer Macht ersetzt wird. Es stellt sich daher die Frage, wer den von den USA freigegebenen Raum im Mittleren Osten füllen würde. Die Alternativen sind für Washington wenig verlockend.
Die Konsequenzen eines US-Rückzugs wären wenig verlockend
Im Kaukasus und in Zentralasien würde mit großer Wahrscheinlichkeit der Einfluss Moskaus steigen – in Zentralasien in starker Rivalität mit China. Im sunnitisch geprägten Teil der arabischen Welt spricht Vieles für eine Islamisierung durch Parteien der Muslimbrüder oder radikalere islamistische Kräfte, die die vom Westen gestützten Regierungen der arabischen Halbinsel, in Ägypten und Jordanien stürzen könnten. Die entsprechenden Konsequenzen für die Sicherheit Israels dürften – nicht nur – Washington missfallen. In Irak, Libanon und Syrien käme wohl Iran in die Lage, als Schutzmacht der Schiiten und anderer Minderheiten seine Regionalmachtambitionen weiter voranzutreiben. Afghanistan stünde vor einem Zusammenbruch verbunden mit der Ausweitung iranischer und pakistanischer Einflusssphären.
Sicher, ein Rückzug der USA aus der Region würde nicht zwangsläufig eine Expansion russischen oder chinesischen Einflusses und eine Abwendung der Ölstaaten vom US-Dollar zur Folge haben. Dennoch bleiben die Folgen eines US-Abzugs unkalkulierbar. Bedenkt man, dass die USA seit 1941 faktisch alles daran gesetzt haben, die Dominanz der eurasischen Weltinsel durch eine dritte Macht oder eine Koalition von Mächten zu verhindern, spricht wenig dafür, dieses geopolitisch und geoökonomische Schlüsselgebiet den beiden Großmächten China und Russland sowie dem Iran zu überlassen.
Der Verlust des US-Einflusses auf den globalen Energiehandel könnte eine Ausweitung der Energie-Produktion im Mittleren Osten zur Folge haben. Die US-Schiefergas-Revolution wäre beendet bevor sie richtig begonnen hat.
Auch würde der Verlust über die strategische Ellipse den Einfluss der USA auf den globalen Energiehandel drastisch reduzieren – mit unerwünschten Konsequenzen. Langfristig könnte eine – geplante oder unkoordinierte – Ausweitung der Energie-Produktion im Mittleren Osten dabei das Preisniveau auf den internationalen Märkten senken. Dies würde eine Verdrängung der unkonventionellen und vergleichsweise teuren Erdöl- und Erdgas-Produktion in Nordamerika vom Markt zur Folge haben. Die Schiefergas-Revolution wäre beendet bevor sie richtig begonnen hat. Zugleich könnten die Energie-Produzenten im Mittleren Osten damit beginnen, ihre Exporte auch in anderen Währungen als dem US-Dollar abzurechnen. Ökonomisch dürfte dies angebracht sein, zumal die Kaufkraft des US-Dollars in den letzten Jahrzehnten deutlich an Wert verloren hat. Die Position des US-Dollars als Weltleitwährung wäre gefährdet, das oben skizzierte Modell nicht länger funktionsfähig.
Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass US-Präsident Barack Obama vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Herbst vergangenen Jahres deutlich machte, dass sich die USA auch langfristig im Mittleren Osten engagieren werden: „Eine große Gefahr für die Welt besteht darin, dass sich die Vereinigten Staaten zurückziehen und so ein Vakuum hinterlassen könnten, das keine andere Nation füllen möchte. Ein solcher Rückzug wäre falsch. Die Vereinigten Staaten müssen sich zu ihrer eigenen Sicherheit weiter engagieren.“
Angesichts der Schiefergas-Revolution ist daher eines nicht zu vernachlässigen: Die USA sind nicht aufgrund der physikalischen Versorgung mit Erdöl im Mittleren Osten präsent. Vitale geopolitische und geoökonomische Interessen binden die Vereinigten Staaten an die Region. Der Mittlere Osten wird deshalb für die USA mittelfristig nichts an strategischer Relevanz verlieren.