Heute scheint es so, dass jede Wahl in Europa auf eine einzige zentrale Frage reduziert werden kann: „Werden die Populisten gewinnen oder verlieren?“ Noch vor der niederländischen Wahl im März schien die Welle des Populismus – oder der „Tsunami“, wie sich Nigel Farage, der ehemalige Parteichef der britischen Unabhängigkeitspartei, ausdrückte – kaum aufzuhalten. Jetzt allerdings hat sich die Welle plötzlich abgeschwächt: Nach Emmanuel Macrons großen Siegen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich leben wir nun angeblich in einem „postpopulistischen Moment“.
Leider spiegelt diese Ansicht über den Aufstieg und Fall des Populismus das wider, was ihm oft selbst vorgeworfen wird: eine zu starke Vereinfachung. Das Bild einer nicht aufzuhaltenden Welle setzt voraus, dass man den britischen Brexit und die Wahl von Donald Trump als Siege der Populisten interpretiert, anstatt als Erfolg der etablierten Konservativen.
Natürlich sind Farage und Trump Populisten, aber nicht deshalb, weil sie die Elite kritisieren. Immerhin kann die Wachsamkeit gegenüber der Elite auch ein Zeichen eines demokratischen Engagements sein. Was die Populisten wirklich von anderen unterscheidet, ist ihre Behauptung, sie allein würden die „echten Menschen“ oder „die schweigende Mehrheit“ repräsentieren. Für Populisten geht es bei einer Wahl nie nur um unterschiedliche politische Ansichten, sondern auch um die persönliche Korruption, Unmoral und Illegitimität der anderen Kandidaten.
Mit anderen Worten, der Populist entscheidet, wer die wahren Menschen sind.
Weniger offensichtlich, aber dafür um so schädlicher ist die Andeutung, Bürger, die die Ansichten der Populisten über „die Menschen“ nicht teilten und deshalb ihre Politik nicht unterstützten, seien keine vollwertigen Wähler. Erinnern wir uns an Farages Behauptung, der Brexit sei ein „Sieg der echten Menschen“. Die 48 Prozent, die für den Verbleib in der Europäischen Union stimmten, sind dieser Auffassung zufolge also keine „echten“ Briten.
Oder nehmen wir die Wahlkampfaussage Trumps im letzten Jahr: „Nur die Vereinigung der Menschen ist wichtig – da die anderen Menschen bedeutungslos sind.“ Mit anderen Worten, der Populist entscheidet, wer die wahren Menschen sind. Und wer sich weigert, sich zu den populistischen Bedingungen vereinheitlichen zu lassen, wird ausgeschlossen – auch wenn er zufällig einen britischen oder US-amerikanischen Pass besitzt.
Populismus ist daher eine Form von Antipluralismus. Die Behauptung, „die Menschen“ würden sich gegen „das Establishment“ auflehnen, ist keine neutrale Beschreibung politischer Entwicklungen, sondern lediglich eine populistische Ausdrucksweise. Um sie akzeptieren zu können, muss man zustimmen, dass die Populisten tatsächlich „die Menschen“ vertreten.
Tatsächlich aber sind Gestalten wie Farage oder der rechtsextreme niederländische Populist Geert Wilders weit davon entfernt, die Mehrheit der Wähler zu überzeugen. Stimmen Politiker und Journalisten aus Bequemlichkeit der Annahme zu, die Populisten sprächen die „tatsächlichen Sorgen“ der Menschen aus, zeigen sie damit, dass sie nicht verstehen, wie die demokratische Repräsentanz tatsächlich funktioniert. Sie ist keine mechanische Reproduktion objektiv vorhandener Interessen und Identitäten. Vielmehr werden Interessen und Identitäten dynamisch geformt, indem die Politiker Repräsentationsangebote machen und die Bürger darauf reagieren. Trump beispielsweise konnte zweifellos einige Amerikaner erfolgreich davon überzeugen, sich selbst als Teil einer identitären Bewegung als Weiße zu sehen. Diese Identität – und die Art, wie sie auf die Interessen ihrer Vertreter wirkt – kann sich allerdings wieder verändern.
Das Bild einer unaufhaltsamen populistischen „Welle“ war immer schon irreführend. Farage war nicht die Hauptursache für den Brexit. Er brauchte dazu die Hilfe etablierter Konservativer wie Boris Johnson und Michael Gove (die beide heute Premierministerin Theresa Mays Kabinett angehören). Auch Trump wurde nicht als Kandidat einer Bürgerprotestbewegung der weißen Arbeiterklasse gewählt, sondern als Vertreter einer zutiefst etablierten Partei, und er hatte die Unterstützung republikanischer Schwergewichte wie Rudy Giuliani und Newt Gingrich.
Wenn überhaupt, war Trumps Wahl höchstens eine Bestätigung der Tatsache, wie gespalten die US-Politik heute ist: Obwohl viele Anhänger der Republikaner große Zweifel an ihm hegten, wurde er von 90 Prozent von ihnen gewählt – die es offensichtlich nicht über sich bringen konnten, statt dessen eine Demokratin zu wählen. Bis heute ist in Westeuropa oder Nordamerika noch kein rechter Populist an die Macht gekommen, der nicht von den etablierten konservativen Eliten unterstützt wurde.
Die Idee, die Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich hätten einen „postpopulistischen Moment“ eingeleitet, berücksichtigt nicht den Unterschied zwischen dem Populismus mit seinem Anspruch auf ein moralisches Repräsentationsmonopol und den typischen Maßnahmen der Populisten, die – wie beispielsweise Einwanderungsbeschränkungen – Teil ihrer identitären Politik sind, die alles andere ausschließt. So schnitt Wilders, der wirklich ein Populist ist, im März weniger gut ab als erwartet. Aber sein Hauptgegner, der gemäßigt rechte Ministerpräsident Mark Rutte, machte sich Wilders’ Rhetorik zu eigen, indem er erklärte, Einwanderer müssten das Land verlassen, wenn sie nicht bereit seien, sich „normal“ zu verhalten.
Bis heute ist in Westeuropa oder Nordamerika noch kein rechter Populist an die Macht gekommen, der nicht von den etablierten konservativen Eliten unterstützt wurde.
Dadurch wurde Rutte nicht zum Populisten. Er hat nicht behauptet, der einzig legitime Repräsentant des wahren niederländischen Volkes zu sein. Aber die politische Kultur als Ganze bewegt sich stetig nach rechts, ohne dass dies von den Bürgern wirklich demokratisch legitimiert wurde. Obwohl die Populisten verlieren, könnten sie letztlich dadurch gewinnen, dass die Konservativen einfach ihre Ideen kopieren.
Diese Dynamik war auch bei den letzten britischen Wahlen erkennbar. May, die vorgezogene Neuwahlen ausrief, als die Konservativen bei Umfragen zwanzig Prozentpunkte in Führung lagen, versuchte, Farages UKIP zu zerstören, indem sie sie imitierte. Damit hatte sie Erfolg, aber viele Briten konnten mit ihrer an Trump erinnernden Rhetorik, sie werde das Land hinter ihrer „starken und stabilen“ Regierung vereinen, nichts mehr anfangen.
Wie Daniel Ziblatt von der Harvard-Universität schrieb, hing die Entwicklung der Demokratien in Europa immer schon entscheidend vom Verhalten der konservativen Eliten ab. Während der Zeit zwischen den Kriegen, als die Konservativen mit autoritären und faschistischen Parteien gemeinsame Sache machten, ging die Demokratie unter. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten sie sich dann an die demokratischen Spielregeln, auch wenn die konservativen Kerninteressen in dieser Zeit Federn lassen mussten.
Unsere heutige Zeit lässt sich keineswegs mit der Periode zwischen den Kriegen vergleichen, und die heutigen Populisten sind keine Faschisten. Aber die Lektion gilt immer noch: Das Schicksal der Demokratie hängt nicht nur von rebellischen Außenseitern ab, sondern auch von den Entscheidungen der etablierten Eliten. Diejenigen, die mit den Populisten gemeinsame Sache machen – oder ihre Ideen kopieren – müssen zur Verantwortung gezogen werden.
(c) Project Syndicate