Etwas rumort in Afrika: Im Senegal übernimmt nach Protesten und anschließenden Wahlen ein Präsident im Millennial-Alter die Macht, der wenige Wochen zuvor noch politischer Häftling war. In Kenia führen Straßenproteste, angeführt von GenZ-Studierenden, zur Entlassung des Kabinetts und zur Rücknahme von Steuererhöhungen. Während in Nigeria und Uganda unter großem Aufgebot an Sicherheitskräften ebenfalls protestiert wird, sperrt die simbabwische Regierung präventiv prominente Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft ein. Man macht sich offenbar Sorgen.
Von Sudan bis Südafrika, Proteste gab es in Afrika in den jüngsten Jahren immer wieder. Die Frequenz nimmt nun offenbar zu. Zwar verdeckt eine Einordnung der Proteste als GenZ-Phänomen viele Unterschiede, aber auf einem Kontinent, wo das Median-Alter der Regierenden weit über 60 liegt und das der Regierten bei unter 19 Jahren, ist diese Selbstidentifizierung der Protestierenden als GenZ auch kein Zufall. Jüngste Umfragen zeigen eine zunehmende Frustration junger Menschen: So sehen zwar zwei Drittel der Menschen in Afrika Demokratie als einzig legitime Regierungsform, Parteienbindung und Wahlbeteiligung nehmen aber unter jungen Menschen ab. Wird demokratische Rechenschaft von Regierenden nicht erbracht, werden radikale Alternativen beliebter. Die Zustimmung zu einem Eingreifen des Militärs bei Machtmissbrauch hat in ganz Afrika zugenommen, auch das besonders unter jungen Menschen. Das heißt: Proteste und eine schwindene Parteibindung werden wahrscheinlicher. Demokratie bleibt das Ziel, Putsche werden von vielen als potenzielle Versuche gesehen, dysfunktionale Demokratien zu retten.
2024 wird aber wohl nicht das Jahr der Putsche in Afrika, verglichen mit dem vorherigen. Es ist bisher das Jahr der Wahlen und Proteste. Das ist eine gute Nachricht. Der Zeitpunkt weiterer Proteste ist kaum vorherzusagen, aber dass die Erfolge in Senegal und Kenia inspirierend auch für Menschen in Nigeria oder Uganda sind, sagen diese selbst, genau wie in Simbabwe die Erfolge der Studierendenproteste in Bangladesch rezipiert werden. Man inspiriert sich gegenseitig, teilweise steht man im Austausch. Von einem African Spring zu sprechen, wäre jedoch noch voreilig, auch weil die jüngsten Proteste bisher eher in Ländern mit vergleichsweise freien Wahlen wie Kenia oder Nigeria stattfinden. So bleibt – wie in Senegal – auch der Wandel über die Wahlurne möglich. Eine Ausbreitung ist aber nicht unwahrscheinlich.
Mehr als 20 Länder des Kontinents befinden sich aktuell in einer Schuldenkrise.
Anlass der Proteste ist in erster Linie verwehrte soziale Teilhabe. Jungen Menschen fehlt das Vertrauen, dass die amtierenden Politikerinnen und Politiker diese herstellen. Jedes Jahr streben bis zu zwölf Millionen neue Arbeitssuchende auf die afrikanischen Arbeitsmärkte, wo es aber nur drei Millionen Arbeitsplätze gibt. Die Mehrheit findet nur im sogenannten informellen Sektor ein klägliches Auskommen. Schuldenkrisen und Inflation im Zuge von Pandemie, russischem Angriffskrieg und westlichen Zinserhöhungen bedeuten eine neue Runde finanzpolitischer Austerität in Afrika, ohne dass von den mit diesen Schulden finanzierten Projekten die Mehrheit profitiert hätte. Mehr als 20 Länder des Kontinents befinden sich aktuell in einer Schuldenkrise. Mehrere Regierungen brauchen daher dringend den Internationalen Währungsfonds, auch weil Chinas Kredite seit 2016 rückläufig und die Zinsen für Staatsanleihen in westlichen Währungen zu teuer sind. Der IWF vergibt Notfallhilfe aber nur gegen Bedingungen. So fordert er traditionell höhere Steuereinnahmen. Weil es aber nicht genug besteuerbare Arbeitsplätze gibt, bleibt den Regierungen für den Schuldendienst nur die Besteuerung der eigenen Privilegien oder aber des täglichen Konsums beziehungsweise das Kappen von Subventionen für Alltagsgüter. Für diese regressiven Maßnahmen, die vor allem untere Einkommensgruppen hart treffen, entschied sich zuletzt die Regierung in Kenia, die inzwischen mehr Geld für den Schuldendienst ausgibt als für Gesundheit oder Bildung. Genau das war ein Auslöser der jüngsten Proteste, die aber auf ein größeres Repertoire von strukturellen Unzufriedenheiten aufbauen.
So ist die öffentliche Daseinsvorsorge in den wachsenden Städten Afrikas heute oft schlechter als vor der Pandemie. Die Inflation war eh schon hoch, in Nigeria liegt sie heute bei knapp 40 Prozent. Jetzt sollen weitere Steuern hinzukommen. Das wird als wirtschaftspolitischer Angriff auf den Alltag und letztlich auf die Perspektiven einer ganzen Generation gesehen. Wegen der rapiden Urbanisierung leben inzwischen viele in den informellen Siedlungen des Kontinents Tür an Tür – beziehungsweise TikTok- an X-Account. Sie sehen, dass es anderen genauso geht. Sie sind zu viele, um sie mit Wahlgeschenken zu beschwichtigen.
Die Proteste veranschaulichen aber auch ein grundsätzlicheres Scheitern von 40 Jahren Angebotspolitik.
Die Proteste veranschaulichen aber auch ein grundsätzlicheres Scheitern von 40 Jahren Angebotspolitik, also des Versuchs, wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Hieran trägt der Westen eine besondere Mitschuld. Nach dem Kalten Krieg hatte die Mehrheit der Länder Afrikas Demokratien eingeführt, tat dies aber in einer Phase der sich seit den 1980er Jahren ausbreitenden Schuldenkrisen. Diese waren damals durch Zinserhöhungen im Westen ausgelöst worden, geantwortet wurde – auf Empfehlung des IWF, in dem westliche Länder besonders mächtig sind – mit Einsparungen. Das „Ende der Geschichte“ begann in vielen Teilen Afrikas somit zwar vielerorts demokratisch, aber mit Auflagen, die eine Deregulierung der Wirtschaft, einen Abbau von sozialer Sicherung und weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz bedeuteten.
Auch danach wurde vor allem die Angebotsseite für die andauernden wirtschaftlichen Probleme in Afrika verantwortlich gemacht. Vielen „westlichen Geberstaaten“, Weltbank und IWF, galten in den 1990er Jahren Handelsliberalisierung, Good Governance und später dann die Berufsausbildung als entscheidende Stellschrauben für wirtschaftlichen Aufschwung. Hierauf wurde die Zusammenarbeit ausgerichtet. Die Idee: Würden afrikanische Länder nur freiere Märkte, Good Governance und gut ausgebildete Arbeitskräfte „anbieten“, würde es schon aufwärts gehen. Ausbleibende „Entwicklung“ wurde also in erster Linie verstanden und bearbeitet als Mangel eines guten Angebots an Know-how (Stellschraube: Unterstützung der Berufsbildung), an Moral beziehungsweise Ineffizienz der Regierenden (Stellschraube: Beratung für Good Governance) und an ausländischem Kapital (Stellschraube: Handelshemmnisse abbauen und Anreize für Direktinvestitionen). Das hat nicht funktioniert. Das Pro-Kopf-Einkommen in ganz Afrika ist seit 1990 nur um ein Prozent gewachsen. Einige der lange gelobten Good Governance Champions sind inzwischen Autokratien, die ganze Regionen destabilisieren. Und in der aktuellen Hochzinsphase in den USA und Europa zieht derweil kaum noch Kapital nach Afrika, sondern eher in die andere Richtung.
Seit dem Jahr 2000 hat sich der Anteil der Afrikanerinnen und Afrikaner mit einem Hochschulabschluss verdoppelt.
Zumindest ein positives Ergebnis gibt es: Seit dem Jahr 2000 hat sich der Anteil der Afrikanerinnen und Afrikaner mit einem Hochschulabschluss verdoppelt. Nur finden diese eben keine Jobs und begehren jetzt gegen enge Partnerregierungen des Westens wie in Kenia und Nigeria auf. Für einige Beobachterinnen und Beobachter ist es erstaunlich, dass die Protestierenden in Kenia den IWF angreifen, aber nicht die Verschuldung in China. Nicht erstaunlich ist das angesichts afrikaweiter Umfragedaten: Die Volksrepublik ist beliebter in Afrika als europäische Länder und wird nicht für die Auflagen des IWF verantwortlich gemacht. Stattdessen werden die Erfolge der marktschützenden Wirtschafts- und der nachfragestärkenden Sozialpolitik von China oder Brasilien bewundert, wo man die wirtschaftliche Beratung des Westens eher abgelehnt hatte.
Die gute Nachricht ist: Die Kinder jener Eltern, die die politische Liberalisierung und die gleichzeitigen Entbehrungen der 1980er und 1990er Jahre miterlebt haben, suchen sich demokratische Formen, um ihren Unmut auszudrücken. Explizit berufen sich die Protestierenden dort, wo es sie gibt, auf demokratische Verfassungen beziehungsweise unerfüllte Wahlversprechen. Ein chinesischer Einparteienstaat ist kein Modell für sie. Sie sind auch keine Russland-Fans. Sie haben aber den Glauben verloren, dass die amtierenden Politikerinnen und Politiker, die gemeinsam die mit dem Westen koordinierte Angebotspolitik verantworten, noch einen Wandel vorantreiben und wirtschaftliche und soziale Teilhabe der GenZ bewerkstelligen könnten. In vielen politischen Ökonomien des Kontinents würde wirtschaftliche Umverteilung oder die Besteuerung von Finanzabflüssen in Steueroasen, wie sie von Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft vorgeschlagen wird, wohl zum Zusammenbruch bestehender Regierungsbündnisse führen. Sie sind der korruptionsanfällige Klebstoff, der diese zusammenhält. Auch daher kommt die maximale Forderung nach Rücktritt à la #RutoMustGo in Kenia.
Was kann man nun tun? Auch wenn Europas Interessen mit einigen der unter Druck stehenden Regierungen derzeit eng verknüpft sind, ist ein Dialog mit den Protestierenden schon allein darum vernünftig, weil einige davon absehbar politische Verantwortung übernehmen könnten (siehe Senegal). Genau das forderten Teilnehmerinnen und Teilnehmer afrikanischer Protestbewegungen zuletzt bei einem Besuch in Berlin vehement ein. Deren Vertrauen sollte man nicht noch weiter verspielen. Die noch dringendere Hausaufgabe von G7 und EU ist aber eine grundsätzlichere Antwort auf das Scheitern von 40 Jahren Angebotspolitik in Afrika. Das bedeutet, den bereits in der deutschen Entwicklungspolitik angelegten Pfad hin zu gemeinsamer globaler Strukturpolitik europaweit auszubauen und dem Wunsch nach wirtschaftspolitischer Souveränität entgegenzukommen. Notwendig ist dafür eine schnellere Reform des internationalen Schuldenmanagements. Will man Vertrauen und Partner in Afrika gewinnen, sind weitere Projekte entscheidend, die die wirtschaftliche Nachfrage stimulieren. Es geht hierbei um nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der europäischen (Entwicklungs-)Zusammenarbeit mit Afrika: von der Unterstützung von mehr Weiterverarbeitung und guten Arbeitsplätzen vor Ort, bei einer sozial-gerechten Energiewende, bis zum Aufbau einer marktschützenden afrikanischen Freihandelszone. Will Europa das viel beschworene bessere Angebot in einer multipolaren Welt machen, sollte es vor allem die Nachfrage stärken.