Die Invasion in der Ukraine hat Russland isoliert. Wenige Staaten halten weiter zu Moskau. Im UN-Sicherheitsrat stimmte zuletzt nur noch China für eine russische Resolution zur Ukraine, die zwar humanitäre Bedürfnisse des Landes anerkannte, jedoch das Geschehen nicht als Angriffskrieg wertete. Mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde dagegen ein ukrainischer Vorschlag, der Russland klar als Invasor verurteilte. Bei dieser Abstimmung enthielt sich das Reich der Mitte und mahnte stattdessen eine diplomatische Lösung des Konflikts an. Verschafft sich Peking so Spielraum, um zwischen den verhärteten Fronten zu lavieren?

Der führende russische Chinaexperte Alexej Maslow, der an der Russischen Akademie der Wissenschaften das Institut für asiatische und afrikanische Länder leitet, wies im Gespräch mit uns auf die spürbare Zunahme anti-amerikanischer Rhetorik in China hin. Er glaubt, dass Peking schon wenige Tage nach Kriegsbeginn eine Strategie festgelegt habe, wie auf die russische Invasion in der Ukraine zu reagieren sei. Im Sinne des Philosophen und Militärstrategen Sunzi versuche die Volksrepublik damit, eigene Probleme zu lösen: China verbreite, dass hinter dem Russland-Ukraine-Konflikt die USA stünden, die auch den Taiwan-Konflikt anheizen würden. „Mit dieser Perspektive gelingt es China, einerseits eine klare Antwort auf das Handeln Russlands zu vermeiden, andererseits das eigene innenpolitische Narrativ zu wahren. Weiterhin behält China seine profitablen Handelsbeziehungen mit dem Westen“, so Maslow.

Auch Andrej Kortunow, Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, glaubt nicht an eine absolut neutrale Stellung Pekings. Der Taiwan-Konflikt und die Handelsbeziehungen mit der Ukraine hielten es von einer einseitigen Unterstützung Russlands ab. Wenn es aber um den Konflikt zwischen Russland und dem Westen gehe, stehe China mit seiner Position der ‚wohlwollenden Neutralität‘ definitiv auf der Seite Russlands, meint Kortunow.

Der Taiwan-Konflikt und die Handelsbeziehungen mit der Ukraine hielten Peking von einer einseitigen Unterstützung Russlands ab. Wenn es aber um den Konflikt zwischen Russland und dem Westen gehe, stehe China definitiv auf der Seite Russlands

Weitere russische Analysen des chinesischen Verhaltens bestätigen diese Sichtweise. Der Militär- und Asienexperte Wassili Kaschin von der Russischen Akademie der Wissenschaften spricht von der chinesischen Vermeidung der Kritik an Moskau, während man zeitgleich dem Westen indirekt die NATO-Erweiterung und die mangelnde Bereitschaft vorwerfe, auf russische Sicherheitsbedenken einzugehen. Kaschin sieht keine Anzeichen dafür, dass China es auch nur in Betracht ziehe, auf Moskau Druck in Richtung eines schnellen Friedensabkommens auszuüben.

Für Alexej Maslow spielt Russland in den strategischen Überlegungen Chinas eine Schlüsselposition. Nicht nur als Handelspartner oder als Rohstoffanhängsel. Sondern als politischer Partner, der die Ressentiments gegenüber dem Westen ebenso teile wie den Wert der Unterordnung des Individuums unter dem Staat. „Die Idee einer chinesischen Unabhängigkeit wurde im 19. Jahrhundert geformt und lebt im Unterbewusstsein vieler Chinesen“, erklärt Maslow. Die Ressentiments gegenüber dem Westen sind seiner Meinung nach so etwas wie „eine nationale Idee“. Moskau wisse diese nationalen Gefühle der Chinesen gut zu pflegen.

Ein Irrtum der US-Politik bestehe für Maslow darin, China nur als „Land der Kaufleute“ zu sehen, das man mit Zollvergünstigungen von der Unterstützung Russlands abbringen könne. China sei jedoch ein Land der Krieger, die nicht mit militärischen Mitteln kämpften. So wie die Besatzung von Territorien in der chinesischen Geschichte auf Chinas Wirtschaftspolitik zurückzuführen sei, führe Peking auch einen Wirtschaftskrieg gegen die USA. Zollbegünstigungen hätten Peking vor 20 Jahren vielleicht noch zufrieden gestellt. Nun, wo es nach einem politischen Sieg strebe, sei das nicht mehr ausreichend. Russland werde jetzt als Partner gesehen, der wirtschaftlich eindeutig nicht bedrohlich sei, aber politisch lohnend.

Viele Russen treibt die Frage um, ob Peking Moskau für die stillschweigende Unterstützung im Ukraine-Krieg am Ende eine saftige Rechnung präsentiert.

Viele Russen treibt die Frage um, ob Peking Moskau für die stillschweigende Unterstützung im Ukraine-Krieg am Ende eine saftige Rechnung präsentieren werde. „Je mehr Länder Sanktionsdruck auf Russland ausüben, umso mehr wird China fordern. Aber desto  stärker werden auch die politischen und militärischen Beziehungen zwischen Russland und China daraus hervorgehen“, so Maslow. „Aber ohne ein echtes Militärbündnis. Denn dann müsste sich Russland auch die Taiwan-Frage zu eigen machen.“

Auch Andrej Kortunow glaubt nicht, dass die Intensivierung der militärtechnischen Zusammenarbeit in eine solche Richtung führen wird. Russland und China stünden dem traditionellen Modell eines Militärbündnisses kritisch gegenüber. Sie betrachteten es als veraltet. Man könne die gleichen Funktionen effizienter ausführen. Der russische Markt, den viele westliche Anbieter gerade fluchtartig verlassen, sei ein leckerer Bissen für China, so Kortunow. Er prophezeit, dass es hier zu einer aggressiven Politik chinesischer Unternehmen kommen werde, vor allem beim Autohandel und in der Unterhaltungselektronik. Dieser Prozess habe bereits vor dem Krieg und den damit einhergehenden Umbrüchen begonnen.

Kortunow erwartet auch mehr russisch-chinesische Zusammenarbeit im öffentlichen Sektor, etwa bei Staatsunternehmen. Während des Besuchs von Präsident Putin in Peking Anfang Februar unterzeichnete der Ölkonzern Rosneft mit dem chinesischen Energieriesen CNPC einen Vertrag über die Lieferung von 100 Millionen Tonnen Öl für zehn Jahre. Russlands Ambitionen, die Exporte von Öl und Gas zu diversifizieren, bekämen laut Kortunow jetzt einen starken Schub. Allerdings brauche es dafür auch neue Infrastruktur.

Maslow beobachtet in China eine wachsende Nachfrage nach Gas. Es gebe eine Vereinbarung über den Bau einer Gaspipeline namens Sila Sibiri 2 („Kraft Sibiriens 2“) von Russland über die Mongolei nach China. Von allen Formen der Abhängigkeit Russlands von China empfindet Maslow die von chinesischen Technologien als die problematischste. Auch hier bestehe keine Alternative mehr – fast alle westlichen High-Tech-Unternehmen verließen Russland. Maslow geht davon aus, dass chinesisch-russische Joint Ventures in Russland entstehen werden und chinesische Unternehmen in Russland Produktionsanlagen aufbauen. Die Abhängigkeit des Rubels vom Yuan werde wachsen, wenn sich russische Banken nach dem Ausschluss aus dem SWIFT-System dem chinesischen Konkurrenzsystem für Schnellzahlungen CIPS anschlössen, dessen Struktur dem Westen verborgen sei.

Die Abhängigkeit des Rubels vom Yuan werde wachsen, wenn sich russische Banken nach dem Ausschluss aus dem SWIFT-System dem chinesischen Konkurrenzsystem für Schnellzahlungen CIPS anschlössen, dessen Struktur dem Westen verborgen sei.

Die westliche Isolierung Russlands führe laut Maslow dazu, das Land enger an China zu binden. Ein Paradoxon der Sanktionen sei, dass Russland China gewissermaßen ausgeliefert werde. Trotz aller Verträge habe Russland bisher seine wertvollsten Stücke nicht mit China geteilt. Und China habe bislang weniger in Russland investiert als in den USA. „Wenn China zur Ukraine zumindest schweigt, könnten viele Russen das positiv wahrnehmen und die anti-chinesische Stimmung im Fernen Osten würde etwas zurückgedrängt,“ so Maslow. Mit westlichen Sanktionen, die sich nicht nur gegen Oligarchen, sondern gegen ganz Russland richteten, ergebe sich eine explosive Mischung, die letztendlich die russisch-chinesische Allianz stärke. Und diese könne auf Dauer sehr aggressiv werden.

„Von Wohltätigkeit und Nächstenliebe kann hier keine Rede sein“, warnt Kortunow. China werde in Russland Projekte umsetzen, die den Interessen der Volksrepublik entsprächen. Der chinesische Markt sei für die Russen in gewisser Weise noch wettbewerbsintensiver, als der westliche. Leider vertrete man in Moskau den Standpunkt, dass die Zusammenarbeit mit China eine Alternative zum US-Dollar bieten könne: „Die Chinesen kommen und lösen unsere Probleme.“ Das wird nicht passieren, ist sich Kortunow sicher.