Am vergangenen Samstag wurde in Doha ein Abkommen geschlossen, das in jeder Hinsicht als historisch angesehen werden kann. Auf offener Bühne und ganz offiziell schlossen die US-amerikanische Regierung, vertreten durch Chef-Unterhändler Zalmay Khalilzad, in Anwesenheit des US-Außenministers Mike Pompeo mit den Taliban ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen und ein Ende des seit 2001 andauernden Konflikts zwischen beiden Parteien ab.

Die Taliban verpflichteten sich, die amerikanischen Sicherheitsinteressen weder aktiv noch passiv zu bedrohen, also implizit zu verhindern, dass terroristische Organisationen wie in den 1990er und frühen 2000er Jahren von ihnen kontrolliertes Territorium nutzen, um Anschläge auf US-Einrichtungen zu verüben. Im Gegenzug sollen die USA sowie weitere NATO-Partner bis April 2021 vollständig aus Afghanistan abziehen, internationale Sanktionen gegen die Taliban aufgehoben werden und ein politischer Prozess angestoßen werden, der ihnen politische Teilhabe in Afghanistan sichert.

In den kommenden 135 Tagen soll die Zahl der US-Soldaten schon von derzeit stationierten 12 000 auf 8 600 absinken – so viele wie beim Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump Anfang 2017. Zudem sollen fünf Militärbasen geschlossen werden. Als zusätzliche vertrauensbildende Maßnahme haben die USA die Freilassung von 5 000 in Afghanistan inhaftierten Taliban in Aussicht gestellt. Ihrerseits sollen die Taliban 1 000 afghanische Geiseln freilassen und innerhalb von zehn Tagen Gespräche mit der afghanischen Regierung, im Abkommen nur als „die andere Seite“ bezeichnet, aufnehmen.

Der mit dem schwächsten Mandat in der demokratischen Geschichte Afghanistans wiedergewählte Präsident Ashraf Ghani, der bisher nur Zuschauer der Gespräche war, stellte zwar in den Tagen nach dem Abkommen den Gefangenenaustausch wieder infrage; die (trotz aller Vorbehalte) geschlossene Unterstützung der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft für Verhandlungen lassen ihm allerdings kaum Spielraum: Eine offene Absage des Friedensprozesses wäre politischer Selbstmord.

Garantien dafür, dass die Taliban ihre Zusagen auch einhalten, gibt es keine.

Die Selbstverpflichtung der Taliban, „stiller Partner“ der Anti-IS Koalition zu bleiben – Trump sprach sogar davon, dass nun die Taliban „Terroristen töten“ werden – scheint vor allem für die innenpolitische Legitimation des Abkommens in den USA notwendig, wo die Anschläge vom 11. September 2001 auch nach mehr als 18 Jahren noch hohe Symbolkraft haben. Garantien dafür, dass die Taliban ihre Zusagen auch einhalten, gibt es keine. Sie kontrollieren weder das gesamte Staatsgebiet Afghanistans noch Rückzugsorte in Pakistan; ihnen im Fall künftiger Anschläge eine eindeutige Unterstützung nachzuweisen, könnte sehr schwierig werden. Verteidigungsminister Marc Esper kündigte an, man werde nicht zögern, den Abzug notfalls zu stoppen. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass diese oder eine kommende Administration den Abzug anhalten oder gar rückgängig machen wird. Ob und inwieweit das Abkommen eingehalten wird, wird ohne unabhängige Beobachtungsstelle letztlich eine Frage des politischen Willens sein. Den afghanischen Verbündeten bleibt also nur die Flucht nach vorn: Verhandlungen mit den Taliban.

Die Gewinner des Abkommens sind US-Präsident Trump, der nun ein zentrales Wahlversprechen einhalten kann, und die Taliban, denen das Abkommen einen Weg nach Kabul und in die internationale Gemeinschaft ebnet. Doch natürlich könnte auch die afghanische Bevölkerung profitieren, sollte die aktuelle Deeskalation der Gewalt anhalten und die Taliban ihr Versprechen, dass man jede Regierungsform, für die sich „eine Mehrheit der Afghanen“ entscheide, akzeptieren werde. Auch von wirtschaftlicher Unterstützung für Afghanistan im Nachgang eines Friedensprozesses ist im Abkommen die Rede. Hier bietet das Abkommen für viele Afghanen jedoch deutlich zuviel Spielraum, die Wörter „Frauen“, „Menschenrechte“ oder „Demokratie“ fanden beispielsweise gar keinen Eingang in das Abkommen. Auch eine umfassende und dauerhafte Waffenruhe ist erst als Ergebnis der innerafghanischen Verhandlungen vorgesehen.

Die Weltbank goss schon im vergangenen Jahr Wasser in den Wein einer internationalen Friedensdividende und verkündete, dass die Transformation der afghanischen Kriegsökonomie den Bedarf des Landes an internationaler Hilfe sogar noch erhöhen werde. Dennoch droht mit dem Ende des Militäreinsatzes auch die weitere Reduzierung der zivilen Unterstützung und Aufmerksamkeit. Sollte es weiterhin internationale Hilfe geben, beispielsweise durch die Europäische Union, gibt das Abkommen keine Anhaltspunkte für politische und rechtliche Vorbedingungen. Fließt deutsche Entwicklungshilfe also bald in die Taschen der Taliban mit dem Verweis auf pragmatische Lösungen und Stabilität? Oder wird die weiterhin enorme Abhängigkeit des Landes von internationaler Hilfe einen moderierenden Effekt auf die Konfliktparteien haben und eine dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage verhindern können?

Die Wörter „Frauen“, „Menschenrechte“ oder „Demokratie“ fanden gar keinen Eingang in das Abkommen.

Der im Abkommen genannte Zeitrahmen betrifft auch die NATO-Mission „Resolute Support“ und die Planung der Bundeswehr – weiterhin mit einigen Fragezeichen. Sollte an Doha festgehalten werden, werden bis April 2021 alle ausländischen Soldaten, Militärberater und Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen Afghanistan verlassen haben. Zeitgleich mit dem Abkommen versprachen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Esper allerdings in Kabul die Fortsetzung der Finanzierung der „Ausbildung, Ausrüstung, Beratung und Aufrechterhaltung“ der afghanischen Sicherheitskräfte. Ein weiteres deutsches Engagement – parallel oder im Nachgang der Verhandlungen – könnte also von afghanischen wie internationalen Partnern durchaus weiter erbeten werden.

Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer weiteren Stabilisierung Afghanistans, doch ein einfacher Übergang zur Tagesordnung in der Ausbildungsmission – dann im Kontext des Kampfs gegen den IS oder als Stabilisierungsmaßnahme – wird kaum möglich sein. Im Vergleich zu früheren Szenarien ist bisher kein Prozess einer „Ent-Talibanisierung“ vorgesehen und die Fragmentierung des Sicherheitssektors könnte weiter zunehmen – ein hohes Risiko auch für internationale Ausbilder. Von einer Entwaffnung der Kriegsparteien war (bisher) ebensowenig die Rede wie von einer internationalen Überwachung eines afghanischen Abkommens, z.B. in Form von UN-Blauhelmsoldaten. Die Reintegration tausender Milizionäre auf allen Seiten in einen schon jetzt kaum aufnahmefähigen Arbeitsmarkt wird enorme Kraftanstrengungen und Investitionen von allen Seiten erfordern.  

Aus Sicht der Kritiker reiht sich das Doha-Abkommen in der Außenpolitik Donald Trumps nahtlos ein in die großen und dramatischen Gesten und Gipfeltreffen, die von innen- und parteipolitischen Instinkten angetrieben sind und denen es letztlich an strategischer Tiefe fehlt. Sieht sich Trump, der nun persönliche Treffen mit den Taliban plant, zu Recht schon in Greifweite des Nobelpreises? Oder hat er sich über den Tisch ziehen lassen und dabei sowohl die US-amerikanischen Opfer im Krieg gegen den Terror als auch afghanische Verbündete, Frauen und Minderheiten verraten?

In der Bewertung des Abkommens gilt es vor allem, ein realistisches Erwartungsmanagement zu betreiben. Verhindert haben die Verhandler in einer Situation, in der es keinen militärischen Sieg geben kann, vor allem Schlimmeres – einen per Twitter verkündeten abrupten Abzug ohne Bekenntnis zu einem weiteren politischen Engagement. Erreicht hat Doha vor allem eine weitere Deeskalation und Normalisierung der Beziehungen des Westens zu den Taliban. Ob das Momentum ausreicht, auch innerhalb Afghanistans einen nachhaltigen Frieden zu schaffen, wird sich nun zeigen müssen.