Jahrzehntelang flossen Milliardenbeträge an Entwicklungshilfe und militärischer Unterstützung nach Pakistan. Doch die Zeiten sind schon lange vorbei, als das südasiatische Land auf der außenpolitischen Prioritätenliste oben zu finden war. US-PräsidentJoe Biden konnte sich die ersten Jahre seiner Amtszeit nicht einmal zu einem Telefonat mit der Regierung in Islamabad durchringen. Doch das ist kurzsichtig. Strategisch schlauer wäre es, die USA und die EU würden die Beziehungen zu Pakistan ausbauen und diversifizieren. Gerade jetzt.
Ein Schritt zurück. Die Ernüchterung in den Beziehungen kommt nicht von ungefähr. Der Aufstieg von Pakistans wirtschaftlich und politisch längst enteiltem Erzrivalen Indien spielt dabei eine Rolle. Delhi und der Westen brauchen einander schließlich im Umgang mit China. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die gescheiterte NATO-Intervention in Afghanistan von 2001 bis zum endgültigen Fall Kabuls an die Taliban im August 2021 hat das Vertrauensverhältnis zu Islamabad schwer beschädigt. Zumindest ab 2005 knüpften die pakistanischen Sicherheitsbehörden wieder an ihre Unterstützung der Taliban an, die sie schon vorher protegiert hatten.
Dabei stand Pakistan offiziell auf Seiten der NATO. Auch europäische Spitzenpolitiker machen sich seitdem in Pakistan rar. Der Besuch von Entwicklungsministerin Svenja Schulze oder einer SPD-Parlamentariergruppe in diesem Sommer sind seltene Einzelfälle. Nur: Weggucken ist keine Option, im Guten wie im Schlechten. Pakistan ist schlichtweg zu groß. Das Land hat mittlerweile nach offiziellen Angaben 240 Millionen Einwohner, fast halb so viele wie die gesamte EU. Und es wächst schnell. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt laut Statista bei 20 Jahren. Zum Vergleich, in Deutschland liegt es bei 45 Jahren, in Bangladesch bei 27 Jahren. In einigen Jahren könnte Pakistan sogar Indonesien als bevölkerungsreichstes mehrheitlich muslimisches Land ablösen. Bis heute ist es das einzige Land der islamischen Welt, das über eigene Atombomben verfügt.
Pakistan gehört zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern der Erde.
Laut Germanwatch gehört Pakistan zudem zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern der Erde. Als enger Partner des diesjährigen COP-Gastgebers Aserbaidschan kann Pakistan eine wichtige Rolle spielen, die Stimmen des globalen Südens stärker in die Klimadebatte einfließen zu lassen. Europa kann vor Ort dagegen noch mehr als bisher Expertise und Technologie einbringen, um die Auswirkungen des Klimawandels abzufedern. Auch in den Bereichen Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Fachkräfte, Gesundheit und Bildung gibt es eine Vielzahl an Kooperationsmöglichkeiten, die bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind.
Dazu kommt die geopolitische Bedeutung. Denn Pakistan verfügt – neben der engen sicherheitspolitischen Anbindung an den Westen – seit Jahrzehnten auch über eine lang erprobte, krisenfeste Partnerschaft mit China: die sogenannte Allwetter-Freundschaft, die sich zum Beispiel am Infrastrukturprogramm Chinese-Pakistan-Economic Corridor zeigt, der China mit dem Tiefseehafen Gwadar zumindest in der Theorie einen direkten Link bis zum Persischen Golf verschafft. Spannungsfrei sind die Beziehungen zu China nicht. Die Projekte hinken seit Jahren hinterher. Die Investitionsbudgets stocken. Kaum ein Land ist für chinesische Arbeiter so gefährlich wie Pakistan.
Je mehr sich die Welt in zwei Lager teilt, desto törichter erscheint es, die Atommacht Pakistan ohne Not dem chinesischen Camp zu überlassen.
Je mehr sich die Welt in zwei Lager teilt, ein pro-chinesisches und ein pro-amerikanisches, desto törichter erscheint es, die Atommacht Pakistan ohne Not dem chinesischen Camp zu überlassen, statt konkrete Kooperationspotenziale zwischen Pakistan und der EU auszuschöpfen. Das wäre auch im ureigenen Interesse Islamabads, das versucht, den außenpolitischen Spielraum möglichst lange möglichst groß zu halten.
Über 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 spielt das Thema islamistischer Terrorismus global weiterhin eine große Rolle. Die pakistanische Gesellschaft trägt unterdessen selbst am schwersten im Kampf gegen den Terror. Allein zwischen den Jahren 2000 und 2019 sind über 20 000 Zivilisten bei Terroranschlägen umgekommen, die meisten davon islamistisch motiviert. Der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staats – Provinz Khorasan (ISPK) stellt nicht nur Pakistan vor große Herausforderungen. Die Auswirkungen sind von Moskau (der Anschlag auf die Crocus City Hall) über Wien (die abgesagten Taylor-Swift-Konzerte) bis nach Deutschland (Solingen) zu spüren. Die zunehmende globale Lagerbildung und abnehmende nachrichtendienstliche Kooperation erhöhen die Handlungsoptionen für Organisationen wie den ISPK. Ein weiterer Grund für mehr Austausch statt weniger.
Es gibt also eine Vielzahl guter Gründe, die deutschen und europäischen Beziehungen zu Pakistan gerade jetzt zu stärken. Und dabei gleich ein paar Sachen anders zu machen als bisher. Zum Beispiel: Zu selten wurde Pakistan als eigenständiger Partner auf Augenhöhe gesehen. Zu häufig wurden die Beziehungen durch das Prisma der Afghanistan-, China- oder Indien-Politik betrachtet. Das sollte sich ändern.
Die Pakistanpolitik nach dem Fall Afghanistans hat nun im Windschatten der großen Weltpolitik die Chance, zu einem nachhaltigeren Stil zu finden.
Umgekehrt muss der pakistanischen Seite klar sein, dass in Europa das Geld nicht mehr so locker sitzt wie vor 10 oder 20 Jahren. Die Angewohnheit pakistanischer Gesprächspartner, ein politisches Entgegenkommen zugunsten europäischer Anliegen umgehend an die Bereitstellung von Finanzmitteln zu knüpfen, mag angesichts der angespannten pakistanischen Haushaltslage verständlich sein – auf Gegenliebe stoßen wird sie nicht. Die Pakistanpolitik nach dem Fall Afghanistans an die Taliban hat dafür nun im Windschatten der großen Weltpolitik die Chance, zu einem nachhaltigeren Politikstil zu finden. Sie kann nun Langfristigkeit, beidseitige Vorteile und Augenhöhe in den Mittelpunkt stellen, statt schnelle Resultate dank hoher transaktionaler Kosten.
Konkrete Ideen wie die Schaffung einer deutsch-pakistanischen Parlamentariergruppe – wie es die SPD-Bundestagsabgeordneten Derya Türk-Nachbaur, Michael Müller und Christoph Schmid jüngst forderten – oder die Einrichtung von Austauschprogrammen könnten hier helfen, das Verständnis zwischen beiden Gesellschaften zu stärken. Das ist dringend nötig. Denn abseits von Katastrophen und Terrorberichterstattung schafft es Pakistan selten in die öffentliche Wahrnehmung. Ein Grund dafür ist, dass es in europäischen Thinktanks nur wenig pakistanspezifische Expertise gibt.
Deutschland und Europa haben auch heute ein langfristiges wirtschaftliches und politisches Interesse an den Gesellschaften Südasiens.
Wer genauer hinguckt, der findet ein Land, das sich einfachen Wahrheiten entzieht. Ein Land mit einer vielfältigen und äußerst resilienten Zivilgesellschaft, die sich nicht so schnell in die Schranken weisen lässt. Mit geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die mit Verve Debatten anstoßen. Mit einer ausgeprägten Protestkultur. Einer lebhaften Kunst- und Kulturszene, gerade in der Musik: Pakistanische Popsongs sind ein Exportschlager. Das Lied Pasoori war 2022 laut Google Trends zum Beispiel der am meisten gesuchte Song der Welt. Der Song, der traditionelle Raga-Harmonien mit einem subversiven Text verbindet und Fragen von Identität und Rollenbildern neu verhandelt, füllte die Feuilletonspalten von Zeitschriften wie dem New Yorker. Es ist ein Pakistanbild, das in Europa und in Deutschland kaum stattfindet.
Deutschland und Europa haben auch heute ein langfristiges wirtschaftliches und politisches Interesse an den Gesellschaften Südasiens. Ein Anker dabei ist Stabilität. Und es ist nur richtig, diese eigenen Interessen klar zu benennen. Pakistan steht in den nächsten Jahren vor gewaltigen wirtschaftlichen, demografischen, politischen und klimatischen Herausforderungen. Doch die eng gefasste Fokussierung auf Sicherheitspolitik sollte wieder Platz machen für ein holistischeres Stabilitätsverständnis, das mehr Raum für zivilgesellschaftliche Begegnungsräume schafft und demokratische Institutionen nachhaltig stärkt: mehr Austausch, mehr Tiefe, mehr Beidseitigkeit, weniger erhobener Zeigefinger. Langer Atem, statt erst dann zu agieren, wenn es brennt. Das sollten wieder die Eckpfeiler der Beziehungen mit Pakistan sein. Auch Joe Biden hat das mittlerweile verstanden. Anfang des Jahres richtete das Weiße Haus nach langer Zeit wieder einen Brief an die neue pakistanische Regierung.