„Die Organisatoren der Pride sollten sich nicht um die Vorbereitung des diesjährigen Umzugs bemühen. Es wäre verschwendete Zeit und Geld“, drohte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 22. Februar 2025 in einer Rede. Knapp einen Monat später war es so weit: Am 17. März wurde der Gesetzesvorschlag im Parlament eingereicht und am Folgetag verabschiedet. Dieses Gesetz verbietet die Durchführung der Pride-Parade in Budapest unter Berufung auf den Kinderschutz.

Business as usual in Orbáns Ungarn seit 15 Jahren. Das bedeutet nicht nur, dass im Parlament – in dem die Regierungskoalition Fidesz-KDNP eine Zweidrittelmehrheit hat – Gesetze in der Regel ohne jede Beratung blitzschnell durchgewunken werden. Es bedeutet auch, dass der Regierung für den Machterhalt kein Preis zu hoch ist. Bei dem Versuch, den bisher aussichtsreichsten Herausforderer von Orbán, Péter Magyar und seine Partei Tisza, in eine Falle zu locken, sind die sexuellen Minderheiten und ihre Verbündeten der Regierung nicht – wie Der Spiegel formuliert – ein „Dorn im Auge“, sondern ein Kollateralschaden.

Das Versammlungsgesetz wurde dahingehend ergänzt, dass Versammlungen das Kinderschutzgesetz nicht verletzen dürfen. Dieses Gesetz, das 2021 verabschiedet wurde, verbietet jegliche Darstellung von Homosexualität; für Minderjährige ist zudem das „Abweichen der Identität vom Geburtsgeschlecht“ untersagt. Mit der neuen Gesetzesänderung wurde faktisch die seit 30 Jahren stattfindende Pride-Parade verboten. Sollte sie dennoch stattfinden – und das wird sie wohl –, gilt die Teilnahme als Ordnungswidrigkeit. Teilnehmer können mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 200 000 HUF (etwa 500 Euro) bestraft werden. Die Identifizierung der Teilnehmer würde per Gesichtserkennung erfolgen – ein öffentlich viel zu wenig diskutierter Aspekt des Gesetzes. Kritiker befürchten einen massiven Schritt in Richtung Überwachungsstaat. Wie auch immer man zum Inhalt der Pride steht: Das Verbot stellt eine ernsthafte Einschränkung der Versammlungsfreiheit dar – eines grundlegenden Rechts in Demokratien. Gerade deshalb äußern sich selbst christlich-konservative Intellektuelle, anti-woke Liberale, genderkritische Feministinnen, die sonst keine Fans der Pride sind, kritisch zu dieser Maßnahme.

Betroffen ist nicht mehr nur die LGBT-Community; die Versammlungsrechte praktisch jeder anderen Gruppe könnten als Nächstes eingeschränkt werden.

Wenn sich Ansichten wie die Vorstellung, die Erde sei flach, verbreiten können, ist es wohl auch möglich, dass die Idee von vielen Geschlechtern oder die Ansicht, Geschlecht habe keine biologische Grundlage, akzeptiert wird. Das Versammlungsrecht gilt unabhängig vom Inhalt, so schwachsinnig er uns auch erscheinen mag. In den letzten 15 Jahren war die Einsicht in Ungarn vielleicht noch nie so stark wie jetzt: Betroffen ist nicht mehr nur die LGBT-Community; die Versammlungsrechte praktisch jeder anderen Gruppe könnten als Nächstes eingeschränkt werden.

Weitere Einschränkungen des Versammlungsrechts sind umso bedrohlicher, da das Orbán-Regime erstmals seit seiner Regierungsübernahme befürchten muss, die Macht bei den Parlamentswahlen 2026 zu verlieren. Und genau in diesem Kontext und mit diesem Ziel wird das Gesetz eingeführt – nicht aus Sorge um die Rechte der LGBT-Community, sondern als politisches Mittel zum Zweck. Orbán hat zuletzt einen ernst zu nehmenden Herausforderer bekommen: Péter Magyar, den Ex-Mann der früheren Fidesz-Justizministerin Judit Varga. Bis vor einem Jahr war er für die breite Öffentlichkeit in Ungarn unbekannt. Doch dann kam der sogenannte Begnadigungsskandal, als Präsidentin Katalin Novák einen ehemaligen stellvertretenden Leiter eines Kinderheims begnadigte, obwohl er Beihilfe zu Kindesmissbrauch geleistet hatte, und die damalige Justizministerin Varga diese Begnadigung gegenzeichnete.

Als der Fall von einem Journalisten aufgedeckt wurde, mussten sowohl die Präsidentin als auch Magyars Ex-Frau zurücktreten. Letztere war damals bereits keine Justizministerin mehr, sondern EP-Spitzenkandidatin für Fidesz. Dann trat Magyar auf die Bühne und stieg seitdem rasant auf. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament holten er und seine Partei Tisza – deren Name sowohl auf Ungarns zweitgrößten Fluss Theiß als auch auf die Abkürzung für Respekt und Freiheit verweist – fast 30 Prozent und sieben der 21 ungarischen Sitze. In den aktuellen Umfragen steht seine Partei nun bei 40 Prozent, was sie mit Fidesz auf Augenhöhe bringt – ein Szenario, das es in Ungarn seit 15 Jahren nicht gegeben hat.

Die Regierungspartei greift zu bewährten Mitteln: „Divide et impera“ – Spaltung durch Kulturkampf.

Der 44-jährige Magyar, der nahezu einen „Gym-CEO-Vibe“ versprüht, hat fast alle anderen Oppositionsparteien verdrängt, trotz öffentlich dokumentierter Beweise, wie herablassend er gegenüber Frauen, Angestellten und Medien auftritt. Zur Illustration: Im ungarischen Parlament sind gerade fünf (!) Parteien vertreten, die laut Umfragen weniger als ein Prozent der gesellschaftlichen Unterstützung genießen. Magyar kommt von rechts, sogar aus Sicht von Fidesz. Er bedient sich nationaler Symbolik und einer Rhetorik, die versucht Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Auffassungen anzusprechen. In diesen Kontext ist Fidesz’ Pride-Verbot zu stellen. Die Regierungspartei greift zu bewährten Mitteln: Divide et impera – Spaltung durch Kulturkampf.

Magyar steht unter Druck: Wenn er den Liberalen gegenüber kein Entgegenkommen signalisiert, könnten diese sich einer der verbliebenen Kleinparteien zuwenden: der sozialdemokratischen DK, der Witzpartei Zweischwänzige Hundepartei oder der liberalen Momentum. Wenn er jedoch diese Einschränkung des Versammlungsrechts thematisiert – wie Fidesz es von ihm  erwartet, um ihn dann der woken Identitätspolitik und der Genderideologie bezichtigen zu können –, würde er potenzielle konservative Wähler entfremden, die nicht Homosexuelle ablehnen, sondern das, wofür Pride heutzutage möglicherweise steht: westliche und großstädtische Arroganz und Ignoranz, selbstgerechte Moralisierung und die  Infragestellung der biologischen Wirklichkeit der zwei Geschlechter. Ihnen sind diese Entwicklungen tatsächlich ein Dorn im Auge. Es bleibt abzuwarten, ob Magyar den Druck aushält und bei seinen Themen bleibt – bei Lebensunterhaltskosten, Inflation, Bildung, beim Gesundheitswesen, bei der  maroden öffentlichen Infrastruktur –, oder ob die liberalen Wähler dieses identitätsstiftende Thema zugunsten ihrer höheren Priorität, nämlich Orbán abzuwählen, aufgeben.

Orbán und seine Fidesz-Partei spielen bewusst mit den Triggerpunkten der Budapester Liberalen und der westlichen Eliten, weil ihnen dies politisch nutzt. Erinnern wir uns an 2021: Im Juni hatte Fidesz damals aus ähnlichen Gründen – Provokation und Spaltung der vereinten Opposition – die Verschärfung des Pädophiliegesetzes mit dem Verbot der Darstellung von Homosexualität und Transgender-Identitäten für Minderjährige im Schulunterricht und in den Medien  kombiniert. Das Resultat: Ein schriller Aufschrei, Putin-Vergleiche und eine wochenlange politische Aktion in Deutschland, um zu erreichen, dass das Münchner Fußballstadion während des EM-Spiels Deutschlands gegen Ungarn „aus Solidarität mit LGBT-Menschen in Ungarn“ in Regenbogenfarben beleuchtet wurde. Eigentlich stellte die Gleichsetzung von ungarischen Spielern und Fans mit der ungarischen Regierung eine Demütigung dar – in jedem Fall war es eine leere, selbstgerechte Geste.

Solche moralisierenden Haltungsübungen, die politisch nichts erreichen, nur weiter polarisieren, sind den ungarischen Liberalen auch nicht fremd. Momentan wird in den sozialen Medien ein Streit ausgefochten zwischen verschiedenen liberalen Oppositionspolitikern in Budapest: und zwar darüber, ob das Aufhängen der Regenbogenflagge in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Regenbogen-Beleuchtung einer Kirche ein wichtiges politisches Mittel sei, um Solidarität zu zeigen – oder eben ein leeres und kontraproduktives Zeichen, das manche Betroffene als Anerkennung verstehen mögen, aber Außenstehende nicht  überzeugen wird. Fidesz wird es wohl nicht unter Druck setzen.

In den nächsten Tagen wird noch eine weitere Gesetzesänderung in Kraft treten: Eine Grundgesetzänderung, die festschreibt, dass es genau zwei Geschlechter gibt – Mann und Frau. Die Ähnlichkeit mit Trumps Dekret ist offensichtlich. Seit 2020 steht bereits im Grundgesetz: „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.“ Manche haben diese Änderung als homophob, andere als transphob bezeichnet. Nun wird eine weitere biologische Tatsache ins Grundgesetz aufgenommen – zur Provokation, zur Spaltung und als vorbeugende Gesetzgebung angesichts der Entwicklungen im Westen.

LGBT-Rechte sind ein Spielball der ungarischen Regierung, um die Macht zu behalten. Ihre Anti-LGBT-Botschaften finden in der breiten ungarischen Öffentlichkeit Gehör, da sie auf manche problematischen Entwicklungen im Westen reagieren. „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, so das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg. Ein Wert, den Orbán nicht vertritt, aber auch nicht die eifrigsten Befürworter der LGBT-Rechte im Westen. („Wenn du nicht mit uns bist, dann bist du mit Putin, AfD, Orbán.“) Die Linken sollten den Wert der Freiheit für sich wiederentdecken – so argumentiert auch Michael Bröning in seinem Buch Vom Ende der Freiheit – andernfalls wird es Orbán und Co. leichter fallen, sie ihnen zu nehmen.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Originalartikels von Queer Nations.